Gibt es ein „weibliches“ Gehirn?
2022
Bestseller wie das Buch der Neurobiologin Louann Brizendine „Das weibliche Gehirn: Warum Frauen anders sind als Männer“ (2008) oder das Buch „Das Eva-Prinzip. Für eine neue Weiblichkeit” (2006) der Tagessschau-Moderatorin Eva Herman zeigen vor allem eines: Der Streit über „Biologie oder Kultur“, über weibliches und männliches Gehirn gehört zu den kulturellen „Techniken des Selbst“.
Gustave Le Bon, der Begründer der Sozialpsychologie, hat 1879 sozialpolitische Folgen abgeleitet aus der Unterschiedlichkeit der Gehirngrößen, die Pierre Paul Broca bei Steinzeitfunden feststellte:
„Zweifellos existieren einige hervorragende Frauen, dem durchschnittlichen Mann sehr überlegen“, schrieb er. Die „offensichtliche Unterlegenheit“ der Frauen selbst in der Pariser Bevölkerung könne aber „niemand auch nur für einen Moment bestreiten“, denn deren Gehirne würde „vom Volumen eher denen von Gorillas ähneln als dem am weitesten entwickelten Männergehirn“. Le Bon erweiterte den Gedanken zu einer Theorie über die „Infériorité intellectuelle des femmes“. Damit argumentierte er gegen die zeitgenössischen Bestrebungen zur Emanzipation der Frauen: Die Erziehung der Frau müsse ihrer Berufung (vocation) angemessen sein, die darin bestehe, Kinder groß zu ziehen (élever des enfants). Die Wissenschaften seien Sache der Männer. Die Zeitgenossen, die sich für eine gleiche Bildung der Frauen engagieren – damals auch die Republikaner – würden die „Natur der Frau“ ignorieren. Die Gleichberechtigung sei eine „chimère dangereuse”, die den Frauen „ihren Wert, ihre Nützlichkeit und ihren Charme” nehmen würde: „Le jour où, méprisant les occupations inférieures que la nature lui a données, la femme quittera son foyer et viendra prendre part à nos luttes, ce jour-là commencera une révolution sociale où disparaîtra tout ce qui constitue aujourd'hui les liens sacrés de la famille.” („Der Tag, an dem die Frauen ihre Beschäftigung, die die Natur ihnen gegeben hat, als minderwertig betrachten, an dem Tag beginnt eine soziale Umwälzung, mit der alles, was heute die heiligen Bande der Familie ausmacht, verschwinden wird.”)
G. Le Bon, 1 Recherehes anatomiques et mathematiques sur !es lois des variations du volume du cerveau et sur leurs relations avec l'intelligence. Revue d'Anthropologie, 2nd series, vol. 2, pp. 27-104 (1879) G. Le Bon, La psychologie des femmes et les effets de leur éducation actuelle, Revue scientifique, 1890.
Das Beispiel zeigt: Es ging ihm um das alte Familienbild. Le Bons Argumente spiegeln die Krise der Männlichkeit um die Wende zum 20. Jahrhunderts, die der Historiker Philipp Blom beschrieben hat.
Methodische Probleme
Psychologische Experimente über Auswirkungen des zyklischen Hormonspiegels sagen zwar, dass es grundsätzlich hormonelle Einflüsse im Gehirn gibt, lassen aber keine eindeutigen Aussagen darüber zu, wie wichtig diese sind für kulturelle Bilder von Weiblichkeit oder Männlichkeit. Und Tierversuche sagen nichts darüber, wie sehr die „tierischen“ Ursprünge des Menschen durch ihre Kultur überformt wird.
Für die Unterschiedlichkeit von Menschen gibt es verschiedene geschlechts-unspezifische Worte:
- extrovertiert
- in sich gekehrt, empfindsam, verletzlich
- Prokrastination (Aufschieber und Macher)
- kommunikativ
- dominant, durchsetzungsfähig
- schüchtern, einfühlsam, empathisch
- resilient
Psychologische Tests ergeben: Die Unterschiede zwischen einzelnen Menschen sind größer als „typische“ statistische Unterschiede zwischen Frauen und Männern.
Erzählung über die evolutionär-biologische Besonderheit des Weiblichen/Männlichen sind nicht willkürliche Erfindungen der Kultur. Die biologische Eindeutigkeit von männlich und weiblich hat große kulturelle Bedeutung. Sozialstrukturen des Menschen organisieren sich nach den Erfordernissen der Fortpflanzung. Afrikanische Sprichwort, es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen, aber auch in diesen Dörfern ist Vater-Mutter-Kind eine starke Sozialfigur.
Diese Erzählungen gewinnen ihre Plausibilität gerade daher, dass sie biologisch verwurzelt sind.
Wenn das Empfinden des eigenen Leibes als „Körperselbst“ den Kern des Selbst ausmacht, dann spielt die geschlechtsspezifische Biologie eine große Rolle. Das Bewusstsein über das Körperselbst ist ein sprachlich-kulturell wahrgenommenes Selbstbildnis, es gehört zur Sphäre der Kultur. Es gibt eine Kulturgeschichte der Selbst-Wahrnehmung.
Was Frauen- und Männer-Hirne unterscheidet
Es gibt keine speziellen geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Großhirnrinde - in dem Bereich des Gehirns, der uns zu intelligenten Wesen macht, Sprache, logisches Denken und komplexe Sinneswahrnehmungen. Aber:
- Es gibt den Nucleus präopticus medialis, einen kleinen Nervenzellkern - evolutionär sehr alt.
Bei allen Säugetieren ähnlich, Funktionen basal, instinktiv. Der Nucleus präopticus medialis ist bei Männern mehr als doppelt so groß wie bei Frauen.
Er gehört zum menschlichen Sexualzentrum, steuert „typisch männliches“ Verhalten und verschaltet: Dominanz, Aggression und den Sexualtrieb. Frauen haben diese Schaltzentrale dagegen nicht. Bei ihnen sind Dominanz, Aggression und Sexualtrieb entkoppelt und werden von verschiedenen Nervenkernen im Zwischenhirn gesteuert.
Evolution des Kleinhirns in Relation zum Großhirn
Zu Beginn des dritten Schwangerschaftsmonats entwickelt der Fötus seine Keimzellen: die Eierstöcke beim Mädchen, die Hoden beim Jungen. Das Y-Chromosom des männlichen Embryos meldet über Botenstoffe an das Gehirn der Mutter, dass er Testosteron braucht, um sich zum Jungen zu entwickeln, und baut Andockstellen für das Hormon auf. Homosexuelle Männer haben schon als Fötus einen deutlich kleineren Nucleus präopticus medialis als ihre heterosexuellen Geschlechtsgenossen. Umgekehrtes gilt für lesbische Frauen. Auch zur Erklärung von Intersexualität vermuten Wissenschaftler, dass es zu einer veränderten Kommunikation zwischen dem Embryo und dem hormonellen System der Mutter gekommen ist - in unterschiedlicher Ausprägung betrifft das ca. 5 Prozent der Embryos.
- Hormone spielen eine große Rolle – bei Frauen verändert sich z.B. mit den Phasen des Menstruations-Zyklus die Realitätswahrnehmung
- Auch das Stresshormon Cortisol spielt eine Rolle. Ein hoher Cortisolspiegel steigert die Angst vor Schmerz und Bedrohung. Testosteron hemmt das Stresshormon Cortisol. „Vernünftig” wäre es also, wenn Menschen mit einem höheren Cortisolspiegel vorsichtiger sind und lieber bei Menschen bleiben, die ihnen vertraut sind. Und früh lernen, mit anderen friedlich zu kommunizieren, aufmerksamer gegenüber Mitmenschen zu sein.
So könnten sich die statistisch besseren kommunikativen Fähigkeiten von Frauen erklären lassen, denn es gibt kein besonders ausgeprägtes „weibliches“ Sprachzentrum.
Aber: Welche Fähigkeiten mensch im Laufe seines Lebens entwickelt und ausbaut, liegt an der Sozialisation. Ob das „vorsichtige” Verhalten wirklich realitätsangemessen ist, hängt davon ab, in welcher Realität der Mensch sozialisiert worden ist und sich bewegt.
Jedes Hirn ist ein „einzigartiges Mosaik" - eine klare Geschlechtszuordnung ist nicht möglich.
Erzählungen über Weiblichkeit formen männliches und weibliches Verhalten, also das, was sie erklären sollen. Die Persönlichkeit des Menschen lässt sich nicht mit Hirnscannern ausleuchten. (Das wäre so, als würde im Kupfer eines Iphone Hinweise auf den Inhalt der Gespräche suchen.)
siehe auch https://www.youtube.com/watch?v=oHJhN2vATRs
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