Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

Meine Studienbücher:

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Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen: Augensinn, Bildmagie
 

ISBN 978-3-7418-5475-0

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Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges


ISBN 978-3-7375-8922-2

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Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

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Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

ISBN 978-3-746756-36-3

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Neue Medien,
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Selbst:
Unser digitales Wir-Ich

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Wie denken Menschenaffen?

Denken ohne Sprache - über die menschliche Kultur als Prozess sozialer Koordination

2017

Der Psychologe Michael Tomasello beschreibt in seiner „Naturgeschichte des menschlichen Denkens“ die hochentwickelten kognitiven Fähigkeiten nichtmenschlicher Primaten – mit dem Fazit, dass wichtige Aspekte des menschlichen Denkens nicht notwendigerweise mit den einzigartigen Formen der Kultur und Sprache des Menschen verbunden sind. Schon Menschenaffen verfügen über individuelle Problemlösefähigkeiten. Und Menschenaffen wissen viel über andere „intentionale Akteure“, auch ohne menschenähnliche Kultur oder Kognition. Während Zoologen wie Frans de Waal dies aus ihren Beobachtungen des Affenlebens schließen und immer versucht sind, das Verhalten der Tiere mit ihren Interpretationen zu verstehen, sollen die ausgetüftelte Experimente von Psychologen wie Tomasello die Annahmen überprüfbar machen.

Die engsten Primatenverwandten des Menschen, Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans, sind soziale Wesen. Der wesentliche Unterschied zu frühmenschlichen Gemeinschaften ist, so Tomassello, dass die Affen in ihrer Gruppe vorwiegend konkurrenzbetont leben. Frühmenschen wurden dagegen zu kooperativeren Lebensweisen gezwungen und daher richteten sich ihr Denken stärker darauf, Möglichkeiten der Koordination mit anderen zu ersinnen, um gemeinsame Ziele oder gar kollektive Gruppenziele zu erreichen. „Das menschliche Denken ist grundsätzlich kooperativ“, sagt Tomasello – das zeige gerade der Vergleich mit Menschenaffen. 

„Individuelle Intentionalität“ und die Evolution der Kognition

Kognition und Denken sind gefordert, wenn sich Lebewesen in einer komplexen, wenig vorhersagbaren Umwelt verhalten müssen, um ihr Überleben zu sichern. Kognitive Fähigkeiten einer Entscheidungsfindung, die es dem Lebewesen ermöglichen, neue Situationen zu erkennen und flexibel mit unvorhersagbaren Erfordernissen umzugehen, erweisen sich als evolutionärer Vorteil.
Was zum Beispiel sieht ein Schimpanse, wenn er auf Nahrungssuche ist und sich einer Bananenstaude nähert?

Affenbaum

 


 

Der Schimpanse nimmt die Szene optisch genauso wahr wie Menschen - die visuellen Systeme sind ähnlich. Seine Aufmerksamkeit fokussiert der Schimpanse dabei auf Fragen, die für sein Verhalten bei der Nahrungssuche entscheidend sind:
- Hängen viele Bananen an der Staude?
- Sind die Bananen reif?
- Sind konkurrierende Schimpansen in der Nähe?
- Kann man die Bananen durch Klettern erreichen?
- Sind Raubtiere in der Nähe?
- Ist eine schnelle Flucht von dieser Staude aus möglich?

 

Die Anwesenheit des Leoparden würde für den Schimpansen das Bild vollkommen verändern. Schimpansen sind vertraut mit ihren eigenen Kletterfähigkeiten im Verhältnis zu denen der möglichen Gegner, sie bewerten die Attraktivität des Futters im Licht der möglichen Gefahren. Sie bewerten die komplexen Faktoren der Situationen für ihre Verhaltensentscheidung und schematisieren diese Bewertung als „Erfahrung“ für ähnliche Situationen. Dabei ist das Erkennen dessen, was nicht vorhanden ist, eine besondere Leistung – sie setzt ein kognitives Modell dessen, was in der aktuellen Situation da sein könnte, voraus.

Um ihren täglichen Lebensunterhalt sicherzustellen, müssen Affen wie andere Säugetiere mentale Muster entwickelt für
(1) das Auffinden von Nahrung (was Fertigkeiten der räumlichen
Navigation und des Verfolgens von Objekten einschließt),
(2) das Erkennen und Kategorisieren von Nahrung,
(3) das Quantifizieren der Nahrung und
(4) die Beschaffung oder Entnahme von Nahrung.

Während Primaten generell keine geschickten Werkzeugbenutzer sind und solche Fertigkeiten höchstens für einen einzigen engen Bereich entwickeln, sind insbesondere Schimpansen und Bonobos äußerst geschickt im flexiblen Gebrauch einer Vielfalt von Werkzeugen, sie können sogar zwei Werkzeuge kombinieren: Sie können ein Werkzeug benutzen, um ein anderes Werkzeug heranzuholen, mit dem die Nahrung dann erst beschafft werden kann. Die Flexibilität und der Eifer, mit denen Menschenaffen erfolgreich neue Werkzeuge verwenden, zeigt, dass sie über kognitive Modelle von Kausalität verfügen bei der Verwendung von Werkzeugen.
In Experimenten konnten Schimpansen auch angesichts eines neuen Problems Werkzeuge, die in einem anderen Zimmer außer Sichtweite waren, heranholen, weil sie offenbar verstanden haben, dass dieses – erinnerte - Werkzeug bei der Lösung des Problems helfen könne. „Viele Schimpansen taten das, oft schon beim ersten Durchgang, was darauf hindeutet, dass sie das neue Problem an ein bekanntes kognitives Modell mit einer bestimmten kausalen Struktur assimilierten“. Bonobos bewahrten solche Werkzeuge sogar für den zukünftigen Gebrauch auf.

In einem anderen Experiment wurden Schimpansen ein Stück Futter gezeigt, das dann in einer von zwei Tassen versteckt wurde – so dass die Schimpansen nicht wissen konnten, in welcher. Der Versuchsleiter schüttelte eine der beiden Tassen. Die Affen wurden „belohnt“, wenn sie erkannten, in welcher Tasse das Futter versteckt war. Sie wussten, dass das Futter in einer der beiden Tassen ist. Und haben erfolgreich das kausale Muster verstanden: Das Schütteln der Tasse mit dem Futter macht ein Geräusch, Schütteln einer  Tasse ohne Futter macht kein Geräusch.
Im Kontrollversuch schüttelte der Versuchsleiter die leere Tasse. Das kausale Verständnis der Schimpansen ging so weit, dass sie erkannten, dass das Futter in der anderen Tassen sein muss, weil es in der geschüttelten offenbar nicht war.

Menschenaffen, so Tomasello, entwickeln im Kontext der Nahrungssuche ein Verständnis der physischen Umwelt: „Unsere allgemeine Konklusion ist daher, dass das, was die Menschenaffen in diesen Untersuchungen tun, Denken ist, da sie hier kognitive Modelle verwenden, die allgemeine Kausalitätsprinzipien enthalten, und da sie auch gemäß verschiedenen Arten protologischer Paradigmen simulieren oder Schlüsse ziehen, wobei sie sich auf unterschiedliche Weise selbst beobachten.“

Schimpansen sind Lebewesen, die im Regenwald in einem naturgegebenen Überfluss leben. Sie müssen sich weniger um ihre Nahrung sorgen, sie widmen sich ausgiebig gruppeninternen Problemen. „Man könnte sie Spezialisten der konkurrierenden Sozial- und Sexualstrategien nennen.“ (Lohmar) Bewohner der Savannen, also auch die Vorläufer des heutigen Menschen, mussten Strategien zum Umgang mit  Orten, Material und Werkzeug entwickeln, um ihre Ernährung sicherzustellen. Es gab andere Notwendigkeit zur Kooperation. Expertenwissen über die materielle Welt und die kausalen Beziehungen zwischen Dingen war in der Savanne wichtiger  als in der Lebensumwelt Urwald. Die Schimpansen zeigen eindrucksvolle Intelligenzleistungen auf sozialem Gebiet und kooperieren eher selten zur Erlangung von attraktiver Nahrung. 

Menschenaffen denken auch über ihre soziale Umwelt nach

In der Konkurrenz um Nahrung, Paarungspartner und andere wertgeschätzte Ressourcen entwickeln Primaten ein Verständnis der Beziehungen in ihrer sozialen Gruppe. Sie erkennen die Rangordnung der Individuen in ihrer Gruppe sowohl im Hinblick auf  Dominanz- wie auf Anschlussbeziehungen. Die erkennen sozialen Beziehungen Dritter untereinander, zum Beispiel die Paarungspartnerin oder einen „Freund“ eines dominanten Gruppenmitgliedes und berücksichtigen diese Beziehungen in ihrem Verhalten. Diese mentalen Fähigkeiten ermöglichen es, das Verhalten der anderen in einem komplexen sozialen Umfeld vorherzusagen.

Tomasello: „Das bedeutet, dass nichtmenschliche Menschenaffen nicht nur selbst intentionale Akteure sind, sondern auch andere als intentionale Akteure verstehen.“ Ein charakteristisches Beispiel für „Moral“ bei Primaten ist die Regel, dass gefundenes Futter der ganzen Gruppe zu melden ist, obwohl in der Regel zuerst die Ranghöheren fressen dürfen. Was tut ein rangniedriges Individuum, wenn es glaubt, nicht beobachtet zu werden? Wenn es sich der Moral fügt, dann sicherlich aufgrund assoziativ vorschwebender innerer Bilder wütender hochrangiger Mitglieder der Gruppe, die abweichendes Verhalten durch Prügel sanktionieren.
Es ist beobachtet worden, wie die Fellpflege zur Täuschung eingesetzt wird – um das Vertrauen eines misstrauischen Gruppenmitgliedes zu erschleichen und dann die attraktiven Nahrung wegzunehmen.
Bei Affen sind auch Täuschungen beobachtet worden, etwa falsche Warnrufe, die andere von der begehrten Nahrung weglocken sollen. Jugendliche Tiere, das einen Warnruf falsche verwenden, werden dabei meist nachsichtiger oder milder bestraft.
Untergeordnete Schimpansenweibchen konnten in einem Experiment bewerten, ob das dominante Männchen in der Nähe eine Futterstelle sehen konnte – sie also nicht ohne weiteres das Futter für sich beanspruchen konnten – oder ob das Futter an einer Stelle lag, die für das dominante Männchen nicht erkennbar war. Selbst wenn der dominante Schimpanse das Futter aktuell nicht sehen konnte, aber vorher gesehen hatte, dass es dort versteckt worden war, näherten sich die Schimpansin dem Futter nicht. Affen können auch warten, bis das dominante Tier sich entfernt hat – um dann auf das versteckte Futter zuzugreifen. „Schimpansen wissen also, dass andere Dinge sehen, Dinge wissen und Schlüsse über Dinge ziehen.“
Schimpansen können sogar andere Schimpansen täuschen, deren Wahrnehmung manipulieren, und sie verstehen, dass andere Tiere ihre Geräusche hören. Frans de Waal berichtet von einem Bonobo-Weibchen, das offenbar gezielt hinter einen Busch ging, um sich unbemerkt mit einem anderen als seinem dominanten Männchen zu vergnügen. Ein Bonoboweibchen hielt sogar seinem illegitimen Partner den Mund zu, offenbar um zu verhindern, dass Lust-Laute die Situation verraten könnten.

Vor allem täuschen Menschenaffen aber durch Gesten und sichtbares Vortäuschen falscher Tatsachen. Entscheidend für die Beschreibung des Unterschiedes zur menschlichen Kommunikation ist der Hinweis von Tomasello, dass für Menschenaffen die gestische Kommunikation im Vordergrund steht. Menschenaffen kommunizieren mit anderen durch Absichtsbewegungen und durch Gesten zur Erlangung der Aufmerksamkeit, „ihre stimmliche Kommunikation ist zum größten Teil fest verdrahtet und hat Ähnlichkeit mit der Kommunikation anderer Affen“ (Tomasello). Für die Bewertung des Denkvermögens sind daher die Fähigkeiten der stimmlichen Kommunikation nicht entscheidend. Alle Versuche, Affen das „Sprechen“ beizubringen, um ihre Intelligenz zu prüfen, konnten daher auch nicht erfolgreich sein.

Die Intelligenz der Menschenaffen - Kognition im Dienste der Konkurrenz

Schimpansen imitieren, aber nicht schematisch, sondern intelligent: In einem Experiment konnten Schimpansen zusehen, wie ein Mensch eine Lampe mit seinem Kopf einschaltet, während er mit seinen Händen ein Laken festhält. Die Schimpansen wurden zur Imitation der Handlung – Licht anschalten – motiviert. Sie imitierten die ungewöhnliche Handlungsweise der Menschen nicht, sondern benutzten ihre Hände wie üblichWenn sie jedoch sahen, wie der Mensch das Licht mit dem Kopf anschaltet, obwohl seine Hände frei sind, kopieren sie selbst recht häufig das ungewöhnliche Verhalten. Offensichtlich denken die Schimpansen: Wenn er freie Wahl hätte, würde er seine Hände benutzen. Da er die Hände nicht benutzt, muss es dafür einen Grund geben.

Menschenaffen können zudem lernen,
- eine kleinere Belohnung aufzuschieben, um später eine größere zu bekommen,
- eine in der Vergangenheit erfolgreiche Reaktion zu hemmen zugunsten einer möglicherweise erfolgreichen neuen,
- sich selbst dazu bringen, etwas Unangenehmes zu tun, um am Ende eine begehrte Belohnung zu erhalten,
- trotz Misserfolgen beharrlich zu sein und sich
- trotz Ablenkungen zu konzentrieren.

Das zeigt Fertigkeiten der Impulskontrolle, Aufmerksamkeitskontrolle, emotionale Regulation und Exekutivfunktion. Diesbezügliche Fähigkeiten der Schimpansen entsprechen denen dreijähriger Kinder.

An Rhesusaffen wurde auch die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung getestet: Sie mussten etwas im Gedächtnis behalten, um eine hochbegehrte Belohnung zu erhalten. Wenn es ihnen nicht gelang, sich richtig zu erinnern, bekamen sie nichts. Aber die Affen hatten bei jedem Versuch die Möglichkeit, für eine sichere geringere Belohnung das Experiment abzubrechen. Viele Affen entwickeln dabei eine Strategie, bei Aufgaben auszusteigen, bei denen sie eine besonders hohe Misserfolgsquote hatten. „Sie scheinen zu wissen, dass ihr Wissen oder ihr Gedächtnis mangelhaft sind.“ (Tomasello) Menschenaffen können ihr eigenes Verhalten in gewissem Maße beobachten.

Menschenaffen können also offenbar auf flexible, intelligente, selbstregulierte Weise operieren – „und sie tun das ohne Sprache, Kultur oder andere Formen menschenähnlicher Sozialität (Tomasello).“

Menschenaffen können mit abstrakten kognitiven Repräsentationen operieren, mit denen sie Erfahrungen zusammenfassen. Die kognitiven Repräsentationen der Menschenaffen haben ein ikonisches oder bildartiges Format, sie schematisieren Wahrnehmungserfahrung und repräsentieren Situationen, die für ihr Überleben wichtig sind – zum Beispiel „Nahrung vorhanden“ oder „Raubtier abwesend“. Menschenaffen haben eine allgemeine Vorstellung von Klettern, obwohl Leoparden, Schlangen oder kleine Affen auf ganz unterschiedliche Weise auf Bäume heraufkommen.
Menschenaffen können ihre kognitiven Modelle auf produktive Weise nutzen, um sich Situationen vorzustellen, ihre Schlussfolgerungen können eine logische Struktur aufweisen. Offenbar sind die Grundstein des menschlichen Denkens schon beim letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Menschenaffen vorhanden. Sie verfügen über individuelle Intentionalität, die sie benötigen in einer Gemeinschaft, die in erster Linie konkurrenzbetont sind. Sie sind herausgefordert, besser oder schneller als andere Gruppenmitglieder zu antizipieren, was potentielle Konkurrenten tun könnten. „Bei Menschenaffen geht es immer um die Kognition im Dienste der Konkurrenz.“ (Tomasello)

Weder Affen noch Menschenaffen haben ein Bewusstsein davon, was sie wissen und was ihr Gegenüber nicht weiß. Sie stoßen Warnrufe aus ohne zu wissen, ob ein anderes Tier in der Nähe ist, das die Gefahr nicht erkannt hat. Intelligente Verhaltensweisen von Affen sind auf eine bestimmte Situation bezogen, sie sind meist nicht in der Lage ihre Verhaltensstrategien auf andere Situationen zu übertragen. Affen lernen nur durch Zusehen und Nachahmung. Das Selbst-Bewusstsein des eigenen Wissens setzt offenbar schon Sprache voraus. Die Laut-Sprache stellt ein öffentlich kommunizierbares Repräsentations-System zur Verfügung, das nicht nur sehr viel differenziertere Denk-Formen ermöglicht, sondern auch den Austausch von Gedanken. Die Sprache ist daher die Grundlage der kulturellen Evolution des Menschen (Michael Tomasello, ratchet-effect).

Kooperative soziale Intelligenz der Menschen

Das Besondere der menschlichen Kognition ist dagegen der Bezug auf Kooperation. Menschen verstehen sich gegenseitig nicht nur als Akteure mit Intentionen, sondern können sich über ein gemeinschaftlichen Problemlösens bis hin zu komplexen kulturellen Institutionen verständigen. Diese besondere Form menschlichen Denkens entwickelte sich, als Menschen gezwungen waren, kooperativere Lebensweisen in ihrer Interaktion zu bewältigen. Michael Tomasello nennt das „geteilte Intentionalität“. 

Auch wenn Affen gemeinsam jagen, bekommt der „Fänger“ das meiste Fleisch, die anderen müssen betteln und drangsalieren. Diese Gruppenjagd ist also ein zusammenwirken, bei dem jeder einzelne sein eigenes individuelles Ziel verfolgt. 
Menschliche Nahrungssuche ist dagegen auf grundlegende Weise gemeinschaftlich. Menschen bringen die Nahrung an einen zentralen Ort, wo sie geteilt wird. damit sie geteilt werden kann. Menschliche „Wildbeuter“ arbeiten in vielen anderen Tätigkeitsbereichen so zusammen, sie verhalten sich umfassend kooperativ, das schließt die Kinderbetreuung ein. Menschen versorgen sich mit Informationen, von denen sie annehmen, dass sie für den Empfänger nützlich sind. Der Umfang der Kooperation wird deutlich in den formaler Sozialstrukturen, Normen und Institutionen.

Diese Fähigkeit des Menschen entfaltet sich mit den kommunikativen Möglichkeiten der Sprache, ist in ihrem Ursprung aber offenbar nicht an die Sprache gebunden. Tiere können ihre eigenen Handlungen im Hinblick auf den Erfolg überwachen und bewerten, „nur Menschen überwachen und bewerten ihr eigenes Denken im Hinblick auf die normativen Perspektiven und Maßstäbe („Gründe“) anderer oder der Gruppe.“

Das zeigt sich für Tomasello insbesondere bei der Beobachtung vorsprachlicher oder gerade erst sprechender Kleinkinder. „Diese noch ganz jungen menschlichen Wesen operieren schon mit einigen kognitiven Prozessen, die den Menschenaffen fehlen und die es ihnen ermöglichen, mit anderen auf verschiedene Weise sozial in Verbindung zu treten, was Menschenaffen nicht können, zum Beispiel durch geteilte Aufmerksamkeit und kooperative Kommunikation.“

Entscheidend ist offenbar, dass Menschen in der Lage sind, sich mit anderen als ein „wir“ zu koordinieren – Primaten können das nur in der Jagd. Nur Menschen sind zudem in der Lage, eine Situation unter unterschiedlichen und widersprüchlichen sozialen Perspektiven zu begreifen und damit ein Gefühl für „Objektivität“ zu entwickeln. Das menschliche Gruppenleben erforderte sehr viel mehr gemeinschaftliche Aktivitäten und dafür eine viel größere und beständige gemeinsame mentale Welt: Das kultivierte Gruppenbewusstsein stabilisiert sich durch Konventionen, Normen und Institutionen. „Teil dieses Prozesses wurde die kooperative Kommunikation zu einer konventionalisierten sprachlichen Kommunikation.“ (Tomasello)

Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass das Gruppenleben in größeren sesshaften Gemeinschaften eine Herausforderung darstellte. Zur Bewältigung dieser Herausforderung entwickelten die Menschen mit großen Ernst und großen Vergnügen mythische Erzählungen und Riten, die die Gemeinschaft kommunikativ festigen und vor Augen zu führen sollte, dass diese Gemeinschaft kein Zweckbündnis egoistischer Einzelinteressen war, sondern die Schöpfung eines allmächtigen Größeren.

    siehe auch u.a. die Blog-Texte
       Wie das ICH entstand - über das archaische Kollektivbewusstsein und das individuelle Ich-Bewusstsein MG-Link
       Sprache Denken - über das Denken in Anschauungsformen, in Schriftsprach-Symbolen und in Mythen   MG-Link
       Medium Stimme MG-Link
       Potential des Mediums Schrift MG-Link
      
    Orale Sinnlichkeit MG-Link
      

    Lit.:
    Dieter Lohmar, Denken ohne Sprache. Phänomenologie des nicht-sprachlichen Denkens
       bei Mensch und Tier im Licht der Evolutionsforschung, Primatologie und Neurologie (2016)

    Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte des menschlichen Denkens (2014)
    Frans de Waal, Der Affe in uns: Warum wir sind, wie wir sind (2009, engl. 2005)