Klaus Wolschner                         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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III
Medien-
Theorie

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

3 AS neu 200

ISBN 978-3-7418-5475-0
im Buchhandel oder beim Autor  klaus(at)wolschner.de

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche Wirklichkeits-Konstruktion im „Jahrhundert des Auges“

3 VR neu 200

ISBN 978-3-7375-8922-2
im Buchhandel oder beim Autor  klaus(at) wolschner.de

Wunder des Sehens
 
Zur Biologie des Augensinns: Sehen ist Aktivität. Zur Neurobiologie des gesehenen Sinns.
Was Frösche sehen, wie Affen ihre Welt sehen,
und wie Säuglunge unsere Menschenwelt zu begreifen und sehen lernen

 2016 AS 1

Ein Blick auf die Evolution des Lichtsinnes macht die vielfältigen Möglichkeiten der Natur deutlich, elektromagnetische Wellen wahrzunehmen und mit Sinn zu versehen. Schon Pflanzen orientieren sich nach dem Licht. Regenwürmer können mit einzelnen unter der Haut verstreuten Sinneszellen feststellen, ob es hell ist – oder ob sie noch unter der Erde sind. Geißeltierchen sind die ältesten Lebewesen und heute noch in Tümpeln und stehenden Gewässern zu finden. Sie orientieren sich am Licht, sie haben einen augenähnlichen dunklen Fleck, der das Pigment Carotin enthält. Bei guten Lichtverhältnissen können sie sich wie Pflanzen mit Hilfe von Photosynthese ernähren.

Das Registrieren von hell-dunkel, das Richtungssehen und schließlich das Konturen- und Bewegungssehen erfordert noch keine abbildenden Organe. Einzelne Schnecken-Arten orten mit „Grubenaugen“, woher das Licht kommt. Die in Deutschland vorkommenden Schildzecken haben keine Augen, sondern einen allgemeinen Lichtsinn, mit dem sie sich auf dem Weg nach oben orientieren. Hindernisse und Bewegungen nehmen sie mit Chemorezeptoren an den Vorderbeinen und ihren Tasthaaren wahr. So verharren sie über lange Zeit auf einem Ast, um sich auf ein Zeichen ihres Geruchssinnes fallen zu lassen. Ihre „Opfer“ erkennt die Zecke am Geruch, am Kohlendioxid und an der Körperwärme.
Biologie des Seh-Sinnes



Biologische Modellskizze des Sehens.

Um die naturwissenschaftliche Rekonstruktion der
Verarbeitung optischer Sinnesreize zu verstehen,
muss man heute schon
Biologie studieren.

 

 

 

 

 

 

 

 

Scharfsichtige Vögel nehmen Konturen und Bewegung wahr. Hühner etwa reagieren auf eine kreuzförmige Attrappe fluchtartig, wenn diese Attrappe sich bewegt und zwar mit dem kurzen Ende des Kreuzes in Bewegungs-Richtung. Nicht so, wenn das lange Ende vorne ist  - offenbar sagt ihnen ihr Instinkt, dass Vögel mit langem Hals für sie harmlos sind. Bei der Weinbergschnecke ist die Grubenöffnung klein – dadurch können, wie bei einer Camera obscura, „Bilder“ auf der Augenrückseite entstehen. Tintenfische können das Bild auf ihrer Netzhaut scharf stellen, indem sie die Linse vor oder zurück bewegen.

So haben sich seit mehr als 500 Millionen Jahren verschiedene Augen-Typen entwickelt – angetrieben von dem großen evolutionären Vorteil, Gefahren oder Beute besser und auf Distanz erkennen zu können. Nicht alles lief da auf das menschliche Auge zu, die Evolutionsgeschichte kennt vielfältige Formen. Zum Beispiel die Fledermäuse. Flughunde jagen tags, die ihnen verwandten Fledermäuse nachts. Fledermäuse konstruieren nicht aus den Licht-Reflexionen, sondern vor allem aus den Schall-Reflex der Oberflächen ihr „Welt-Bild” (siehe M-G-Link) Flughunde haben sehr gute Augen, bei Fledermäusen sind die für das Farbsehen erforderlichen Zapfen degeneriert. Mit ihren Stäbchen können sie bei geringen Lichtintensitäten hell und dunkel unterscheiden und bewegte (feindliche) Objekte gut erkennen. In Südamerika, wo die Blüten in den Regenwäldern UV-Licht gut reflektieren, haben die „Langzungen-Fledermäuse“ an den Stäbchen eine UV-Sensibilität neu entwickelt: Sie fangen das ultraviolette Licht über das Rhodopsin ihrer Stäbchen ein.

Im Gegensatz zu Vögeln und niederen Wirbeltieren haben höher entwickelte Säugetiere im Verlauf der Evolution die Fähigkeit zur Wahr-nehmung ultravioletter Strahlung verloren. Von den ursprünglich vier farbsensiblen Zapfenpigmenten der Wirbeltiere besitzen Säugetiere nur noch zwei. Bei den Primaten hat sich ein drittes Zapfenpigment entwickelt.

Greifvögel haben ein feineres Raster der Netzhaut als der Mensch und sehen ein achtfach vergrößertes Bild. Reptilien hatten in langen Phasen der Evolution ein „drittes Auge“ im Schädeldach, das als Lichtmesser nach oben funktioniert hat. Klapperschlangen haben zwischen Augen- und Nasenöffnung Zellen, die äußerst sensibel auf infrarote Wärmestrahlung reagieren – sie können damit auf einen Meter Entfernung  eine Maus in tiefer Dunkelheit wahrnehmen. Riesenschlangen (Pythons) und Klapperschlangen haben neben ihren Augen auch „Infrarotaugen", mit denen sie die Wärmestrahlung ihrer warmblütigen Opfer sehen.

Was das Froschgehirn vom Froschauge wissen will

Zum Verständnis der visuellen Wahrnehmungs-Prozesse eignet sich die alte, von Jerome Lettvin 1959 erstmals beantwortete  Frage, was das Froschgehirn vom Froschauge wissen will. Das Froschgehirn „kennt” und erkennt nämlich keine speziellen Objekte oder Formen, es selektiert aus der visuell vom Froschauge wahrgenommenen Umwelt vier Typen von Phänomenen: 
- plötzliche Veränderungen der Lichtverhältnisse (die darauf hindeuten, dass sich ein Storch nähert oder ein kleines Objekt vor seinen Augen tanzt - eine Fliege), 
- deutliche Kontrastlinien (die zum Beispiel erkennen lassen, wo der Horizont ist), 
- Ränder, die sich bewegen (die zum Beispiel etwas über die Bewegungen des Storches aussagen), und 
- die Randkrümmung kleiner, dunkler Objekte (quasi also Insekten-Detektoren)
Das Froschauge kennt keinen Bereich der größten Sehschärfe, auf die er einen Teil des Bildes zentrieren müsste, seine Linse lässt ihn nur scharf sehen, was in 15 Zentimetern Abstand - und also in Reichweite der Zunge - ist. Der Frosch kann seine Augen nicht drehen, nur seinen ganzen Kopf. Sein Froschgehirn kompensiert äußere Körperbewegungen aktiv, etwa wenn er auf einem schaukelnden Wasserlilienblatt sitzt: Bewegung sieht er, wenn es Bewegung seiner äußeren Umwelt ist. Inmitten von unbeweglich dasitzenden Fliegen würde ein Frosch verhungern. Die eingebaute Selektivität seiner Wahrnehmungsweise spart aber Energie. Der Frosch kann schnell und zuverlässig reagieren - kein Mensch kann bekanntlich mit dem Maul eine Fliege fangen. Der Frosch nimmt so von seiner Umwelt das wahr, was für sein Überleben wichtig ist.

Die Evolution des bildhaften Sehens begann erst mit der Entwicklung des Großhirns vor rund 30 Millionen Jahren. Wobei das primäre Sehzentrum (Thalamus) offenbar weiterhin funktioniert: Primaten, denen die Hirnrinde entfernt wurde, können größere bewegte Gegenstände mit den Augen verfolgen und ihnen sogar ausweichen. Kleinkinder, die bei der Geburt Sauerstoffmangel litten und deren Sehzentren im Cortex davon beeinträchtigt sind, können Bewegungshindernisse sehen und ihnen ausweichen. Ihre stammesgeschichtlich älteren subcortikalen visuellen Verarbeitungsprozesse sind offenbar nicht beeinträchtigt. Beim gesunden Menschen arbeiten beide Systeme eng zusammen und erst die sekundären (cortikalen) Sehzentren im Großhirn verarbeiten die visuellen Reize so, dass wir Details identifizieren können und den Eindruck eines bewusst wahrgenommenen Abbildes haben. Dieser Schritt vom visuellen Reiz zum bewusst wahrgenommenen Bild von der Umwelt bedeutet viel Arbeit für die Sehzentren des Gehirns.

Das Unbewusste beansprucht 90 Prozent des Gehirns, sagt der Biologe  Gerhard Roth. Der menschliche Wahrnehmungsmechanismus hat eine begrenzte Kapazität, insbesondere sein bewusster Teil, das Bewusstsein, ist träge. Das Gehirn kann zum Beispiel einen visuellen Reiz, der 60 Millisekunden andauert, registrieren. Weitere 40 Millisekunden später hat das Gehirn eine unbewusste Bewertung des Reizes vorgenommen, die das Verhalten beeinflussen kann - lange bevor die Teile des Gehirns, die Bewusstsein herstellen, „anspringen". 

Schon in der Netzhaut werden aufgenommenen Lichtsignale „vorsortiert“: Unterschiedliche Ganglienzellen reagieren auf die Eigenschaften der gesehenen Bilder, Informationen über Kontrast, Farbe, Bewegungsrichtung, die Lage von Kanten und ihrer Orientierung werden über getrennte Kanäle ans Gehirn weitergeleitet. Bei Mäusen konnten Tübinger Neurowissenschaftler bis zu 40 verschiedene Typen von Ganglienzellen in der Netzhaut unterscheiden. Gut eine Viertelsekunde braucht unser Gehirn, um für einen Stimulus Sinn gebende Informationen zu konstruieren und eine erste bewusste Wahrnehmung  zu gestalten. Die Sehzentren sortieren die Reflexionsspektren der Lichtwellen zu Farbeindrücken, schätzen Entfernung und Bewegungsrichtung und korrelieren damit die Größe. Aus der Erinnerung werden assoziative Gehalte zum Vergleich herangezogen. Das limbische System nimmt eine emotionale Bewertung vor, freundliche oder feindlich, angenehm oder unangenehm, gut oder böse. In dieser kurzen Zeit leistet das Gehirn vorbewusste Arbeit, um den Strom neuronaler Impulse zu sortieren und so zu modellieren, dass daraus eindeutige Signale werden, die uns als Sehen und Fühlen bewusst werden können und mit Laut-Worten stabilisiert werden.

Säugetiere und Menschen können ihren Blick auf still stehende Objekte fixieren, weil ihre Augen eine feine Zitterbewegung ausführen (Sakkaden). Wenn man diese Sakkaden beim Menschen durch Lähmung der Augenmuskeln experimentell ausschaltet, „sehen“ diese Menschen nur einen hellen Nebel, in dem bewegte Konturlinien klar sichtbar auftauchen. Offenbar ist bei Schwerelosigkeit die Frequenz der Sakkaden höher – Astronauten sehen mehr Details als Erdenbewohner. Schon Astronaut John Glenn, der erste Mensch im Orbit, schwärmte 1962 von der aufregenden Schärfe, mit der er aus seiner Kapsel die Erdoberfläche sehen konnte.

Das menschliche Auge ist optimiert für einen vergleichsweise winzigen Ausschnitt aus dem Frequenzbereich der Sonnenstrahlung – den, der in der Lage ist, bis auf die Erde hindurchzustrahlen. Licht ist das, was für uns sichtbar ist. Unter Wasser sehen wir alles verzerrt, weil die Verarbeitung der visuellen Reize im Gehirn dem Brechungsindex der Luft und nicht dem des Wassers angepasst ist. Das menschliche Gehirn verarbeitet das Frequenzspektrum, das an der Erdoberfläche „normal“ ist, als farblos weißes Licht. Nur Abweichungen sind uns als „Farbe“ bewusst. Und das Nervensystem filtert das „Rauschen“ aus den eingehenden Sehreizen heraus: Nur wenn innerhalb kurzer Zeit mehrere benachbarte Sehzellen gereizt werden oder wenn wir ein Detail-Objekt mehrfach fixieren, registriert das Nervensystem eine Lichtempfindung. Die Signale des Netzhaut-Bildes werden dabei an fast ein Dutzend verschiedene Zentren in der Großhirnrinde weitergeleitet, die ihre Analyse synchronisieren müssen. Zwei Ereignisse müssen einen Zeitabstand haben, um als zwei getrennte wahrgenommen zu werden. Mehr als 16 Lichtblitze pro Sekunde werden als kontinuierliche Helligkeit wahrgenommen.

Sehen ist Aktivität

Die biologischen Sinnesorgane selektieren die wahrnehmbaren Signale der Umwelt. Wahrnehmung ist kein passiver Reizempfang, kein passives Abbilden einer gegebenen Außenwelt, sondern ein aktives und selektives Reiz-„nehmen“. Ein Fledermaus-Gehirn nimmt eine andere Realität wahr als ein Ratten-Gehirn, als ein Frosch oder ein Schwarm Honig-Bienen. Auch das menschliche „Sehen” ist selektiv und wählerisch.

Die Netzhaut mit ihren 100 Millionen Stäbchen und 6 Millionen Zapfen ist nicht für das bildliche Sehen konstruiert. Ein scharfes Bild ist nur im Zentrum auf einer Fläche von 0,2 x 0,2 Millimetern möglich, während die restlichen sechs Quadratzentimeter der Netzhaut nur eine geringe Sehleistung haben. Die Bereiche außerhalb des Zentrums haben eine hohe Lichtempfindlichkeit – die Peripherie der Netzhaut dient dem „Alarm“-Sehen und dem Bewegungssehen.

Die menschliche Netzhaut hat nur in der Mitte eine kleine Stelle des scharfen Sehens, die „Netzhautgrube“ (Fovea). Scharf können wir nur ein Objekt etwa von der Größe eines Daumen-Nagels im Abstand einer Armlänge sehen. Auf der Netzhaut stellt sich das restliche visuelle Bild verschwommen dar. Wir haben das Gefühl, ein Bild als Ganzes mit den Augen zu sehen, unbewusst macht das Auge aber Blicksprünge, um die Elemente des Bildes, die interessant erscheinen, zu fixieren. Die Intensität und Schnelligkeit dieser Blicksteuerung hängt von der Aufmerksamkeit ab. Die Netzhaut sendet die auftreffenden Licht-Impulse als neuronale Aktivierungsmuster weiter – an die Großhirnrinde. Der Sehnerv ist ein biologisches „Kabel“, das aus mehr als einer Million Nervenzell-Fortsätzen besteht. Erst Im Gehirn werden die Signale in „überflüssige“ und  „bedeutsame“ Signalen, die Sinn machen, eingeteilt, erst das Gehirn setzt die Ergebnisse der flackernden Blicksprünge zu einem Gesamtbild zusammen. Hochspezialisierte Nervenzellen in der Großhirnrinde „entscheiden“, ob ein visueller Reiz wahr-genommen wird oder nicht. Aus dieser Fülle werden einige Reize entnommen, die Bedeutung haben könnten. Jedes Erkennen setzt die Selektion und Strukturierung der Reiz-Fülle voraus, mit der sich der Geist auch vor einer Überschwemmung mit mutmaßlich unnützen Informationen schützt.

Technisch gesagt „registriert“ das menschliche Gehirn pro Sekunde bis zu 100 Megabytes - unbewusst. Dazu zählen akustische und visuelle Sinnes-Eindrücke wie Gerüche, Geschmacks- und Berührungsreize. Verarbeitet und bewusst wahrgenommen wird nur ein winziger Bruchteil davon. Wir kennen das Phänomen aus einem vollen Saal, in dem Dutzende von Menschen reden oder Lärm machen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf eine bestimmte „Lärm“-Quelle richten, blendet unser Wahrnehmungs-System vieles von dem, was sonst auf unser Ohr trifft, aus. Es muss ein akustischer Reiz schon sehr laut sein oder überraschend, um unsere Aufmerksamkeits-Steuerung abzulenken. Aufmerksamkeit kann mehr oder weniger bewusst sein. Dies gilt auch für die visuellen Reize.

Aus dem „gesehenen“ diskontinuierlichen und zweidimensionalen Netzhautbild macht das Gehirn eine gegliederte dreidimensionale Umwelt mit klaren Formen und Farben und drängt damit gleichzeitig dem Verstand interpretierende Wahrnehmungs-Hypothesen auf. Die Experimente der optischen Täuschung sind beredtes Zeugnis dafür. 

Dass der optische Seheindruck der Netzhaut im Gehirn „gedreht“ wird, lässt sich experimentell direkt bestätigen: Wenn man längere Zeit eine spezielle Brille trägt, die den optischen Seh-Eindruck um 180 Grad dreht, also die Drehung durch die Sehzentren „überflüssig“ macht, dann schaltet der Mechanismus ab. Setzt man die Brille ab, sieht man die Welt auf dem Kopf – also optisch „richtig“. Das Gehirn braucht einige Zeit, um seine normale Funktion wieder zu aktivieren. Das Gehirn verrechnet seine Informationen über die Drehungen des Augapfels mit den visuellen Reizen: Wenn ein Patient mit Augenmuskel-Lähmungen sich entschließt, die Augenmuskeln zu bewegen, wird das schon präventiv ans Gehirn gemeldet – solche Patienten sehen dann Doppelbilder. Das Sehzentrum verrechnet genauso die Bewegungen des Halses. Wenn ich den Kopf zur Seite neige, bleibt das Bild, auf das ich blicke, ungeneigt.

Die Photochemie des Auges sortiert zudem das kontinuierliche Farb-Spektrum in Variationen und Kombinationen von drei Grundfarben – offenbar bevor die Sprache dafür die Farbbegriffe prägt. Die sprachlichen Bezeichnungen teilen das Spektrum nicht willkürlich auf, sie differenzieren nur eine Einteilung, die im Zwischenhirn von der Farbwahrnehmung vorgenommen werden - auf der Grundlage der Impulse der drei verschiedene Typen von Zapfen für die Wellenlängen von rot, blau und grün. Auch die besonderes klare Wahrnehmung von geraden Strukturen scheint im Gehirn verankert – als Voraussetzung des Form-Sehens. 
Die Selektion findet auch in der Tiefenwahrnehmung statt. Die Akkommodation der Augenlinsen folgt der Aufmerksamkeit: In jedem Augenblick kann die Wahrnehmung nur einen bestimmten Ausschnitt des Gesichtsfeldes fixieren. 

Die Gehirne verschiedener Lebewesen nehmen ihre Umwelt auch mit unterschiedlicher zeitlicher Sensibilität wahr. Johann von Uexküll beschrieb schon 1934, dass Kampffische schnelle Veränderungen ihrer Umwelt als diskrete Bewegungen wahrnehmen – und fressbare Fischlein vermuten, wo Menschen vor lauter Schwarmgezappel nur ein „Rauschen“ erkennen. Schnecken dagegen betrachten Stöckchen als stabil und unbewegt, bei denen Menschen sehr wohl Zitter-Bewegungen wahrnehmen können. Von einer Bildrate von 30 Bildern pro Sekunde an kann das menschliche Bewusstsein ein konstantes Bild wahrzunehmen. Aus Gründen der Schleichwerbung sind Bilder, die diese Wahrnehmungsschwelle unterlaufen würden, im Kino verboten. Bienen können in der gleichen Zeit etwa zehnmal so viele Einzeleindrücke wahrnehmen. Der Schnecke hingegen erscheint ein optischer Reiz, der vier Mal in der Sekunde auftaucht, als kontinuierlich.
Menschen können schnellere Bilder unbewusst wahrnehmen. Von Bildern, die nur 10 Millisekunden lang gezeigt werden, werden in den niedrigen Arealen des Cortex schon auf einfache Merkmale wie Helligkeitskontraste, Kanten, Farben und Bewegungen extrahiert. Neu erscheinende visuelle Reize können innerhalb von 100 Millisekunden eine direkte Aktivitätswelle zu motorischen Arealen hin auslösen. Das ist das Geheimnis des Trainings bei Sportarten, bei denen es auf Schnelligkeit ankommt.
Die Frage, bei welcher Frequenz für Schnecken die Schleichwerbung anfängt, stellt sich nicht, weil Schnecken keine zweite, langsamere und bewusste Wahrnehmungsstufe haben.

Dass nicht alles, was unsere Sinnesorgane aufnehmen, auch dem Bewusstsein präsentiert wird, haben Hirnforscher und Mediziner experimentell am „Blindsehen“ gezeigt: Patienten, die aufgrund einer Gehirnschädigung auf einem Auge „blind“ sind, deren Gehirn also trotz intakter Linse die Sehimpulse dieses Auges nicht zu bewussten visuellen Bildern verarbeitet, können doch, wenn man ihnen das „gesunde” Auge zuhält, recht zuverlässig auf einen hellen Fleck an der Wand vor ihnen zeigen. Die visuellen Impulse werden vom Gehirn verarbeitet, aber nicht an das Bewusstsein gemeldet. Ähnlich ist es bei der „Konfabulation“: Gehirn-Patienten, bei denen die Verbindung beider Hirnhälften gekappt ist, steuern mit der rechten Gehirnhälfte eine Reaktion – während die linke Gehirnhälfte dafür Gründe regelrecht erfindet (Split-Brain-Experimente).

Zur Neurobiologie des gesehenen Sinns

Für die Evolutionsbiologie ist das selbstverständlich: Ein Organismus interessiert sich für Beziehungen und Kräfte, für ihren Ort, ihre Stärke und Größe, ihre Richtung und für die überlebenswichtige Frage, ob sie zuträglich oder feindselig sein könnten. Wahrnehmung wird daher von Emotionen gesteuert - in ihrer unwillkürlich primären und ihrer kulturell entwickelten Form. Die Wahrnehmung selektiert nach dem Kriterium des praktischen Nutzens: Lebewesen selektieren die punktförmigen Farb- und Helligkeits-Werte so, dass ihr Gehirn aus Veränderungen in definierten Reizfeldern blitzschnell auf das Vorhandensein von Bewegung schließen kann. Lebewesen erkennen in den Helligkeits-Veränderungen „Bewegungen“ und nehmen Veränderungen intensiver wahr als Unbewegtes. Tiere nutzen diese Selektion zur Identifikation von Fressfeinden – und zur Täuschung.

Die Wahrnehmung kann das Beobachtungsobjekt von seiner Umgebung trennen: Trotz aller Eigenheiten der Netzhaut „sehen“ Mensch - wie auch andere Lebewesen - die Objekte ihrer Begierde als weitgehend konstante Objekte, selbst wenn sich (entfernungsbedingt) die Größe, die Farbschattierung und (aufgrund von Drehungen) die Form ändern.

Denn die „gesehenen“ Objekte werden in sinnstiftende Beziehungen zueinander gesetzt. Einen Punkt, der auf einer Fläche einem anderen hinterher wandert, sehen wir als „Verfolger“. Beim bloßen Sehen spielen Erwartungen und Wünsche genauso eine Rolle wie das erinnerte Wissen. Durch Handeln werden Wahrnehmungshypothesen überprüft.
Die Wahrnehmung „sammelt“ also nicht unendlich viele Einzelheiten und Einzelfälle, sondern möglichst wenige Typen, wiederkehrende und bereits bekannte Grundformen. Dieser Drang zur Abstraktion scheint in den Mechanismen des Gehirns zu liegen. Schon fünf Tage alte Säuglinge können einfache Formen von Zahlvorgängen begreifen, wie die Wahrnehmungs-Psychologin Karen Wynn herausgefunden hat. Das Säuglingsgehirn sortiert schon seine ersten Sinneseindrücke nach Stabilität, Regelhaftigkeit und Kontrollierbarkeit.

Jedes Erkennen ist also eine selektive Strukturierung der gegebenen Reiz-Fülle und schützt den Geist vor einer Überschwemmung mit unnützen oder unverdaulichen Information. Eine Ratte kann einen Kreis nicht von einem Quadrat unterscheiden, das braucht sie auch nicht zu können. Manche Kulturen machen sprachlich keinen Unterschied zwischen blau und grün. In Wahrheit sind die Naturformen viel komplizierter die Muster der Wahrnehmung, alles, was einigermaßen gerade ist, wird als „gerade“ wahrgenommen, alles, was einigermaßen rund erscheint, als „rund“.

Die Wahrnehmung sortiert nicht nur das Wahrgenommene nach den ihm vom Gedächtnis zur Verfügung gestellten Zeichen, sondern ergänzt unvollkommene oder unvollständige Sinnes-Eindrücke auch entsprechend seiner Erwartungen. Sehen ist aktiv, es handelt sich immer um Wahrnehmungs-Akte.

Wir haben keine genaue Vorstellung davon, wie sich die neurophysiologischen Spuren von Gedächtnis in bewusste Erinnerungsprozesse umsetzen. Zudem ahnen wir nur, dass es auch unbewusste Mobilisierungen von Gedächtnisinhalten gibt, etwa wenn uns ein Gesicht „an etwas“ erinnert und wir uns (zunächst) gar nicht klar darüber sind, woran eigentlich. Manchmal kann es uns bei einem Anblick körperlich schlecht werden ohne dass uns klar ist, mit welchen unbewussten Gedächtnis-Assoziationen das Bild verknüpft wird.

Alle sensorischen Informationen, die das Gehirn erreichen, liegen dort als neuronale Codes vor, als Muster von Aktionspotentialen, sagt der Gedächtnisforscher Eric Kandel. In der Neurophysiologie des Gedächtnisses gibt es Affekt-Erinnerungen, Bild-Erinnerungen und Wort-Erinnerungen, die von Neurobiologen in ihrer Substanz nicht unterschieden werden können und die erst wahrgenommen werden, wenn sie als „Aktivierungsmuster“ bei bestimmten Anlässen wirksam werden.
Es gibt eine vorsprachliche affektive Wahrnehmung, die die erlebten Affekte fremder Personen im Abgleich mit den eigene Affekten und den bewusst und unbewussten Erinnerungen an erlebte Affekte verarbeitet. Für die Bild-Wahrnehmung gilt das gleiche: Äußere Bilder werden im Abgleich mit erinnerten inneren Bildern und ihrer affektiven Bedeutung wahrgenommen. Die Wort-Wahrnehmung kann dagegen ein ganzes kulturelles Universum aufrufen, zu dem Bilder wie Emotionen gehören können. Zum Beispiel auf das Wort „Krieg“ reagieren verschiedene Menschen extrem unterschiedlich: Kinder denken an ihre Holzstöcke und bei Kriegsteilnehmern spült das Wort Bilder und Emotionen über erlebte, erlittene und ausgeführte Grausamkeiten ins Bewusstsein.

balken

 

Ein unsinniges Strich-Muster lässt uns unser Gehirn als sinnvolle Stapel-Anordnung wahr-nehmen. Wie die Experimente der optischen Täuschung zeigen, repräsentieren die neuronalen Aktionspotentiale  nicht präzise die Form oder Farbe eines gesehenen Objektes, sondern visuelle Muster, die erfahrungsgemäß Sinn machen. Aus ganz unterschiedlichen Wellenlängen macht das Gehirn eine Farbeindruck „rot“, aus unterschiedlichen Linien eine Gerade“. Das Gehirn ergänzt auch mühelos bestimmte Formen, die teilweise verdeckt sind, zu den ihm bekannten Form-Mustern.

 



 

Wenn Gedächtnis-Inhalte ins Bewusstsein aufsteigen, müssen aus den Aktivierungsmustern bewusste Erinnerungen konstruiert werden, die etwas anderes und „mehr“ sind als die unbewussten Gedächtnis-Inhalte, insbesondere auch, weil das bewusste Ich versucht, sie in seine Konstruktionen einzupassen. Das ist der tiefere Sinn der Beobachtung, dass bestimmte Erinnerungsspuren von der Person, die sich erinnert, „passend“ gemacht werden und dass unpassende Vorkommnisse schlicht nicht mehr erinnert werden. Die Verbalisierung der bewusst werdenden Gedächtnis-Inhalte bedeutet eine weitere „Übersetzung“ der Erinnerungsspuren in die Formen und die Logik der Sprache und muss sich der kulturellen Muster bedienen, die die Sprache zur Verfügung stellt. Manchmal erscheinen Erinnerungen daher diffus und emotional-atmosphärisch, nicht in Sprachmuster übersetzbar. 

Wenn ich kotzen muss beim Anblick einer toten Maus, dann erzwingen meine inneren Bilder und emotionalen Erinnerungen offenbar eine spontane, unwillkürliche Reaktion auf das visuelle Bild. Solche Reaktionen scheinen außerhalb der Ich-Kontrolle der bewussten Person zu entstehen. Mit dem Bauchgefühl „mir wird schlecht“ wird mir nur die Folge der unbewussten Erinnerungsverknüpfung durch ihre körperlichen Auswirkungen bewusst. Dasselbe Bild der toten Maus kann bei anderen Personen mit anderen Erinnerungsbildern zu einer ganz anderen Reaktion führen. Ähnlich ist es bei der Angst, einem Primäraffekt, der nicht der Ich-Kontrolle unterliegt und nicht identisch ist mit dem Ausmaß der Bedrohung. Es gibt deutlich mehr Menschen, die vor Spinnen panische Angst haben nicht aber vor einem schweren Autounfall. Angst kann auch entstehen als emotionale Verarbeitung eines bewusst wahrgenommenen Bedrohungsszenarios, wenn das begriffssymbolische Denken Affekte mobilisiert. 

Wenn ich den Klang eines Gesanges als beruhigende, beglückende, erhebendes Erlebnis wahrnehme, liegt das nicht am Klang - ein anderer mag das als störend empfinden - sondern an dem, was die neuen Töne in meinem Klang-Gedächtnis an Erinnerungen und Affekten mobilisieren, also an meiner inneren Verarbeitung des Klanges.

Das „Wort“ Saustall etwa kann emotionale Erinnerungen an die strafende Mutter hochspülen. Gewöhnlich wird es beklemmende Affekt-Erinnerungen an die strafende Mutter geben, die viel allgemeiner sind und sich an das kulturelle Muster „Mutter straft unaufgeräumtes Zimmer" binden. Eine von der Mutter erzählte Geschichte kann die dem Bewusstsein zugänglichen Elemente des Gedächtnisses dominieren. Die Worte der Erzählung bilden aber die Erinnerungs-Affekte nicht ab, sondern sie sind Form, sie für das Bewusstsein zu übersetzen.


Wie Affen die Welt sehen

Wenn man die Frage aufwirft, wie Affen die Welt sehen, dann stellt man zunächst fest, wie wenig sich ihr optisches Sehorgan von dem menschlichen Auge unterscheidet. Das, was das Affengehirn als Sinn auf das sichtbare Objekt projiziert, ist aber gebunden an die unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse des Affenlebens in seiner Gruppe. Der Affe kann durchaus im Labor symbolische Zeichen erkennen und sein Verhalten daran ausrichten - aber nur, wenn er dafür als Belohnung etwas zu fressen bekommt. Affengruppen kennen fürsorgliche und feindliche Beziehungen, Affen können Gesichter so gut lesen wie Menschen, aber sie scheinen nicht in der Lage zu sein, über ihre unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse hinausweisende symbolische Ordnungen zu bilden. Auch ihre akustischen Signalrufe sind Affektlaute, komplexe körpernahe Überlebens-Zeichen.

Sie verfügen nicht über Sprachlaute, die es ihnen ermöglichen würden, symbolische Zeichen aneinander zu reihen und eine symbolische Kultur zu entwickeln. Affen „sehen“ nicht, dass die Sonne ebenso kreisrund ist wie ein Wassertropfen. Sie wissen, dass ein großes Stück Fressen mehr sein kann als drei kleine. Sie „sehen“, dass vier gleichgroße Nüsse mehr sind als drei, aber sie haben keine Vorstellung von Mengen, die größer sind als das, was ein Blick erfassen kann. Das menschliche Zählen setzt voraus, dass die visuelle Aufmerksamkeit von einer Nuss zur nächsten wandert und dass es Sprach-Zeichen gibt, mit denen man die Blick-Schritte summieren und speichern kann. Dass 15 Nüsse mehr sind als 14, kann nicht das Ergebnis eines ganzheitlichen Blickes sein, es setzt ein abstrahierendes Sehen voraus, das die Nüsse als Zeichen betrachtet und rein quantitativ wahrnimmt.

Der Gesichtssinn der menschlichen Frühgeburt

Das Großhirn reift erst nach der Geburt aus. Erst allmählich verknüpfen sich Nervenzellen aufgrund von Lernerfahrungen, die Nervenzellen bilden später dann ungenutzte Fortsätze zurück. Ein neu geborenes Menschenkind fühlt Wärme und Kälte und nimmt Berührungen der Haut wahr (Streicheln). Es ist an Stimmen gewöhnt, die es bereits im Mutterleib gehört hat und reagiert auf diese. Es reagiert auch auf andere Geräusche. Das Bedürfnis nach einer sicheren Umgebung erfüllt für kleine Kinder in der Regel die Mutter. Berührungen und Gerüche sind sofort nach der Geburt die wichtigen Kommunikations-Medien. Es kennt den Geruch der Mutter und findet die Mutterbrust durch seinen Geruchssinn. Es kennt den süßlichen Geschmack der Muttermilch und unterscheidet süße von bitteren Stoffen. Schon in den ersten beiden Stunden nach der Geburt knüpft das Neugeborene erste soziale Kontakte mit einem erstaunlichen Aufnahme- und Erinnerungsvermögen. Aber der Gesichtssinn ist unzureichend entwickelt und offenbar am Anfang nicht überlebenswichtig.
In dem Maße, wie das Kind sehen und Gesichter zu erkennen lernt, beginnt der Augensinn die direkte Körperberührung zu ersetzen: Immer wieder schaut das Kind, das von der Mutter losgelassen wurde, nach das Gesicht der Mutter, um sich an ihrem Bild zu beruhigen, und nur einen kurzen Moment kann die Stimme der Mutter den visuellen Kontakt ersetzen. Hör-Sinn und Gesichts-Sinn sind Fern-Sinne. Erst wenn sich der heranwachsende Mensch von seiner Mutter zu lösen versucht, werden Hör- und Gesichtssinn dominant, mütterliche Gerüche und Berührungen werden kulturell diskriminiert und können als unangenehm empfunden werden.

Die späte Formung des Gesichtssinnes der Frühgeburt Mensch hat zur Folge, dass er sehr stark sozio-kulturell durch Erfahrungen geprägt werden muss – und kann. Nach der Geburt kann ein Säugling Helligkeit wahrnehmen, aber die Kontakte der Nervenzellen zwischen seiner Netzhaut und dem Sehzentrum im Großhirn sind noch diffus. Babys können bald Konturen von Gesichtern erkennen, wenn zunächst auch nur „verschwommen“, und lieben es, diese zu beobachten. Eine starke Veränderung der Konturen der mütterlichen Frisur würde sie sehr verunsichern. Nach wenigen Monaten lernen sie, Objekte scharf zu sehen, die rund 25 Zentimeter entfernt sind. Große Gegenstände nimmt der Säugling wahr, starke Kontraste, hell und dunkel, schwarz auf weiß, und das Gesicht der Person, die das Neugeborene auf dem Arm hält. Weiter entfernte Objekte erscheinen nur verschwommen. Im zweiten und dritten Monat lernen Neugeborene, Bewegungen zu verfolgen und Farben besser zu unterscheiden – je nachdem, wie die Nervenbahnen im Gehirn für diese anstrengende Aufmerksamkeit trainiert werden. Denn das kleine Gehirn muss dafür die sensorischen Informationen der Halsmuskeln über die Bewegungen des Kopfes, die Gleichgewichts-Informationen aus den Ohren und die Informationen der Augenmuskeln mit den visuellen Reizen rückkoppeln.

Nach vier sechs Monaten beginnen Babys, nach beweglichen Objekten, die sie sehen und erkennen, zu greifen – vor allem nach „begehrten“ Objekten. Berührungs-Wahrnehmungen und Bewegungen von Hand, Mund und Augen koordinieren sich. Mit der Vollendung des ersten Lebensjahres ist Tiefenwahrnehmung einigermaßen ausgereift.

Gesichtsblindheit, „Prosopagnosie“ nennt die Medizin die Unfähigkeit, Gesichter zu erkennen. Das Gesichtserkennungsareal im Gehirn ist eine selektive, exklusive Verarbeitungskapazität für eine besonders relevante Objektklasse. Gesichtsblinde Menschen erkennen die Formen des Gesichtsbildes, verbinden diese aber nicht mit dem, was über die Person in ihrem Gedächtnis abgespeichert ist. Ami Klin hat die Augenbewegungen von normalen Betrachtern mit denen eines Autisten beim Anschauen des Filmes „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ verglichen. „Normale“ Betrachter fixieren fast unausgesetzt die Gesichter der handelnden Person. Autisten lassen ihren Blick ohne einen erkennbaren Unterschied zwischen den Personen und den sie umgebenden Gegenständen über die Leinwand schweifen. Offensichtlich liegt ein spezifischer - störanfälliger – neuro-biologischer Mechanismus der sozialen Fähigkeit der Gesichtswahrnehmung zugrunde, die so entscheidend ist für die Kultur des gemeinschaftlichen Lebens. Die vergleichsweise geringen Unterschiede zwischen Gesichtern von Individuen erfordern ein Differenzierungspotential, das deutlich über die ansonsten benötigte Unterscheidungsfähigkeit für Objekte hinausgeht. Das demonstriert die bekannte „Thatcher-Illusion“: Böse Verzerrungen in einem Gesicht erkennen wir nur dann schnell, wenn das Gesicht „richtig herum“ gezeigt wird. Stammesgeschichtlich ist diese besondere Verarbeitungskapazität die Voraussetzung für soziale Gemeinschaften.

Ein Kleinkind braucht die emotional mobilisierende Wirkung einer liebevollen und vertrauenswürdigen Person, damit sein Gehirn nachhaltig aktiv wird. „Lächeldialoge“ sind die stärkste emotionale Motivation für das Lernen. Ein Kleinkind lernt von multimedialen Maschinen, die zu ihm sprechen, wenig. Auch Erwachsene reagieren nicht mit „Mitleid“, wenn ein Roboterkopf in einem Action-Film brutal zerquetscht wird, sondern eher mit Lachen. Es gibt ein „optisches Aufbereitungs- und Interpretationssystem“ (STS), das die sensorischen Eindrücke für das Bewusstsein aufbereitet. „Sobald eine beobachtete Handlung, die zuvor ein Mensch ausgeführt hat, von einem Apparat oder Roboter verrichtet wird, legt es (STS) seine Arbeit nieder.“ (Joachim Bauer) 

 

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