http://www.zeit.de/1994/40/Die-Macht-der-Bilder

aus: DIE ZEIT, 30.09.1994 Nr. 40 - 30. September 1994

Die Macht der Bilder

Wie die westdeutsche Mediengesellschaft die Demonstrationen gegen den SED-Staat beeinflusst hat

Von Jens Reich

Als ich im August das erste Mal das neue „Haus der Geschichte" in Bonn besuchte, fand ich dort eine Wand mit zahlreichen Bildschirmen, auf denen synchron Videoaufnahmen gezeigt wurden, die von öffentlichen Ereignissen im Herbst 1989 in der DDR berichteten: Demonstrationen, Fluchtbewegungen, Auftritte der Politiker. Auf einem Bildschirm in der Mitte lief ein Endlos-Video, das Reklamespots zeigte. Ich empfand das als Hinweis auf die Rolle, die die elektronischen Medien gespielt haben, und nebenbei noch als Anspielung darauf, welche Bedeutung die Vorspiegelung von Konsum für die Bewohner der DDR in ihren politischen Entscheidungen gehabt habe. Eine ganz zurückhaltende Version von Otto Schilys berühmter Banane, die er im März 1990 in die Kamera hielt, um anzudeuten, wer die Wahl gewonnen hatte. Ob die Aussteller das beabsichtigt haben, weiß ich nicht zu sagen; bei einem erneuten Besuch Anfang September habe ich die Reklamespots nicht mehr gesehen.

Jedenfalls war der Herbst 1989 in der DDR tatsächlich neben vielem anderen ein sehr sauberes soziales Experiment über die Wirkung der Medien in gesellschaftlichen Krisen. Besonders sauber in dem Sinne, daß hier eine ganze Bevölkerung unter Ausschaltung der Printmedien dem Informationsstrom der elektronischen Medien, besonders des Fernsehens ausgesetzt war. Im Unterschied zu den anderen Ländern des Ostblocks war der Einfluß allgegenwärtig und fand in der eigenen Sprache der Bevölkerung ohne alle Verfremdungseffekte statt, mit Ausnahme dessen, daß es eine Widerspiegelung „von draußen“ war.

Der Einfluß des Fernsehens war unglaublich. Die ganze Regie der Leipziger Demonstrationen mußte sich darauf einstellen. In der späteren, nicht mehr durch Gefahr gehemmten Phase war es so, daß die schwarzrotgoldenen Fahnen vor den Westkameras geschwenkt und dort die neuen Sprüche skandiert wurden. Die Kamerateams nahmen auf und verschwänden dann schleunigst, um noch für die Abendnachrichten zu überspielen. Viele Teilnehmer verloren dann das Interesse an der Kundgebung und hasteten nach Hause, um zu sehen, wie es „rüberkam". Es war wie auf der Multimedia-Show, wo man auf dem Bildschirm zeitversetzt sich selbst sieht, wie man Minuten vorher ins Foyer kam und die Eintrittskarte löste. Die Selbstbeobachtung erzeugte (wie stets in positiv rückgekoppelten Systemen) einen lawinenartigen Verstärkungseffekt. Hinzu kam, was die Neurophysiologen „laterale Inhibition" nennen: Die aufgeregte Darstellung der Ereignisse durch die Westmedien lähmte die Anhänger des Systems, nahm ihnen den Schneid, sich der Lawine entgegenzustellen. Schließlich gab es auch noch das Phänomen der „Irritation": (…) Bewohner bis in die fernsten Winkel der Provinz sahen zu, was in Leipzig und Berlin geschah, und wurden schließlich mitgerissen. Die massive Wechselwirkung zwischen tatsächlichem Ablauf und elektronischem Schein erreichte ihren Höhepunkt am 9. November, als buchstäblich die elektronische Verbreitung von Schabowskis Versprecher oder Krenz' Formulierungs-Blackout, oder was immer es war, die Mauern von Jericho zum Einsturz brachte.

Alle zukünftige Gesellschaftstheorie, aber auch jede machiavellistische Praxis wird in Zukunft die potentielle Wirkung dieses Wechselspiels und wirbelnden Ineinander-Übergehens zwischen Geschehen und Widerspiegelung in die Berechnung einsetzen müssen.

Es war der erste chemisch reine Großversuch für die These, daß gesellschaftliche Ereignisse tendenziell zu reinen Kommunikationsabläufen werden.  Die gleichzeitigen Umwälzungen in Prag oder Budapest, ebenso wie der gescheiterte Protest in Peking gehören noch in die vorelektronische Phase der Gesellschaftsgeschichte: Das Volk war noch nicht voll mit seiner ganzen Kultur verkabelt.

Wir müssen uns gleichzeitig vor Augen halten, daß die intensive Verkettung von bewegtem Bild und aufgestelltem Ereignis nicht nur eine Spirale nach oben, sondern mit gleicher explosiver Dynamik auch eine Spirale nach unten auslösen kann. Hätte ein energischer und gesunder Machthaber in jenen Tagen den Befehl zum Einsatz schwerer Waffen durchgesetzt, dann hätten das Entsetzen über das Blutvergießen und die Angst um die eigene Existenz lawinenartig gewirkt - wie die Begeisterung beim tatsächlichen Ablauf ansteckend wirkte. Dann hätte sich niemand mehr zur Freiheit bekannt, außer ein paar „Rädelsführern", die die Machthaber bei den Hammelbeinen ergriffen und öffentlich ihrer „gerechten Strafe" zugeführt hätten.

Die Einsicht in die alternative Dynamik des stark bewußtseinsrückgekoppelten Systems „moderne Mediengesellschaft" zeigt auch, wie haltlos die von westlichen Analytikern geäußerte Deutung ist, die Volksbewegung im Herbst habe mit ihren vorsichtigen, gewaltfreien Protesten lediglich eine spontane Implosion des Systems ausgelöst. Dahinter stehen ganz unterschiedliche Interessen: Manche wollen mir mit dieser These einreden, daß der Westen, beispielsweise mit seinem Nachrüstungsbeschluß, den ganzen Epochenwechsel geleistet habe; andere gönnen einer spontanen Volksbewegung nicht die geschichtsmächtige Kraft oder sehen sie nur als reaktionäres Kartell im Spiel, beispielsweise bei der deutschen Vereinigung. In der Tat, man hat jetzt leicht spotten über die bürgerbewegten Hänflinge mit ihren weißen Keine-Gewalt-Binden (…), vor allem im Fernsehen. 

Was von all dem bleibt, ist die Erinnerung an die Macht der Bilder, der geronnenen, merkwürdigerweise. Vom Platz des Himmlischen Friedens steht im Gedächtnis das unbewegte Bild mit dem einsamen jungen Mann, der mitten auf der Straße eine Kolonne Panzer aufhalten will. Der Panzer hält an, zögert, setzt zurück und umfährt ihn. Und dann noch der Platz mit den zerfetzten Zelten und den herrenlosen Fahrrädern. Vom rumänischen Dezember steht ebenso statisch die vom Zuwinken in erschrockene Abwehr übergehende Geste Ceausescus von der Brüstung herab in die tobende Menge. Vaclav Havel und Alexander Dubcek nebeneinander auf dem Balkon des Wenzelplatzes: Triumph des Augenblicks, jedoch in der Rückerinnerung der Auftritt von lauter zukünftigen Verlierern.

Wir werden in aller Zukunft geschichtliche Singularitäten in zwei Gestalten erleben: als Geheimkungelei hinter den Kulissen, während auf die Leinwand ablenkende Videosprojiziert werden, oder als Sittendrama auf der Bühne, von Kameras in virtuelle Realität umgesetzt, aus Pixeln zusammengefügt und damit um so wirkmächtiger.  Altmodische Revolutionen wird es nicht mehr geben.

    Jens Reich, Professor für Molekularbiologie in Berlin, gehörte zu den frühen Bürgerrechtlern in der DDR und zu den Gründern des Neuen Forums