„Spät-Neuhochdeutsch” – neuere Sprachgeschichte „von unten“
2023
Sprache ist ein kulturelles und damit historisch wandelbares Kommunikationsmedium. Neben den regionalen Mundarten gab es in der Geschichte des deutschen Sprachraumes das Kirchen-Latein als Bildungssprache und in der frühen Neuzeit das Französische als Bildungssprache des europäischen Adels. Vier Jahrhunderte lang – beginnend im 16. Jahrhundert - dominierte das Neuhochdeutsche der (Bildungs-)Bürger.
Neuhochdeutsche Sprachgeschichte von oben (16.-20. Jahrhundert)
Mundarten blieben war die erste Sprache in einer stark ständisch gegliederten Gesellschaft. Was im Druck erschien, trug das Gütesiegel des Berufsstandes der Druckerei-, Verlags- und Zeitungskorrektoren. Seit dem 17. Jahrhundert widmeten sich akademische Sprachgesellschaften der Durchsetzung einer bestimmten Sprachform als dem „richtigen“ Deutsch.
Johann Christoph Gottsched (1700-1766), der als .Literaturpapst' großes Ansehen genoss, versuchten die Sprache zu normieren und einer strikt rational begründeten Regelhaftigkeit zu unterwerfen. Die österreichische Kaiserin Maria Theresia entschied 1750, dass an Österreichs Schulen die Sprache Gottscheds gelehrt werden sollte, um den aufklärerischen Geist auch nach Österreich zu bringen. Die klassische Literatursprache ihrerseits wurde - vor allem durch Schiller und Goethe, deren Werke seit dem 19. Jahrhundert als nationales Eigentum galten - zur kulturellen Vorbildsprache schlechthin. Aber: Goethe reimte beispielsweise noch Bereiche auf Gezweig. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts trat neben die normierte Schreibung die normierte Lautung.
Noch 1862 ordnete das preußische Unterrichtsministerium an, dass jede einzelne Schule per Konferenzbeschluss festzulegen habe, welche Schreibnormen im Unterricht gelten sollten. Fünf Jahre nach der Reichsgründung von 1871 berief der preußische Kultusminister eine Conferenz zur Herstellung größerer Einigung in der deutschen Rechtschreibung nach Berlin.
Die volkstümlichen Dialekte verlieren ihre Verbreitung aufgrund der zunehmenden Mobilität, Dialektgebiete verlieren ihre Geschlossenheit. Es kommt zu einer Angleichung der Dialekte an die Standardsprache.
Entscheidend sind die Massenmedien – seit 1890 erscheinen Massenzeitungen in neuhochdeutsche Schriftsprache. Nachrichtenmeldungen und dann der Rundfunk pflegt eine „konzeptionellen Schriftlichkeit“.
Die Dialekte verschwanden weitergehend, vollkommen verschwanden sie mit der Medienentwicklung im 20. Jahrhundert – im Fernsehen lernten alle, die nicht (viel) lesen möchten, die vereinheitlichte Sprache. Heute noch verlernen Kinder ihre mütterlichen Sprachen - in Österreich über das Fernsehen (und weitere elektronische Medien) lernen sie hochdeutsch und in Schweden z.B. englisch.
Spätneuhochdeutsch „von unten“
Noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts gab es auf der kulturpolitischen Linken den „Adorno-Jargon“, auf der konservativen Seite den Jargon von Goethe oder Heidegger, beides waren elitäre, exklusive Sprach-Normen. Aber die bildungsbürgerliche Schichtung der Gesellschaft verlor im Prozess der Demokratisierung im 20. Jahrhundert an Bedeutung, die Rolle von akademischen Sprachvorbildern schwindet.
Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ist eine Sprachentwicklung von unten zu beobachten. Spielfilme oder Daily Soaps, Livesendungen, Talkshow pflegen eine „konzeptionellen Mündlichkeit“ mit einer einfacheren Grammatik und einem populären Wortschatz. Als derb, schmutzig oder unanständig empfundene Wörter werden nach und nach mit einem verallgemeinerten Sinn salonfähig, zum Beispiel das Adjektiv „geil“.
Mit den sozialen Medien verstärkt sich der Prozess „von unten nach oben“ in der Sprachentwicklung. Worte aus der Alltagssprache, die für bildungsbürgerliche Schichten tabu waren, setzen sich durch. Die Bedeutung von Worten wird ausgeweitet („Rassistisch“).
Das Gendern ist ein Prozess, der von den Nutzerinnen elektronischer Medien getrieben wird und von konservativen Liebhabern der deutschen Sprache eher ablehnend betrachtet oder unwillig übernommen wird.
In der elektronischen Kommunikation entwickelt sich ein „Cyberslang“, der in die Alltagssprache eindringt.
Weitere Einflüsse:
1. Stadt Berlin ist mit ca. einer Million türkischer Einwohner die weltweit viertgrößte türkische Gemeinde (nach Istanbul, Ankara und Izmir). Auf den Schulhöfen verbreiten sich Einflüsse von „Kanak Sprak" (Zaimoglu 1995).
2. Globalisierung - der Anglo-amerikanische Einfluss nimmt zu. Um die systematische Benachteiligung muttersprachlich deutscher Teilnehmer an der globalen Kommunikation zu beenden, wäre die Einführung von Englisch als „zweiter Muttersprache“ im Kindergarten erforderlich. 3. Da auch die Wissenschaftssprache zunehmend englisch wird, verliert das Hochdeutsche wichtige akademischen Verfechter. Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaftler (wie Jürgen Trabant) stehen auf verlorenem Posten.
Literaturhinweise: Den Begriff „Spät-Neuhochdeutsch“ prägte im Jahre 2002 Hartmut Schmidt: Schmidt, Hartmut Frühneuhochdeutsche Zustände im Spätneuhochdeutschen? In: Das Wort. Seine strukturelle und kulturelle Dimension. Festschrift für Oskar Reichmann zum 65. Geburtstag (2002) Jochen A. Bär. Die Zukunft der deutschen Sprache (in: Sprache, Heidelberger Jahrbücher, HJB, Bd. 53, 2009) Jürgen Trabant, Sprachdämmerung. Eine Verteidigung (2020)
siehe auch meine Blog-Texte Eine deutsche Schrift-Sprache entsteht MG-Link Matthias Heine über die Männer, die die deutsche Sprache machten MG-Link Sprachpolitik 1789 MG-Link Potential des Mediums Schrift MG-Link Bemerkungen zu Basil Bernstein MG-Link
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