Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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III
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Martin Beckstein:

 

Kommunitarismus

 

Kommunitarismus bezeichnet keine vollumfängliche politische Theorie oder Ideologie, sondern eine Kritik an der kantianisch motivierten, liberalen Theoriebildung sowie der Ausprägung eines übersteigerten Individualismus in modernen Gesellschaften. Zur Selbstcharakterisierung wurde die Bezeichnung kaum genutzt. Die Kritiker verstanden sich eher als dem Republikanismus oder einem „wohlverstandenen“ Liberalismus, mit Abstrichen auch dem Konservatismus verpflichtet. Tatsächlich ist klassisch-republikanisches Gedankengut, gepaart mit soziologischen Beobachtungen, am deutlichsten als intellektuelle Inspirationsquelle auszumachen. Wie sinnhaft die Bezeichnung Kommunitarismus auch immer sein mag, sie vermittelt intuitiv ein grundlegendes Verständnis der Stoßrichtung des damit auf den Begriff gebrachten Ansinnens: dem gemeinschaftlichen Leben, dem Aktivbürgertum und Gemeinsinn, müsse theoretisch wie praktisch größerer Wert beigemessen werden.

Die kommunitarische Kritik kristallisierte sich in vier rasch nacheinander publizierten Monographien heraus: Alasdair MacIntyres After Virtue (1981), Michael Sandels Liberalism and the Limits of Justice (1982), Michael Walzers Spheres of Justice (1983) und Charles Taylors Philosophical Papers (1985). Die vier Autoren arbeiteten sich ihrerseits insbesondere an John Rawls‘ bahnbrechender Studie Theory of Justice (1971) ab. Weitere wichtige Zielobjekte der Kritik waren Robert Nozicks Anarchy, State and Utopia (1974) und Ronald Dworkins Taking Rights Seriously (1977). Auch wenn sich historische Vorläufer des Kommunitarismus schon Mitte des 19. Jahrhunderts auffinden lassen mögen und das Ansinnen der stärker zu gewichtenden Gemeinschaftlichkeit vielleicht weiterhin Zukunft hat, so sieht man doch sofort: Kommunitarismus ist in erster Linie das Produkt des  nordamerikanischen Fachdiskurses zur normativen Politischen Theorie der 1970er und 1980er Jahre. Anzufügen ist allerdings zweierlei. Erstens kamen mindestens zeitgleich andernorts sinnverwandte Bestrebungen auf, wie in Deutschland beispielsweise mit Manfred Riedels Rehabilitierung der praktischen Philosophie (1972). Zweitens ist zu konstatieren, dass die aus dem nordamerikanischen Fachdiskurs resultierende Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte die Politische Theorie in vielen Teilen der Welt bis heute prägt, zuweilen auch dominiert, sowie nennenswerten Einfluss auf die praktische Politik gewonnen hat.

Im Folgenden wird auf die Hintergründe und Vorgeschichte des Kommunitarismus, die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte der 1970er und 1980er Jahre sowie auf Reaktionen und weitere Folgen eingegangen. Auf dieser Grundlage kann eine vorsichtige Antwort auf die Frage nach den Zukunftsaussichten des Kommunitarismus gegeben werden: Handelt es sich beim Kommunitarismus um ein historisches Missverständnis oder um eine Leiter, die der Liberalismus zum Erreichen der nächsten Stufe erklimmen mussten (und nun getrost wegstoßen kann), oder aber hat die ursprüngliche Liberalismuskritik das Potenzial, sich zu einer eigenständigen Denktradition zu entwickeln?

1. Hintergründe und Vorgeschichte des Kommunitarismus

Um Kommunitarismus verstehen und richtig einordnen zu können, ist es zunächst hilfreich, sich den klassischen Republikanismus der Renaissance sowie dessen athenische und römische Vorbereitung in Erinnerung zu rufen. Die grundlegende Einschätzung dieser Denktradition bestand darin, dass sowohl die Herrschaft eines einzigen (Monarchie), als auch diejenige Privilegierter (Aristokratie) oder Unterprivilegierter (Demokratie) zur einseitigen Interessenspolitik verkommen könne. Die politische Ordnung würde dementsprechend gleich einem exklusiven Privatbesitz der jeweils herrschenden Bevölkerungsgruppe behandelt. Der Ausweg aus diesem Dilemma, so die Überlegung, besteht in einer Mischverfassung, die monarchische, aristokratische und demokratische Elemente in sich vereinigt sowie darin, dass man die politische Ordnung als res publica versteht: als gemeinsamen Besitz der Öffentlichkeit.

Gemeinsamer Besitz aber geht mit einem gemeinsamen – eben öffentlichen – Interesse an diesem Besitz einher, weswegen Politik auf die Förderung des Gemeinwohls anstatt partikulärer Eigeninteressen auszurichten sei. Dass die Funktionalität und Stabilität der Ordnung davon abhängt, dass die Bürger gemeinsinnig denken und handeln, sich aktiv in das Gemeinwesen einbringen und Bürgertugenden ausprägen, ist keine notwendige Schlussfolgerung. Adam Smiths berühmtes Argument der ‚unsichtbaren Hand‘ lässt sich ja so verstehen, dass egoistische Nutzenmaximierungsstrategien durchaus zu einem kollektiv wünschenswerten Ergebnis führen können. Naheliegend ist die Schlussfolgerungen gleichwohl, weswegen es nicht von ungefähr kommt, dass sie der Kommunitarismus im Anschluss an den klassischen Republikanismus ziehen sollte.

Neben den republikanischen Wurzeln ist ein zweiter geschichtlicher Hintergrund zum Verständnis des Kommunitarismus erhellend. Denn die Entwicklungen des 19. Jahrhunderts verliehen den Forderung nach einer gemeinschaftsorientierten Politik Nachdruck, und zwar vor allem dadurch, dass sie realiter in die Ferne rückte. Das Aufkommen großer Flächenstaaten, das Einsetzen der Industrialisierung und die Urbanisierung wirkten dem Aktivbürgertums und solidarischen Miteinander effektiv entgegen. Angesichts dessen mahnte Alexis de Tocqueville, dass es gerade die vielen freiwilligen bürgerlichen und politischen Vereinigungen auf lokaler Ebene und dezentralisierten townships sind, die den Vereinigten Staaten von Amerika

gegenüber den europäischen, zentralistischen Nationalstaaten einen Stabilitätsvorsprung sichern (Tocqueville 1987 [1835/1840], Bd. I 167–178, Bd. II. 279–291). Auch das Wort ‚kommunitarisch‘ fand zögerlichen Eingang in den politischen Sprachgebrauch, zunächst allerdings nur als Synonym für den sich formierenden Kommunismus sowie als Bezeichnung für die allgemeine Vorstellung, dass Gemeinschaftlichkeit für ein wertvolles Leben irgendwie bedeutsam sei (vgl. Dagger 2004, 171). Wohingegen der Kommunismus das Hauptaugenmerk auf die wirtschaftliche Verelendung der landflüchtigen Bevölkerung richtete, verdichtete sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Eindruck, dass das Leben in der modernen Gesellschaft unmittelbar auch seelischen Schaden anrichte. Ferdinand Tönnies‘ Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft ist hier wirkmächtig geworden: Menschen seien aus ihrer intim mit den sie umgebenden Menschen verbundenen, organisch gewachsenen und auf Traditionen basierenden Lebenswelt („Gemeinschaft“) entwurzelt und in einen in der Anonymität isolierenden, mechanischen und auf Rationalität getrimmten Kontext („Gesellschaft“) hineinverpflanzt worden (Tönnies 2019 [1887]).

Zum expliziten Referenzpunkt für den Kommunitarismus wurde hingegen vor allem Tocquevilles Auseinandersetzung mit den sozialen Funktionsbedingungen der Demokratie. Robert Bellahs, schon im Titel an Tocequeville anknüpfende Studie Habits of the Heart (1985), prangerte etwa an, dass in den USA eben jene von Tocqueville noch so gelobten Gewohnheiten des Herzens (und Denkens) von einem gemeinschaftszersetzenden Individualismus weitgehend verdrängt worden seien. In die gleiche Kerbe schlug zehn Jahre später Robert Putnam als er im vielbeachteten Aufsatz „Bowling Alone“ (1995) das Schwinden des „Sozialkapitals“ attestierte: Der allgemeine Rückgang von Vereinsmitgliedschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (inklusive Bowlingvereinen, bei zugleich stetig wachsender Beliebtheit des Bowlingsports), lasse auf einen deutlichen Rückgang von sozialem Vertrauen und Kooperationsbereitschaft schließen, der die Demokratie langfristig untergrabe.

Die soziologische Analyse der Schattenseite der Moderne stellt eine wichtige Komponente des Kommunitarismus dar. Sie motivierte und inspirierte ebenso die Kritik an (zu) individualistischen Denkrichtungen wie sie den politischen Reformforderungen Nachdruck verlieh. An seinen Kristallisationspunkt gelangte der Kommunitarismus aber auf dem Gebiet der politiktheoretischen Auseinandersetzung mit dem Liberalismus, über die nun im Folgenden ein Überblick verschafft wird.

2. Die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte

In den 1970er Jahren erfuhr die liberale politische Theorie bedeutende Impulse, unter anderem durch Rawls‘ Theory of Justice. Die Genialität seiner Gerechtigkeitstheorie bestand darin, dass er mittels der Figur des Schleiers des Nichtwissens in vertragstheoretischer Manier die Perspektive der universellen Moral zu simulieren versuchte – und damit individuelle Freiheiten sowie Redistributionsprinzipien auf besonders überzeugende Weise begründen konnte. Andere, wie Nozick, leiteten vom Prinzip der moralischen Gleichheit noch wesentlich rigidere Schutzrechte des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft ab. Die kommunitarische Kritik arbeitete sich an diesen Beiträgen systematisch ab. Sie lässt sich mit drei philosophischen und zwei strategischen Kritikpunkten umreißen.

(1) Ein fundamentaler Kritikpunkt betraf den Status, den liberale Autoren ihren Theorien zusprachen. Die Hoffnung, einen archimedischen moralischen Standpunkt einnehmen zu können, sei eine Illusion, der Versuch, den Liberalismus auf diese Grundlage zu stellen, zum Scheitern verurteilt. Unter der Hand würden deshalb im Namen der Neutralität partikuläre Werte zur allgemeinen Norm erhoben. Ein zentrales Argument rekurrierte auf die Kulturgebundenheit von Moral. Moral, wie Sprache, präge sich nur durch Sozialisation in einem sich im Laufe der Zeit durch intersubjektive Interaktion ausgeprägten Zusammenleben aus (MacIntyre 1988, Kap. 1; Taylor 1985, Kap. 1-3). Die liberale Suche nach einer ahistorischen, universellen Moral, könnte man sagen, wiederhole damit das kolossal gescheiterte Experiment Friedrichs II. von Hohenstaufen. Dieser ließ Neugeborene in sozialer Isolation heranwachsen um herauszufinden, was die Ursprache des Menschen sei. Doch anstatt von sich aus Arabisch, Griechisch, Hebräisch oder Latein sprechen zu lernen, verkümmerten die Kinder und verstarben früh. Ein zweites, methodisches Argument schließt direkt an das erste an. Denn wenn Moral als kulturgebunden anerkannt wird, dann erweisen sich im philosophischen Lehnstuhl vorgenommene Gedankenexperimente als völlig ungeeignet zur Identifikation von unparteiischen  Gerechtigkeitsprinzipien. Selbige müssten vielmehr in der Schnittmenge empirisch erhobener partikularer Moralvorstellungen lokalisiert werden. Womöglich lasse sich so eine ‚dünne‘ Moral auffinden, die Allgemeingültigkeit beanspruchen kann. Vielleicht darf die UN-Menschenrechtscharta diesen Status beanspruchen. Einerseits wäre dieser Konsens aber zu dünn, um darauf ein politisches Gemeinwesen aufzubauen; andererseits müsste bei einer solchen Schnittmengenmoral offengelassen werden, wie die einzelnen Prinzipien in den unterschiedlichen Kontexten jeweils begründet sind, wie sie konkret auszulegen seien und welche Vorrangregelungen im Konfliktfall einzelner Prinzipien untereinander herrschen (Walzer 1983, xiv, 5; Walzer 1994).

(2) Ein zweiter Kritikpunkt setzt am Menschenbild an. Das Individuum werde fälschlicherweise als Einzelgänger konzipiert, der einem weißen Blatt Papier gleiche, das vollkommen frei gestaltet werden könne. Im Konstrukt des hypothetischen Urzustands von Rawls werde dies besonders deutlich. Hinter dem „Schleier des Nichtwissens“ muss von allem, was einen ausmacht, abstrahiert werden – von der sozialen Stellung, der Religionszugehörigkeit, dem Geschlecht, den Vorstellungen des guten Lebens, und so fort. Aber Menschen könnten sich nie vollkommen von ihrer Sozialisation lösen. Aus normativer Sicht problematisch sei indes, dass ein partikulärer Lebensstil – das autonome Leben – zur charakterlichen Norm erhoben werde.

Alles irgendwie Ansozialisierte – von der Konfession bis hin zur Lokalidentität – müsse zur Disposition und systematisch infrage gestellt werden, sonst gälte man als jemand, der selbstverschuldet fremdbestimmt bliebe und damit ein weniger erstrebenswertes Leben lebe.

(3) Das wohl größte Manko liberaler Gerechtigkeitstheorien wurde in der Elimination jedweder moralischen Verpflichtung, die nicht universell besteht oder freiwillig eingegangen worden ist, gesehen. Sandel trug diesen Kritikpunkt prominent unter dem Stichwort des „unencumbered self“ vor, d.h. der Liberalismus gehe von der Annahme aus, dass das Individuum vor dem (logisch, nicht historisch gedachten) Eintritt ins Gesellschaftsleben moralisch ungebunden sei (Sandel 1996, insb. 341–344). Diese Beschreibung ist latent missverständlich. Genauer müsste zumindest gesagt werden, dass der Mensch nichts und niemandem als verpflichtet gilt, mit der Ausnahme dessen, was die universelle Moral gebietet. Der Nachsatz ist nicht unerheblich, denn Liberale erachten das, was überall und allzeit geboten ist schließlich als wesentlich reichhaltiger und umfassender, als es Kommunitarier zuzugestehen bereit sind. Folglich besteht der attestierte Fehler weniger in der normativen Ungebundenheit als vielmehr in der ursprünglichen Gebundenheit an die universelle Moral allein. Demgegenüber fordert die kommunitarische Kritik die Anerkennung von zusätzlichen, nicht-universellen und nicht-voluntaristischen Bindungen ein, denen Individuen Loyalität schulden.

Um ganz genau zu sein, besteht der Vorwurf aber letztlich darin, dass universellen („allgemeinen“) individuellen Verpflichtungen im Konfliktfall der Vorrang vor nichtuniversellen („speziellen“) eingeräumt wird. Es gibt beispielsweise eine allgemeine Hilfspflicht für Menschen in Situationen existenzieller Not. Im Rahmen einer Freundschaft ist es moralisch geboten, auch in nichtexistenziellen Situationen materielle oder emotionale Unterstützung zu leisten. Wenn nun zwei Menschen zu ertrinken drohen, so sei es für den Liberalismus unerheblich, ob einer davon ein Freund ist, da die allgemeine Hilfspflicht die spezielle sticht.

Es wäre falsch oder jedenfalls nicht moralisch richtig, zuerst den Freund zu retten. Ein wahrhaft tugendhafter Mensch, so trieb es Montesquieu einmal auf die Spitze, habe überhaupt keine Freunde, da Freundschaft zu Vorzugsbehandlung verleitet. Gemäß den kommunitarischen Kritikern liegen Montestquieu und der Liberalismus falsch. Insofern wir Freunde, Partner, Kinder von Eltern, Teile einer Kirchengemeinde oder Angehörige einer Nation sind, obliegen uns moralische Verpflichtungen, die gegenüber Außenstehenden nicht bestehen und die wir erfüllen müssen bevor wir uns um unsere Verpflichtungen gegenüber Dritten zu kümmern haben. Und den speziellen Verpflichtungsverhältnissen ist der Primat gegenüber allgemeinen gerade einzuräumen, obwohl (wenn nicht gerade weil) wir nicht freiwillig, vertragsgleich in selbige eingetreten sind, sondern gewissermaßen in sie hineingeworfen wurden. Die Konsequenzen der Priorisierung spezieller oder allgemeiner Verpflichtungen wirken sich substanziell auf die Struktur von Gerechtigkeitskonzeptionen aus. Besonders deutlich ersichtlich werden hinsichtlich der Frage, ob Gerechtigkeit nationalstaatlich oder kosmopolitisch realisiert werden muss. Kommunitarier haben hierzu eine eindeutige Meinung: Sie erachten Patriotismus, wie MacIntyre einen wichtigen Aufsatz zum Thema überschrieb, als eine Tugend (MacIntyre 1993).

Zur weiteren Untermauerung eines moralischen zwei-Stufen-Modells und damit der Rechtfertigbarkeit von nicht-universellen Verpflichtungen wurde einerseits auf den intrinsischen Wert von partikulären Gemeinschaften abgehoben. Insofern ein Familienverbund, eine Religionsgemeinschaft oder eine Nation an und für sich wertvoll sind, dann folgt direkt die Wünschbarkeit von nicht-universellen Verpflichtungen zur Aufrechterhaltung und Pflege dieser Assoziationen. Andererseits wurde argumentiert, dass die Identifikation mit einer partikulären Gemeinschaft eine besondere Motivation für moralisches Handeln liefere, weswegen ein zwei-Stufen-Modell dem einstufigen Universalismus instrumentell überlegen sei (siehe z.B. Hare 1981, 137).

Von ähnlich strategischer Natur sind zwei weitere Kritikpunkte. Einerseits wurde die Abstraktheit der liberalen Theoriebildung moniert, die konkrete Konflikte des Alltagslebens nachvollziehbar zu lösen kaum erlaube (Walzer 1983, 29, 91). Andererseits wurden dem Liberalismus selbstzerstörerische Tendenzen und Sozialunverträglichkeit attestiert. Nicht nur könne die einseitige Wette des Liberalismus auf die universelle Moral keine Identifikation der

Gesellschaftsmitglieder untereinander bewirken und Solidarität befördern; vielmehr müsse die Norm des autonomen Lebens, die Aufforderung zur kritischen Prüfung überkommener Traditionen und Wertvorstellungen, die Priorisierung von Gerechtigkeit über das Gute sowie von Rechten über Pflichten dazu führen, dass die Bürger zunehmend zu politikverdrossenen Privatmenschen erzogen würden, die individuelle Rechte gleich Trümpfen gegen Staat und Gesellschaft ausspielen (Sandel 1996, Kap. 9).

3. Reaktionen und Folgen

Die kommunitarische Kritik an der liberalen Theoriebildung verhallte nicht folgenlos. Grundsatzdivergenzen wurden zwar bald in gesonderten, bis heute geführten Debatten über Einzelfragen ausgetragen. Ob nicht-universelle Verpflichtungen, wenn sie denn zugestanden werden, universellen Verpflichtungen vor- oder nachzuordnen sind, wird beispielsweise heute

unter dem Stichwort der special obligations verhandelt. Die Frage, ob Moral kulturgebunden ist oder nicht, wurde weitgehend in die Universalismus-Partikularismus-Debatte verfrachtet.

Gleichwohl nahm gerade letztere Frage Rawls zum Anlass, seine Gerechtigkeitstheorie entsprechend anzupassen. Bereits 1980 schränkte er deren Geltungsanspruch primär auf liberaldemokratische Kulturkreise ein. Weniger die universelle Vernunft, sondern die dort vorherrschenden historischen Traditionen stelle die Grundlage für das Freiheits- und Differenzprinzip bereit:

„[W]hat justifies a theory of justice is not its being true to an order antecedent and given to us, but its congruence with a deeper understanding of ourselves and our aspirations and our realization that, given our history and our tradition embedded in our public life, it is the most reasonable doctrine for us“ (Rawls 1980, 518–519).

Andere Aspekte der kommunitarischen Kritik trafen einige liberale Theorien heftiger als andere. Während etwa Nozicks radikal-individualistische und libertäre entitlement theory nur schwerlich um die Annahme eines atomistischen Menschenbildes herumkommt, konnte Rawls problemlos zugestehen, dass Menschen Gemeinschaftswesen und das Produkt von Sozialisation sind. Tatsächlich waren ja schon in seiner Theory of Justice (1971) die hinter dem Schleier des Nichtwissens entindividualisierten Individuen als Familienoberhäupter konzipiert worden. Außerdem konnte er die Sozialnatur des Menschen gut zugestehen, da hieraus ja mitnichten ein  Emanzipationsverbot folgt. Vielmehr müssten sich die Kommunitarier fragen, wie sie akzeptable Gemeinschaftsnormen von inakzeptablen Formen von Intoleranz und Konformitätsdruck unterscheiden könnten, für die es historisch ja hinreichend Evidenz gäbe. Kommunitarier liefen Gefahr, das  Gemeinschaftsleben romantisierend zu verklären, wie es Amy Gutmann mit Verweis auf die Hochburg der amerikanischen Hexenverfolgung im späten 17. Jahrhundert pointierte: „[communitarians] want us to live in Salem, but not to believe in witches” (Gutmann 1985, 319). Schließlich legte man vor dem beschriebenen Hintergrund dar, dass die liberalen Gerechtigkeitskonzeptionen Menschen nicht auf das Ziel einer autonomen Lebensführung verpflichten wollen. Selbstbestimmung stelle keine charakterliche Norm, sondern ein Recht dar: jeder soll sich von überkommenen Wertvorstellungen, Traditionen oder sozialen Rollen lösen und frei zwischen unterschiedlichen Lebensplänen wählen dürfen.

Auch außerhalb des akademischen Diskurses stieß der Kommunitarismus auf Widerhall. Begünstigt war eine praktisch-politische Rezeption durch die konkreten Reformvorschläge, der die Kritik am Liberalismus zugeführt wurde und die von der (Wieder-)Einführung von Wehr- bzw. Dienstpflicht über die finanzielle und symbolische Unterstützung von Familien und Vereinen bis hin zur Demokratisierung der Arbeitswelt reichten. Durch den Zusammenschluss einiger Kommunitarier zu eine publizistischen Arbeitsgruppe (The Responsive Communitarian Movement) wurden diese Reformvorschläge weiter in die Öffentlichkeit und in die Politik hineingetragen. Tony Blair brachte Mitte der 1990er Jahre die kommunitarische Kritik gegen den neoliberalen Kurs Margaret Thatchers in Stellung, den er für die gesellschaftliche Fragmentierung verantwortlich machte. Auch Bill Clinton und Barack Obama integrierten die kommunitarisch(-republikanischen) Mantras vom Wert der  Gemeinschaftlichkeit und Bürgerpflichten in ihren Diskurs. Ebenso ließen sich deutsche Parteien unterschiedlicher Couleur inspirieren.

In der Zusammenschau erweist sich, dass die historische Relevanz des Kommunitarismus für die Disziplin der Politischen Theorie und die politische Praxis beachtlich gewesen ist. Der in den 1970er Jahren so überzeugend vorgetragene Liberalismus wurde punktuell sowie strukturell herausgefordert. Diese Herausforderung wurde von liberalen Denkern weitgehend angenommen und genutzt, um Aspekte ihrer Theorien zu klären und modifizieren, so dass in mancherlei Hinsicht eine konstruktive Synthese entstand. Insbesondere gilt dies für die institutionelle und identifikatorische Förderung von demokratischer Solidarität, wie es etwa mit dem Konzept eines multikulturellen, liberalen Nationalismus (z.B. Miller 2000) herausgearbeitet wurde. Weitere Synthetisierungsspielräume sind vorhanden. Der liberale Anspruch auf allgemeine Zustimmungsfähigkeit durch den Rekurs auf eine universelle Vernunft lässt sich beispielsweise besser mit der kommunitarischen Emphase auf Tradition zusammendenken, als es die häufig dichotome Darstellung dieser Grundlagen von Normativität suggerieren (siehe hierzu bereits Popper 1972).

Auch wenn sich dezidiert traditionalistische und moralisch partikularistische Spielarten des Kommunitarismus, wie jene MacIntyres, effektiv gegen eine Kooptation durch den Liberalismus widersetzen, erscheint somit die anfangs tentativ aufgestellte Analogie zu einer Leiter, die zum Erreichen eines höheren Standpunkts erklommen werden musste, als nicht gänzlich unpassend. Anzumerken ist allerdings, dass diese Leiter eher in der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte, als dem Kommunitarismus für sich betrachtet zu sehen ist, und dass sie nicht nur dem Liberalismus zur Standpunktverbesserung verhalf. Auch die traditionalistisch orientierte und die postkoloniale politische Theorie konnten ihre Positionen schärfen. Nicht zuletzt ging die (neo-)republikanische Tradition politischer Theoriebildung wiederbelebt aus der Debatte hervor, der sich einige dem Kommunitarismus zugeordnete Denker wie Sandel im Laufe der Zeit immer bewusster zurechneten. Der sich heute noch dringlicher als im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts stellenden Frage, worin die richtige Balance zwischen Individuum und Gemeinschaft, Freiheitsrechten und Solidarität, patriotischer Identität und kultureller Pluralität oder Nationalismus und Kosmopolitismus besteht, wird zukünftig damit in einem vielversprechenden Wettbewerb politiktheoretischer Perspektiven nachgegangen werden können.

 

 

Literatur

Dagger, Richard: Communitarianism and Republicanism. In: Gerald Gaus und Chandran
Kukathas (Hg.): Handbook of Political Theory. Thousand Oaks 2004.
Gutmann, Amy: Communitarian Critics of Liberalism. In: Philosophy & Public Affairs 14/3 (1985), 308–322.
Hare, Richard M.: Moral Thinking: Its Levels, Method and Point. Oxford 1981.
MacIntyre, Alasdair: Ist Patriotismus eine Tugend? In: Axel Honneth (Hg.) Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt 1993, 84–102.
MacIntyre, Alasdair: Whose Justice? Which Rationality? Notre Dame 1988.
Miller, David: Citizenship and National Identity. Oxford 2000.
Popper, Karl R.: Towards a Rational Theory of Tradition. In: Conjectures and Refutations. The Growth of Scientific Knowledge 41972. London, 120–135.
Rawls, John: Justice as Fairness. Political, Not Metaphysical. In: Philosophy & Public Affairs 14/3 (1985), 223–251.
Rawls, John: Kantian Constructivism in Moral Theory. In: Journal of Philosophy 77/9 (1980), 515–572.
Sandel, Michael: Democracy’s Discontent. America in Search of a Public Philosophy. Cambridge, Mass. 1996.
Taylor, Charles: Philosophical Papers. Bd. 2: Philosophy and the Human Sciences. Cambridge 1985.
 ocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika. 2 Bde [1835/1849]. Übers. Hans Zbinden. Zürich 1987.
Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Bd. 2: 1880-1935. Hg. von Bettina Clausen und Dieter Haselbach. Berlin/New York 2019.
Walzer, Michael: Spheres of Justice. New York 1983.
Walzer, Michael: Thick and Thin. Notre-Dame 1994.

Weitere Forschungsliteratur

Dworkin, Ronald: Taking Rights Seriously. Cambridge, Mass. 1977.

MacIntyre, Alasdair: After Virtue. Notre Dame 1981.

Nozick, Robert: Anarchy, State and Utopia. New York 1974.

Rawls, John: A Theory of Justice. Cambridge, Mass. 1971.

Sandel, Michael: Liberalism and the Limits of Justice [1982]. Cambridge 2010.

(Kann ich gerne erweitern)

 

Martin Beckstein, Beckstein, Martin (2021). Kommunitarismus. In: Festl, Michael G. Handbuch Liberalismus. Metzler / Springer, 321-328.

Online-Quelle (6-2023):

https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/208624/1/2020_Beckstein_Kommunitarismus.pdf