Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

www.medien-gesellschaft.de


III
Medien
-Theorie

Wir-Ich Titel kl1

Neue Medien,
neue Techniken des Selbst:
 Unser digitales Wir-Ich

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Schriftmagie Cover

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert
des Auges:
Virtuelle Realität
der Schrift

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Augensinn Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:

Augensinn und
 Bild-Magie

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GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle
Geschichte machen

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POP55

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-752948-72-1
 

Neurobiologische Bedingungen des freien Willens

aus: Joachim Bauer: Warum ich fühle was du fühlst /2006),
Kap. 11. Gene, Gehirn und die Frage des freien Willens, S. 159ff

Was ein Individuum an Programmen für Handlungen und Empfindungen besitzt, ist, dies ist eine der zentralen Botschaften der Spiegelneurone, keine gänzlich individuelle Angelegenheit. Die Reaktionsprogramme, die jeder für typischerweise vorkommende Situationen bereithält, können von Mensch zu Mensch durch Resonanz aktiviert, abgeglichen und kommuniziert werden. Denn überall dort im Gehirn, wo Programme für Handlungssequenzen und dazugehörende Empfindungen gespeichert sind, haben sich Spiegelnervenzellen eingenistet. Wo Spiegelsysteme vorhanden sind, werden neuronale Programme nicht nur aktiviert, wenn das Individuum selbst eine Aktion oder Reaktion vorbereitet, sondern auch dann, wenn es miterlebt, wie jemand anders die betreffende Handlung ausführt. Die Spiegelneurone stellen somit eine Art soziales  neurobiologisches Format dar, sie sind das gemeinsame Vielfache, in dem sich jeder Einzelne, aber auch die Gemeinschaft wiederfindet.

Was bedeutet dies für die Frage, wodurch der Mensch sein Verhalten steuert, was bedeutet es für die Frage des freien Willens? Was passiert, wenn ein Mensch eine Handlung plant und diese durchführt? Als Erstes werden im Gehirn Nervenzellnetze aktiv, die Programme für die Handlungsplanung kodieren. Nicht jede dieser Aktivierungen führt auch tatsächlich zu einer Handlung. Es kann auch bei einem Handlungsgedanken, bei der Vorstellung einer Handlung bleiben. Die Nervenzellnetze, in denen Programme für Handlungen abgespeichert sind, stellen also einen Planungsraum dar, in dem innere Vorstellungen und Gedanken darüber erzeugt werden, was das Individuum Wirklichkeit werden lassen könnte, was aber nicht Wirklichkeit werden muss. Da sich hier aber auch Spiegelneurone eingenistet haben, hat nicht nur das Subjekt, sondern auch seine soziale Umgebung Zugang zu diesem Planungsraum.

Das Terrain des freien Willens

Wenn wir das Tun anderer Menschen beobachten oder miterleben, werden in uns zu diesem Tun gehörende Vorstellungen und Gedanken angeregt. Beim Neugeborenen sowie beim Kleinkind führt die durch Beobachtung ausgelöste neurobiologische Resonanz in einem hohen Grad auch zu den entsprechenden Verhaltensweisen: Säugling und Kleinkind zeigen eine starke Tendenz, das, was sie sehen, auch selbst zu machen. Sobald hemmende Bereiche des vorderen Frontalhirns ausgereift sind, erwirbt der Mensch, wie bereits ausgeführt, die Fähigkeit, die mit Spiegelungsvorgängen einhergehenden Imitationsimpulse zu kontrollieren: Was beim Kind gleich zur imitierenden Tat werden musste, kann beim reifen Erwachsenen nur Gedanke bleiben. Der vordere Teil des Frontalhirns wird als der Ort der Selbststeuerung angesehen. Tragischerweise kann es bei Erkrankungen, unter anderem bei schweren Formen der Schizophrenie oder bei Frontalhirnverletzungen, zu einer Rückkehr zum Imitationsverhalten kommen. Nun wird klar, wie das Terrain aussieht, das der „freie Wille“ zur Verfügung hat: Er kann sich die eigene Person und die Welt nicht neu erfinden, sondern ist zunächst einmal an die Gesamtheit der im eigenen Gehirn gespeicherten Programme für Handeln, körperliches Empfinden und emotionales Fühlen gebunden. Hier tut sich ihm – bei einem durchschnittlich entwickelten Menschen – allerdings ein beachtliches Terrain auf. Wahlmöglichkeiten bestehen nicht nur darin, in einer bestimmten gegebenen Situation ein Handlungs- oder Empfindungsprogramm zuzulassen oder abzublocken. Vielmehr bringt es die Lebenserfahrung mit sich, dass für jede Situation meist mehrere Reaktionsprogramme möglich sind, aus denen ausgewählt werden kann und muss.

In die Entscheidung, welches von mehreren in einer bestimmten Situation möglichen Programmen aktiviert wird, gehen drei Aspekte ein: 
1. Das erste Kriterium ist die biologische und emotionale Situation des eigenen Körpers. Hier spielen nicht nur biologische Grundbedürfnisse (zum Beispiel Hunger, Müdigkeit, Bewegungsdrang), sondern auch emotionale Befindlichkeiten eine Rolle.
2. Ein zweiter, mindestens ebenso starker Entscheidungsfaktor ist der Wunsch, Bindungen zu sichern und maßgeblichen Bezugspersonen in Liebe verbunden zu bleiben. Dieser Aspekt ist - über die Belohnungssysteme des Gehirns - biologisch verankert und spielt bei allen in sozialen Gemeinschaften lebenden Wesen manchmal eine bedeutendere Rolle als die Sicherung eigener vitaler Bedürfnisse (beispielsweise, wenn andere unter Lebensgefahr verteidigt werden). 
3. Ein dritter in die Entscheidung eingehender Aspekt sind Fragen des sozialen Rangs bzw. der sozialen Anpassung.
Handlungsprogramme, die dem gesellschaftlichen Konsens zuwiderlaufen oder zu Konflikten mit ranghöheren bzw. stärkeren Individuen führen, sind meistens wenig vorteilhaft.

Der freie Wille als Resultat eines Selbstorganisationsprozesses

Jede Lebenssituation, in der uns eine Entscheidung abverlangt wird, basiert auf zahllosen Voraussetzungen und Bedingungen. Sie besteht außerdem aus zahlreichen aktuellen Aspekten. Und sie lässt immer mehrere Entscheidungsmöglichkeiten zu. Eine von einem Menschen – spontan oder auf der Basis eines bewussten Willensaktes – gefällte Entscheidung ist daher niemals durch einen einzelnen Aspekt begründet. Das Verhalten biologischer Systeme ist nicht die Wirkung einer Ursache, sondern das Ergebnis eines inneren Selbstorganisationsprozesses. Im Zentralnervensystem des Menschen ist dieser Prozess so organisiert, dass eine im vorderen Frontalhirn gelegene Instanz die Möglichkeit hat, in jeder Situation eine Wahl zu treffen. Diese Wahl ist nicht beliebig möglich, auch das Frontalhirn kann sich keine neue Welt erfinden.

Den Rahmen für eine einzelne Entscheidung bildet damit zum einen das dem Individuum zur Verfügung stehende Spektrum von Handlungsprogrammen, die es im Laufe seines Lebens abspeichern konnte. Zum anderen müssen die oben genannten drei inneren und äußeren Aspekte Berücksichtigung finden. Nichts anderes als das, was vom Individuum auf der Basis dieser Situation entschieden wird, ist der - auf Grund einer gesellschaftlichen Übereinkunft so genannte - freie Wille. Ein so definierter freier Wille ergibt auch neurobiologisch Sinn.  (…)

Die Spiegelneurone lehren uns, dass Nervenzellnetze, die mit der Planung von Handlungen beschäftigt sind, dem Individuum einen Raum zur Verfügung stellen, in dem Vorstellungen über Handlungen, also Handlungsgedanken, erzeugt und in der Schwebe gehalten werden können, ohne dass es notwendigerweise auch zur Umsetzung der entsprechenden Aktion kommen muss. Dieser Planungs-, Vorstellungs- und Gedankenraum ist zugleich ein Ort von neurobiologischen Spiegelungs- und Resonanzphänomenen: Was wir bei anderen beobachten oder miterleben, ruft in uns korrespondierende Gedanken und Impulse wach. Ob wir sie als Vorstellungen in der Schwebe halten oder sie in uns selbst realisieren, können wir - vorausgesetzt, wir gehören zu denen, die sich einer durchschnittlichen seelischen Gesundheit erfreuen - abwägen.

 
 

Was hat nun Libet wirklich herausgefunden? 

aus: Erinnyen Aktuell, 2004, http://www.erinnyen.de/ethik/druckfeiewille.html

Benjamin Libet hatte vor Jahren angeblich herausgefunden, dass unser Gehirn vor einer bewussten Entscheidung bereits für uns entschieden habe. Im Spiegel-Artikel „Gibt es einen freien Willen“, 1.11.2003) liest sich das dann so: „In dem Moment, da die Probanden glaubten, ihre Entscheidung zu treffen, waren die Neuronen in ihrem Gehirn längst aktiv. Mindestens eine drittel Sekunde vorher schon hatten sie die Entscheidung gefällt – das Bewusstsein kam zu spät.“

„Libet bat seine Versuchspersonen, zu einem willkürlichen, selbst gewählten Zeitpunkt einen Finger zu heben und den Augenblick, in dem ihnen ihr Vorsatz bewusst wurde, frühestmöglich zu registrieren, indem sie sich die Position eines wandernden Punktes merkten. Er stellte fest, dass das Einsetzen des Bereitschaftspotenzials grundsätzlich der Realisierung der eigenen Bereitschaft vorausging, und zwar im Schnitt um 350 bis 150 Millisekunden. Er schloss daraus, dass die zerebrale Initiation einer spontanen, völlig freiwilligen Handlung unbewusst stattfinden kann, das heißt, bevor es irgendein erinnerbares Gewahrsein dessen gibt, dass das Großhirn bereits den Entschluss gefasst hat zu handeln. Damit sieht es ganz danach aus, als setze das Gewahrwerden einer motorischen Intention, genau wie das Wahrnehmen eines sensorischen Stimulus, eine zugrunde liegende neurale Aktivität voraus, die eine beträchtliche Zeit hindurch – in der Größenordnung von 100 bis 500 Millisekunden – anhalten muss.“ (Edelmann, Gerald M., Tononi, Giulio: Gehirn und Geist. Wie aus Materie Bewusstsein entsteht, München 2004, S. 99.)

Jeder, der seinen Blutdruck regelmäßig messen muss, weiß z.B., dass er ansteigt vor wichtigen Entscheidungen. Die Hirnaktivitäten erhöhen sich vor jeder bewussten Entscheidung – das ist durch dieses Experiment bewiesen, aber mehr auch nicht. So schreiben Edelman und Tononi: „Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas richten, uns konzentrieren oder in unserem Bewusstsein nach etwas kramen, wenn wir darum ringen, uns an etwas zu erinnern, wenn wir eine Zahl oder eine Vorstellung in unserem Arbeitsspeicher auf Vorrat halten, eine Kopfrechnung durchführen oder uns eine Szene vergegenwärtigen, wenn wir tief in Gedanken versunken sind, Künftiges planen oder irgendetwas aushecken, wenn wir versuchen, uns die Konsequenzen unserer Planungen und Vorhaben zu vergegenwärtigen, wenn wir mit einer Handlung beginnen oder uns willkürlich zwischen mehreren Alternativen entscheiden, wenn wir unseren Willen durchsetzen oder mit einem Problem ringen, dann ist Bewusstsein aktiv und anstrengend.“  

Dass Wahrnehmungsprozesse und Entscheidungsprozesse eben Prozesse sind und eine gewisse Zeit benötigen, ist kein Grund, dem Menschen einen freien Willen abzusprechen. Ich habe mich spontan entschieden und diese Entscheidung wird mir in ca. 250 Millisekunden bewusst. Wenn Bewusstsein (einschließlich der freie Willen) mit neuronalen Prozessen im Gehirn verbunden ist, dann hat der freie Wille sein materielles Korrelat, wie andererseits die Gehirnaktivität ab einer bestimmten Stärke zu Bewusstsein führt (z.B. verursacht durch unwillkürliche Berührung). Wie das Verhältnis von konkreten Gedanken und seinem neuronalen Korrelat ist, das ist bisher etwas völlig Unerforschtes und evtl. auch gar nicht erforschbar, vor allem wenn man bedenkt, dass ein Gedanke mit verschiedenen neuronalen Zuständen korrelieren kann. (…)
Im übrigen beruht der freie Wille, insofern er nicht nur ein sinnliches Begehren ist, auf vorgängigen Erfahrungen, Einsichten und Wissen und ebenso auf Vernunft, die eben auch körperlich im Gehirn verankert sein muss, wenn wir uns ihrer erinnern. Das Verhältnis von Körper und Geist (Immaterielles) ist derart komplex, dass eine Deutung des Libet-Experiments, die den Menschen den freien Willen abspricht, eine monokausale Reduktion ist und damit falsch.

 
 

Der Mensch denkt, das Hirn lenkt: Warum die Neuronen uns einen Tick voraus sind

Bas Kast, 2002      aus:  https://www.tagesspiegel.de/themen/gesundheit/der-freie-wille-ist-eine-illusion/357466.html

„Ich weiß ehrlich nicht, was die Leute meinen, wenn sie von der Freiheit des menschlichen Willens sprechen“, sagte Albert Einstein. „Ich spüre, dass ich meine Pfeife anzünden will, und tue das auch; aber wie kann ich das mit der Idee der Freiheit verbinden? Was liegt hinter dem Willensakt, dass ich meine Pfeife anzünden will? Ein anderer Willensakt?“

Einstein war Theoretiker. Die allgemeine Relativitätstheorie, die er 1915 aufgestellt hatte, fand erst Jahre später, bei einer Sonnenfinsternis 1919, die erste Bestätigung. „Revolution in der Wissenschaft“ titelte damals die Londoner „Times“. Newtons Weltbild, die klassische Physik, wankte.

Erste empirische Bestätigungen für Einsteins Skepsis gegenüber dem freien Willen ließen noch viel länger auf sich warten. Inzwischen aber mehren sich die Befunde, die auch den freien Willen ins Wanken bringen. Sie kommen aus den Labors der Hirnforschung – und für einige der Experten kündigen auch sie bereits eine Revolution an.

Aus diesem Anlass veranstaltete die Wochenzeitung „Die Zeit“ 2002 in Berlin eine Podiumsdiskussion zum Thema „Hirnforschung und der Verlust des freien Willens“. Der Abend artete zu einer One-Man- Show des Bremer Hirnforschers Gerhard Roth aus. Sein erster Satz in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften lautete schlicht: „Der freie Wille ist eine Illusion.“

Roths Beleg: Ein OP-Saal in Montreal, Kanada, Mitte des letzten Jahrhunderts. Ein Neurochirurg namens Wilder Penfield beugt sich über den offenen Schädel eines Epilepsie-Patienten und stimuliert mit Elektroden dessen Hirn; der Patient ist bei vollem Bewusstsein. Was sich wie Science-Fiction anhört, ist für den Chirurgen fast eine Routine-Untersuchung – in den 1940er und 50er Jahren operiert er Hunderte von Epileptikern. Mit seinen Elektroden sucht er nach dem „epileptischen Herd“: dem krankhaften Gewebeklumpen, von dem die epileptischen Gewitter im Gehirn ihren Anfang nehmen.

Irgendwann während der OP des epileptischen Mannes trifft der Chirurg mit der Reizelektrode auch das Hirnzentrum, das den Arm steuert – und der Arm des Mannes bewegt sich. Kurios fällt die Antwort aus, als Penfield den Mann daraufhin fragt, warum er denn gerade seinen Arm bewegt habe: „Weil ich es wollte!“, sagt der Mann.

Befunde wie diese sind ein gefundenes Fressen für Roth. Seiner Meinung nach ist nicht nur der freie Wille eine Illusion. Auch die Vorstellung, wir könnten vernünftige Erklärungen für unser Verhalten ablegen, sei eine Täuschung. Wir meinen zwar zu wissen, warum wir etwas tun, sagt Roth, aber in Wahrheit tappen wir im Dunkeln.

Seine Begründung: Die Entscheidungen für unsere Handlungen stammen aus dem Unbewussten. Weil das aber per definitionem inkognito arbeitet, bleibt es unserem Bewusstsein verborgen, dass eigentlich das Unbewusste „der Chef ist“, wie Roth sagt. In seiner Verblendung schreibt das bewusste Ich, nicht ganz frei von Größenwahn, „alles sich selbst zu“.

Wir wollen, was wir tun

Eine weitere Bestätigung für Roths Theorie stammt aus den 1970er Jahren. Damals startete der Neuropsychologe Benjamin Libet von der Universität von Kalifornien in San Diego eine Serie von spektakulären Experimenten, die unsere herkömmliche Vorstellung von Wille und Handlung auf den Kopf stellen. Intuitiv gehen wir davon aus, dass wir zuerst eine Entscheidung für eine Handlung treffen, um danach diese Handlung auszuführen. Libet entdeckte, dass es sich genau umgekehrt verhält.

Der Neuropsychologe bat Versuchspersonen, ihre Hand zu einem frei gewählten Zeitpunkt zu bewegen. Währenddessen blickten sie auf eine Art Uhr: Die Probanden sollten sich genau merken, zu welchem Zeitpunkt sie sich für ihre Bewegung entschieden. Gleichzeitig registrierte Libet die Hirnaktivität der Probanden. Das erstaunliche Resultat: 350 Millisekunden bis 400 Millisekunden vor dem Entschluss, die Hand zu bewegen, zeigte sich bereits Aktivität in dem Hirnbereich, der die Hand steuert. Ein Ergebnis, das dem Neuropsychologen „unglaublich peinlich“ war, wie Roth sagt, der den Forscher persönlich kennt. „Schließlich wollte er mit seinem Experiment gerade den freien Willen experimentell nachweisen.“

Stattdessen musste der Forscher an der amerikanischen Westküste feststellen, dass wir unserem Hirn hinterherhinken: Fast eine halbe Sekunde, nachdem sich das Hirn auf die Bewegung vorbereitet hat, kommen wir offenbar erst auf den Gedanken, unsere Hand zu bewegen. „Wir tun nicht, was wir wollen“, bringt es der Münchner Psychologe Wolfgang Prinz auf den Punkt, „sondern wir wollen, was wir tun.“

Mit ihren pikanten Vorstellungen befinden sich Roth und Prinz in guter Gesellschaft. Auch der Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung in Frankfurt, Wolf Singer, glaubt, dass sich unsere herkömmliche Vorstellung vom freien Willen nicht mehr lange halten wird. Singer war bei der Diskussion zwar nicht dabei – aber seine Thesen dafür umso mehr. Der Forscher hält den freien Willen für ein „soziales Konstrukt“. „Tu dies, sonst passiert das“, sagt Singer – so klinge die Methode, mit denen wir unsere Kinder erziehen. Damit werde uns schon in jungen Jahren suggeriert, dass wir uns „auch anders hätten entscheiden können“. So entstehe allmählich die Vorstellung eines freien Willens in unserem Kopf.

 
 

Viktor Frankl zum freien Willen

 aus: http://www.medien-gesellschaft.de/html/das_gespurte_ich.htm

Über dem leiblich gespürten Kern-Selbst erhebt sich das große kulturelle Gebäude der Gedankenformationen. Das Mentale ist sicherlich ein Teil der Wirklichkeit. Gegen alle Tendenzen, den Menschen auf seine libidinösen Triebkräfte zu reduzieren („Wille zur Lust“) und das Mentale zur Sublimation zu degradieren oder auf den „Willen zur Macht“ (Viktor Adler), betont der Wiener Psychologe Viktor Frankl im „Willen zum Sinn” das Besondere des Menschen, der sich nur durch seine geistigen Kräfte von seiner natürlichen Umwelt abheben kann. Der Mensch sucht nach Sinn, und da es keinen von einer äußeren Autorität feststellbaren „Sinn des Lebens“ gibt, ist der Sinn immer subjektiv. Aber der Sinn verbindet den Menschen mit seinen Mit-Menschen, bindet ihn ein in die Gemeinschaft der Menschen. Sinn ist eine selbst gewählte Aufgabe, die auf andere (oder anderes) verweist. Der selbst gewählte Sinn ermutigt den Menschen, jeden Morgen aufzustehen und für das zu leben, was ihn zum Individuum macht.

 
 

Gerhard Roth: Die Pseudoherrschaft des Ich

Interview mit Prof. Dr. Dr. G. Roth  über beschränkte Beeinflussbarkeit und Entscheidungsfreiheit von Individuen

Arnulf Marzluf (Weser-Kurier) führte das Interview am 15. Februar 2000 in der Universität Bremen.

Herr Prof. Roth, die Antike erfand das hübsche Bild des Rosselenkers, der die Steuerfunktion unserer Vernunft über den Körper symbolisieren sollte. Und die meisten Menschen sehen auch heute noch ihr Bewusstsein als Steuerungsinstanz. Wie kann jedoch unser Denk- und Handlungssystem, das hochkomplex arbeitet, solche Steuerungseingriffe überhaupt gewähren?

Roth: Dieses platonische Bild entspricht unserem subjektiven Empfinden. Wir haben das Gefühl, das bewusste Ich, die Vernunft, sei der Lenker. Gleichzeitig wurde allerdings zugegeben, daß diese Lenkung so hundertprozentig nicht funktioniert. Es gibt auch bei Platon niedere Triebe, welche die Vernunft bekämpfen und niederhalten muss. Doch im Prinzip meinte man schon, es gibt einen obersten Lenker.

Moralische Erwägungen spielten immer mit.

Roth: Einerseits war es eine moralisch-ethische Vorstellung - es muss jemandem geben, der die niederen Triebe im Zaum hält - und zum anderen spielt der Logosbegriff eine Rolle: Es gibt eine universelle Vernunft, den Logos, und unsere individuelle Vernuft ist der Stellvertreter dieses Logos. Diese Vernuft wurde von Platon übrigens im Gehirn angesiedelt, während die Triebe - natürlich - im Unterleib lokalisiert waren.

Eine These besagt, unser Bewusstsein beruht auf Beobachtungsoperationen, die für erfolgreiche Steuerungen immer zu spät kommen würden.

Roth: Das subjektive Erleben, jenes Gefühl, dass ich das bin, der an den Hebeln der Macht sitzt, ist ganz offenbar eine nachträgliche Zuschreibung. Das zeigen Experimente, die vor 17 Jahren von dem amerikanischen Neurobiologen Benjamin Libet gemacht und vor anderthalb Jahren von englischen Psychologen voll bestätigt wurden: Dem individuellen ,,Willensentschluss" geht eine unbewußte Entscheidung voraus; der Wille folgt dieser Entscheidung nur. Ich denke, man muss die ganze Sichtweise umdrehen und fragen: Was ist das Wichtigste, was der Organismus leisten muss? Das Wichtigste für ihn ist, am Leben zu bleiben. Um dies zu erreichen, muss ein Organismus dasjenige tun, was für ihn gut ist und das lassen, was schlecht ist. Das einzige Kriterium, was dem Organismus dann bleibt, ist die individuelle Erfahrung. Das heißt, alle Organismen mit komplexen Verhaltensweisen müssen ein internes Bewertungssystem besitzen, welches in jedem Augenblick feststellt, ob das, was der Organismus getan hat, gut/nützlich/erfolgreich war und entsprechen wiederholt werden soll, oder ob es schlecht/nachteilig/erfolglos war und zukünftig vermieden werden soll. Bei uns heißt dieses System das limbische System; es beginnt bereits im Mutterleib Erfahrungen zu machen. Es ist weithin ein emotionales Gedächtnis, bestehend aus einem Positivgedächtnis und und einem Negativgedächtnis. Dieses System hat die wesentlichen Bewertungskriterien schon gegen Ende des dritten Lebensjahres entwickelt, also lange bevor das bewusste Ich sich zu entwickeln beginnt. Dieses Ich, dieses Bewusstsein, ist für das Bewertungssystem nur ein besonderes Hilfsmittel, das genau dann eingesetzt wird, wenn komplexe neuartige Situationen auftauchen, für die die bisherige Erfahrung nicht sagt, was zu tun ist.

Eingeschliffene Verhaltensweisen, Handlungen, die automatisiert ablaufen können wie Autofahren zum Beispiel müssen nicht immer wieder neu geprüft werden.

Roth: Das meiste von dem, was wir täglich tun, tun wir ohne Überlegung, ohne expliziten Willensakt. Wir tun es einfach und schreiben es nachträglich - falls wir gefragt werden - unserem Willen zu. Nichtsdestoweniger wird bei allem, was wir tun, etwa eine Sekunde vorher, unbewusst im limbischen System abgefragt, ob das Beabsichtigte passend/gut oder unpassend/schlecht ist, und zwar im Lichte der vergangenen Erfahrung. Selbst wenn wir wie automatisch nach der Kaffeetasse greifen oder aufstehen wollen, muss immer abgefragt werden: Soll das jetzt und in dieser Weise getan werden? Denn jeder Willkürakt, der getan werden soll, erfordert, dass gleichzeitig eine große Anzahl alternativer Willkürakte unterdrückt werden. Das ist eine Erkenntnis, die sich im Zusammenhang mit der Untersuchung der Parkinsonschen Krankheit herausstellte. Es findet ein aktiver Selektionsprozess statt, von dem wir wissen, dass er völlig unbewusst in den Basalganglien geschieht. Gleichzeitig haben wir aber auch das Gefühl, dass wir die Instanz sind, die entscheidet. Es gibt also ein Ich , das sich fälschlicherweise die Veranlassung für unser Handeln zuschreibt.

Welchen Sinn soll das haben, dass uns vorgespielt wird, wir seien Herr der Lage, obwohl uns die Entscheidung untergeschoben wird?

Roth: Die Entscheidung wird dem bewußten Ich sogar in zweifacher Weise untergeschoben. Einmal, in dem alles, was uns als Gedanken, Wünsche und Absichten in den Sinn und damit in das Stirnhirn kommt, durch das unbewusst arbeitende limbischen System, vor allem die Basalkerne und den Mandelkern, die Amygdala, vorgeformt wird.

Das limbische System ist ein bewertendes System.

Es ist das Bewertungssystem, in dem das Gedächtnis steckt, welches sagt, ob das, was wir in der Vergangenheit getan haben, gut oder schlecht für uns war. Dieses unbewusste Gedächtnis beeinflusst nicht nur unsere Handlungen in der Weise, wie ich es eben geschildert habe, also die Bahnung der Verhaltensweise selber, sondern auch alle unsere Wünsche und Pläne. Wenn mir aus heiterem Himmel der Wunsch kommt, nach Rio de Janeiro zu reisen und Ferien zu machen, anstatt an der Universität weiterzuarbeiten, dann kommen derartige Wünsche neben ,,Anregungen" von aussen meist aus dem Unbewussten. Bevor ich wirklich diesen Wünschen folge, gibt es noch eine weitere Abfrage durch das limbische System: Ist das denn wirklich angebracht?

Wie leistungsfähig ist das unbewusste System?

Roth: Das Unbewusste arbeitet schnell und effektiv, irrt sich selten, aber es ist relativ unflexibel. Es tut Dinge, die eingeschliffen und unproblematisch sind. Es kann nur einfache Dinge bearbeiten. Sobald komplexe neuartige Probleme hinzukommen, brauchen wir andere sehr plastische Netzwerke, die dann eingeschaltet werden. Diese Netzwerke sitzen in unserer Großhirnrinde, insbesondere im Stirnhirn, dort wo auch unser Bewußtsein und unser Ich sitzen. Diese Netzwerke sind langsam und fehleranfällig, sie haben aber den unschätzbaren Vorteil, dass sie komplexe Probleme auf neuartige Weise bearbeiten können, indem sie aus sehr vielen Informationstöpfen Dinge neuartig zusammenfügen. Das scheint eine wesentliche Funktion von Bewusstsein zu sein und ein wesentlicher Grund für die Erfindung des Ich, das ja eine besondere Art von Bewusstsein ist.

Und wie kommt es zur Selbsttäuschung?

Roth:Es scheint bei komplexer Verhaltenssteuerung wie der menschlichen für das Gehirn sehr vorteilhaft zu sein, ein virtuelles Ich zu erfinden, das mit der Illusion lebt, es selbst sitze an den Hebeln der Macht. Wenn wir dieses Ich-Gefühl nicht haben, sind wir nicht in der Lage, komplexe Situationen, insbesondere komplexe soziale Situationen zu meistern. Diese Konstruktion des Ich ist ein sehr langfristiger Prozess, der sich beim Kind und jugendlichen Menschen über viele Jahre hinzieht. Das Ich ist eine Integrationsinsstanz für komplexe Handlungsplanung. Das Gehirn zieht in sich eine besondere Verarbeitungsebene ein, in der Dinge scheinbar verhandelt werden, um Verhaltensplanung zu ermöglichen.

Nun frage ich, welchen Handlungsspielraum hat das Ich eigentlich, wenn so ziemlich alles vorentschieden wird? Und wenn etwas nicht vorentschieden ist, nach welchen Kriterien wird dann entschieden?

Roth: Das ist die Kernfrage: Inwieweit ist alles vom Unbewussten determiniert und das bewusste Ich ein völlig hilfloses Werkzeug, und inwieweit kann es doch etwas bewirken, doch mitreden? Wenn es ein hilfloses Werkzeug wäre, würde es als Vermittlungsinstanz keinen Sinn machen und wäre in der Evolution des menschlichen Gehirns wohl nicht ,,erfunden" worden. Also muss es eine Funktion haben. Es tritt, wie bereits gesagt, es in den Fällen in Aktion, in denen das limbische System in den bisherigen Vorerfahrungen kein Rezept findet und nicht weiss, was zu machen ist. Wenn die Entscheidungssituation frei und wenn wenig emotionale Vorbelastung da ist, wenn wenig Vorgaben durch meinen Charakter und meine Persönlichkeit, dann hat dieses Ich große Gestaltungsmöglichkeiten. Je mehr ich aber emotional befangen bin und mein ganzer Charakter und meine Erfahrungen in eine bestimmte Richtung gehen, desto weniger Kontrollmöglichkeiten wird das Ich haben und nur Alibifunktionen ausfüllen.

Emotionalisierung kann den Willen stärken, stärkt sie auch das Ich?

Roth: Eine wichtige Frage, mit der sich Psychologen sehr ausführlich beschäftigt haben: wann tritt überhaupt das Gefühl des Willens auf? Es tritt nicht bei Dingen auf, die wir eher routinemäßig tun. Wenn ich Dinge tue, die naheliegen und irgendwie selbstverständlich sind, zum Beispiel jetzt Kaffee trinken, brauche ich dazu keinen Willenakt, auch wenn ich dabei das Gefühl habe, ich wollte sie. Der Willensruck ist hingegen umso stärker, je mehr innere und äußere Widerstände entgegenstehen. Wenn ich Durst habe, die Kaffeetasse nehmen und trinken möchte, brauche ich keinen Willensakt. Ich brauche einen Willensakt, um die Tasse nicht zu nehmen, auch wenn mich alles dazu drängt. Der Willensakt ist die Bündelung der Kräfte auf ein Ziel, bei dessen Verwirklichung starke Hindernisse und entgegenlaufende Antriebe überwunden werden müssen.

Ich entnehme Ihrem Modell, dass für unsere Entscheidungen wichtig ist, wie unser Lebensprozess abgelaufen ist, wie unsere persönliche Geschichte aussieht und nicht, welcher Einfluss von unveränderlichen transzendenten Phänomenen ausgeht.

Roth: Charakter und Persönlichkeit eines Menschen sind sehr früh vorhanden, sie bilden sich bereits in den ersten Lebensjahren aus, und zwar wesentlich unbewußt. In diese vorbewußten Rahmenbedingungen  wird das bewußte Ich hineingestellt und ist zum Teil damit konform, zum Teil aber nicht, und zwar unter dem Einfluß der Gesellschaft über die Erziehung. Das Ich ist als Bewusstsein zumindest beim Menschen weitgehend sprachlich vermittelt, und da kann es passieren, daß die Gesellschaft über das Ich irgend etwas fordert, was nicht dem Charakter entspricht. Das ist der ständige Kampf des Ich gegen die weithin limbische Persönlichkeit. In diesem Kampf hat letztlich das limbische System als emotionales Erfahrungs- und Bewertungssystem das letzte Wort.

Damit ist das Ich tief abhängig.

Roth: Das Ich steigt aus dem Unbewussten auf, und was es macht, ist mit dem limbischen System konform oder nicht. Die Konflikte werden meist zu Gunsten des limbischen Systems, zugunsten der Emotionen gelöst.

Damit haben wir einen Bruch zur klassischen Philosophie und der Vorstellung von extern steuerbarem moralischen Verhalten von Individuen oder einer moralischen Selbststeuerung.

Roth: Wenn man es dramatisch sagen will: Jeder Mensch wird von diesem weitgehend unbewusst arbeitenden Bewertungssystem getrieben. Dieses System geht nur nach der Regel vor:  wiederhole das, was für dich günstig, positiv, erfolgversprechend ist und vermeide das, was für dich schlecht ist, schmerzhaft. Doch dieses Bewertungssystem kann völlig für sich eine eigene Richtung einschlagen, für den einen ist dies positiv, für den anderen etwas völlig anderes. Was für den einen lustvoll ist, muss es für den anderen noch lange nicht lustvoll sein. Solche komplexen, selbststeuernden Systeme, wie es das limbische Bewertungssystem ist, können, selbst wenn sie vom selben Ausgangspunkt ausgehen, aufgrund von Zufällen und interner "Verrechungsprozesse" ganz verschiedene Richtungen einschlagen. Kompliziert wird das Verhältnis von limbischem System und Ich dadurch, dass das Ich zwar individualbiologische Wurzeln hat, auf der anderen Seite aber auch über die Sprache und Erziehung eine soziale Komponente. So bekommen wir von der Gesellschaft ständig Kommandos, was wir tun müssen. Dieser kategorische Imperativ ist ein soziales und kein biologisches Kommando. Deshalb kommt es zum Konflikt und zu Legitimationszwängen des Ich gegenüber der Gesellschaft. In dem Augenblick, in dem dieses sozial vermittelte Ich etwas anderes will als das limbische System  und letztendlich auch tun will, muss unser Ich zum Teil absurde Erklärungen liefern, bei denen der Menschenkenner sagt: Das stimmt doch hinten und vorne nicht. Unser Bewusstseins-Ich ist wesentlich sprachlich und sozial vermittelt, und unser Bewertungssystem biologisch-egoistisch. Dies führt zu den bekannten Verrenkungen des Ich bei der Erklärung des scheinbar von ihm selbst veranlaßten Verhaltens.

Die Beeinflussbarkeit eines solchen komplexen Systems ist offenbar recht gering.

Roth: Klar, warum sollte ein System, das 40 oder 50 Jahre lang bestimmte Erfahrungen gemacht hat, nur auf Anraten eines externen Beobachters - und nichts anderes ist das sozial vermittelte Ich - etwas anders machen? Natürlich sind Menschen nicht von ihrer sozialen Umwelt abgeschlossen; sie nehmen aber davon nur dasjenige auf, was zu ihnen passt und ohnehin naheliegt. Das Nichtpassende wird solange abgewehrt, wie es irgend geht. Es ist eben ein selbst-stabilisierendes System, es will mehr als alles andere Harmonie mit sich selbst. Übertüncht wird das von unserer Fähigkeit, unser Verhalten sprachlich zu legitimieren. Was Leute erzählen, warum sie Dinge tun und warum nicht - wir haben gelernt, nicht viel darauf zu geben.

Vernunftgründe entfachen wenig Wirkung.

Roth: Einsichten können nicht einfach ins andere System transportiert werden. Was ich sage, kommt nur als Schallwellen bei Ihnen an. Die Bedeutung des Gesagten entsteht im individuellen Gehirn, und zwar aufgrund der in Ihrem Gehirn vorherrschenden individuellen Erfahrung. Es kommt dabei nicht unbedingt das an Einsicht an, was ich Ihnen vermitteln will, und wenn etwas ankommt, heißt es nicht, dass diese vermittelte Einsicht auch fraglos im Handeln übernommen wird. Es wird vom limbischen System gefragt: Stimmt das mit meinen Erfahrungen überein oder nicht? Nur in letzterem Falle wird Einsicht auch in Handeln umgesetzt.

Kann man sagen, wir haben eine parallele Situation: auf der einen Seite die Steuerung eines Menschen von außen, auf der anderen die Binnensteuerung? Beide Steuerungen sind jedoch extrem durch interne Prozesse gepuffert.

Roth: Die Steuerung von einem Individuum zum anderen ist extrem begrenzt, weil Bedeutung nur in jedem Hirn selbst erzeugt werden muss und nicht übertragen werden kann. Was ich an Einsicht bei Ihnen vermitteln kann, das muss jeweils individuell neu konstruiert werden. Das ist dasjenige, was der Konstruktivismus immer gesagt hat. Der Konstruktivismus muss aber einen entscheidenden Schritt weiter gehen, über das Ich hinaus. Es ist nicht so, dass es das Ich ist, welches die wahrgenommene Welt konstruiert. Das Ich ist selbst ein Konstrukt, ist selbst eine konstruierte Wahrnehmung.

Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens, der besagt, dass das Ich für seine Handlungen verantwortlich ist. Ihre Sicht relativiert das, weil das Ich als Herr im Hause eine Illusion ist. Wie sieht es überhaupt mit der Geltung philosophisch definierter Moralcodices aus, wenn sie von einem Ich vorgenommen werden, das über interne Systemkenntnise gar nicht verfügen kann. Philosophische oder gar moraltheologische Erwägungen sind ja nur Selbstbeschreibungen des Systems mit äußerst begrenzter Reichweite und Gültigkeit, weil es unter seinen Bedingungen entstanden ist. Sie tun als Naturwissenschaftler etwas ganz anderes. Sie beobachten das System von außen.

Roth: Es ist richtig, dass Geisteswissenschaften, Philosophie und alles, was auf der Basis der Selbstreflexion operiert, Binnenbeschreibungen eines Teilsystems sind. Wie ich mich sehe und empfinde, ist nicht die Gesamtsicht, sondern nur, wie mein Ich sich sieht. Und das ist ganz wesentlich sprachlich-sozial bedingt. Dass das Ichsystem, das Bewusstseinssystem sehr wenig Zugriff zu den eigentlichen Bewertungs- und Handlungssteuerungsmechanismen in meinem Gehirn hat, führt zu einem Kreisen des vergesellschafteten Ich in sich selber. Was das Ich sagt und fühlt, ist nicht der wahre Report der Tatsachen. Menschen haben nur sehr wenig Einsicht in das, was sie antreibt. Das muss man radikal so sehen, und alle psychologischen Untersuchungen gehen in diese Richtung.  Mit der Anschauung, daß das Ich wenig Zugriff auf Steuerungsmechanismen hat, stürzt auch das traditionelle Menschenbild ein.  Es bricht auch das abendländische Konzept der subjektiven Verantwortlich mit aller Radikalität zusammen. Nicht allerdings das Konzept der Autonomie des Individuums als eines Ganzen, und das ist sehr wichtig. Das Individuum als autonomes biologisches soziales Wesen bleibt; denn es ist - wenn auch weithin über das unbewußte limbische System bestimmt - innengeleitet. Weiterer Sprengstoff steckt allerdings in der Frage: Wie kommt denn dieses biologisch autonome System zu seinem Urteil? Ist dieses System vielleicht verantwortlich? Ist das Gehirn verantwortlich? Das Gehirn sortiert immer nur nach gut oder schlecht und tut zum Schluss das, was ihm in dem aktuellen Augenblick und im Licht seiner gesamten Erfahrung als geeignet erschien. Bei der Frage: Soll ich A oder B tun, schaut das Gehirn in seine Erfahrung, und alles darin spricht für A und gegen B. Das kann in den Augen der Anderen das Unmoralischste sein, was es gibt, für das System selbst ist es das Nächstliegende. Man muss sehr vorsichtig und behutsam mögliche Konsequenzen aus den hier vorgestellten Erkenntnissen für unsere traditionelle Sicht der Verantwortlichkeit des Individuums für sein Handeln diskutieren, aber man darf nicht generell die Augen vor diesen Erkenntnissen verschließen.
 

Das bedeutet aber auch, dass Theorien - auch solche, die empirisch unterfüttert sind wie Ihre - Teil dieses Systems sind, das eine Geschichte hat, die weitergeht. Die Naturwissenschaften wissen allerdings selbst, sich in einem Prozess zu befinden.

Roth: Das Konzept, das ich vorgestellt habe, erklärt, dass es auch den klügsten Leuten nicht gelingt, aus den Denk- und Gefühlsschemata ihrer Zeit herauszuspringen. Und das zweite ist auch richtig: die Naturwissenschaften können immer nur den Grad der Plausibilität maximieren, nicht Wahrheiten verkünden. Was ich hier gesagt habe, ist in den Ohren eines Menschenkenners trivial. Der große Fortschritt der Kognitionspsychologie und der Hirnforschung liegt in diesem Punkt darin zu erklären, warum das offenbar so ist. Wenn diese Forschung mit einem plausiblen Modell erklären kann, warum es so schwer ist Einsichten zu vermitteln und noch schwerer, nach Einsichten zu handeln, und warum Menschen sich nur schwer ändern lassen, dann kann man sich nicht mehr so leicht der Illusion hingeben, der Mensch sei beliebig durch Erziehung veränderbar und könne man schon rein durch gutes Zureden Verhalten der Mitmenschen ändern.
 

Siehe auch: Wie das Gehirn die Seele macht  Vortrag von G. Roth auf den 51. Lindauer Pychotherapiewochen 2001
 

 
 

Libet hat nur die prädiktiven Codierung gemessen

aus: Heiko J. Luhmann, Hirnpotentiale. Die neuronalen Grundlagen von Bewusstsein und freiem Willen,
Kap. 11. Freier Wille (2020)

Es gibt eine Vielzahl weiterer Beispiele aus der Physiologie, die beweisen, dass wir nicht frei sind, sondern durch biologische, chemische und physikalische Prozesse gesteuert werden. Wir sind auch nicht frei und unabhängig von unserer Umwelt, unserer Gesellschaft und unserer Kultur.
An dieser Stelle ist es notwendig, den Begriff der Willensfreiheit von dem der Handlungsfreiheit zu unterscheiden. Handlungsfreiheit bedeutet, dass ich tun kann, was ich tun will. Ich mag den festen Willen haben, den Marathonlauf in einer Zeit unter dreieinhalb Stunden zu beenden, aber leider setzen meine Beinmuskeln mir diesbezüglich einen anderen Handlungsspielraum. Medizin zeigen andere biologische Grenzen unserer Handlungsfreiheit auf. Hingegen bedeutet Willensfreiheit, dass ich meinen Willen selbst bestimmen kann.

In seiner 1839 veröffentlichten Preisschrift „Über die Freiheit des menschlichen Willens” schreibt der deutsche Philosoph Arthur Schopenhauer (1788–1860) zur Handlungs- und Willensfreiheit „Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will“ und bestreitet vehement die Existenz eines freien Willens.
Hermann von Helmholtz (1821–1894) beschrieb 1867 nicht nur die physikalischen und physiologischen Grundlagen der Optik und des Sehvorgangs, sondern beschäftigt sich in Kap. 26 seines Buches u. a. auch mit dem „Princip des freien Willens“: „Die psychischen Thätigkeiten, durch welche wir zu dem Urtheile kommen, dass ein bestimmtes Object von bestimmter Beschaffenheit an einem bestimmten Orte ausser uns vorhanden sei, sind im Allgemeinen nicht bewusste Thätigkeiten, sondern unbewusste. Sie sind in ihrem Resultate einem Schlusse gleich, insofern wir aus der beobachteten Wirkung auf unsere Sinne die Vorstellung von einer Ursache dieser Wirkung gewinnen, während wir in der That direct doch immer nur die Nervenerregungen, also die Wirkungen wahrnehmen können, niemals die äusseren Objecte.“
Es ging um die Frage, wie das Gehirn, speziell unser Sehsystem, selbst erzeugte Bewegungen von Bewegungen der Umwelt unterscheidet. Wenn wir unsere Augen bewegen, verändert sich
das Bild auf der Netzhaut. Das Gleiche passiert aber auch, wenn sich die Umwelt bewegt. Trotzdem können wir problemlos zwischen diesen beiden Ereignissen unterscheiden und wissen genau, ob sich die Umwelt bewegt oder ob wir unsere Augen bewegen.  

Eine Vielzahl von experimentellen Resultaten bestätigen die Hypothese, dass das Gehirn Informationen nach dem Prinzip der prädiktiven Codierung verarbeitet und ständig aktiv Hypothesen und Vorhersagen über zukünftige Ereignisse generiert. Diese Prognosen werden durch die neu eintreffenden sensorischen Signale aus der Umwelt oder dem Körperinneren kontinuierlich aktualisiert.
Sollte das Prinzip der prädiktiven Codierung tatsächlich den neuronalen Code darstellen, so sind viele der zuvor beschriebenen Versuchsergebnisse zur Willensfreiheit gar nicht so überraschend. Sowohl bei den Libet-Experimenten als auch bei der Mehrzahl der späteren Studien war den Versuchspersonen die Aufgabe im Voraus genau bekannt. Sie mussten sich für eine bestimmte Bewegung entscheiden. Bei prädiktiver Codierung entstehen unter diesen Bedingungen in corticalen Netzwerken neuronale Aktivitätsmuster, die genau diese Bewegungen vorhersagen, und das noch vor Beginn des Bereitschaftspotentials. Eine Trefferquote von 60 %, wie sie bei den Experimenten von John-Dylan Haynes und Kollegen beobachtet wurde, erscheint dann sogar recht gering.  

Zuvor wurde bereits festgestellt, dass das Gehirn ein stochastisches, nichtlineares und dynamisches System ist. Für deterministische Prozesse gibt es im Gehirn wenig Hinweise. Unser Wille entsteht also nicht etwa aus dem Nichts, sondern er beruht auf unseren Genen, epigenetischen Veränderungen, Erfahrungen, Erinnerungen, Emotionen, Interaktionen mit der Umwelt und unsere Erziehung, die allesamt unser internes Modell generieren und kontinuierlich modifizieren. Das interne Modell ist einmalig, höchst dynamisch und individuell. Jeder von uns ist in seiner physischen Gesamtheit als Individuum mit seinem Gehirn und damit auch mit seinem Bewusstsein und seinem Willen in soziale Gefüge eingebunden: Nicht mein Gehirn hat entschieden, sondern ich habe in meiner physischen Gesamtheit mit Hilfe meines Gehirns entschieden!

Fazit:  Da unser Gehirn ein stochastisches, nichtlineares, dynamisches und prädiktiv agierendes System ist, können wir für seine Funktionsweise deterministisches Verhalten ausschließen. Das Konzept der prädiktiven Codierung erklärt viele der experimentell gewonnenen Ergebnisse zur Willensfreiheit. Unser Gehirn, überwiegend der cerebrale Cortex, generiert ständig aktiv Hypothesen und Vorhersagen über zukünftige Ereignisse und greift dabei auf Erfahrungen und Erinnerungen zurück, die in internen Modellen repräsentiert und gespeichert sind. Die spontanen Aktivitätsmuster gleichen sich im Laufe unseres Lebens den erfahrenen und gespeicherten Modellen an und ermöglichen so eine schnelle, effiziente und energiesparende Verarbeitung neuronaler Informationen. Kreativität und Altersweisheit stellen möglicherweise Korrelate einer verbesserten prädiktiven Codierung dar. Wir treffen Entscheidungen auf der Grundlage von nichtdeterministischen, internen Modellen, die auf (epi)genetische Faktoren, Erinnerungen und soziale Interaktionen beruhen.