Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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III
Medien
-Theorie

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Zu Hannah Arendt

2024

Hannah Arendt verdient es nicht, dass man sie unkritisch ikonisiert. Sie war eine streitbare Frau, die in einer intellektuellen Männerwelt bei den großen Fragen der Philosophie und Politik ihrer Zeit mitdiskutiert hat. Sie hat sehr unkonventionelle Gedanken geäußert, manchmal „ohne Geländer“, die auch heute zum Nachdenken anregen. Aber sie war natürlich auch ein Kind ihrer Zeit und insbesondere war sie eine begeisterte Schülerin von Martin Heidegger, dessen elitäre Verstiegenheit ihr Denken geprägt hat und von dem sie sich trotz seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus bis zuletzt nie lösen konnte. In ihrer Analyse des Totalitarismus kommt Martin Heidegger nicht vor, für sie gibt es keine Mitverantwortung der Intellektuellen und insbesondere der konservativen Intellektuellen an der Zerstörung der Demokratie.

Emmanual Faye (1) hat die Frage aufgeworfen, wie weit Heideggers Prägung ging. Franziska Martinsen (2) und Priya Basil (3) haben gefragt, wie sie so empathielos in den Jahrzehnten der Entkolonialisierung über die Schwarzen schreiben konnte. Judith Shklar (4) hat die romantische Modernekritik und die Verehrung der griechischen Denkschule bei Arendt kritisiert. Für Shklar liegt in der Akzeptanz der Sklaverei als die größte Schande der amerikanischen Revolution, Arendt schwieg zeitlebens zu dem Skandal der Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen in den USA, die in den Hotels, Bussen und Sanitäranlagen erst 1964 aufgehoben wurde. Während die Herausforderung der modernen Demokratie darin besteht, dass alle Mitglieder der Gesellschaft am Tisch sitzen und mitreden, war für Arendt die „Masse“ ein von Tyrannen manipulierbarer Mob. „Sie entwickelt das Paradigma einer polis, aus der die meisten aus der Menschheit ausgeschlossen sind: früher waren es die Sklaven, die Fremden, die Barbaren, heute sind es die Arbeiter, die Angestellten - kurz die Vielzahl jener, die sich nicht durch politisches Handeln zu ewiger, heldenhafter Größe erheben konnten.” (Faye 431) Ihre konservative Grundeinstellung ist anti-demokratisch.

Wer sie als politische Denkerin ernst nimmt, muss auch unbequeme Fragen ernst nehmen.

Little Rock

Ihren Aufsatz „Reflections on Little Rock“ (formuliert 1957) beginnt Hannah Arendt mit dem ihr eigenen Selbstbewusstsein: „Es ist bedauerlich und sogar ungerecht (wenn auch nicht ungerechtfertigt), dass die Ereignisse in Little Rock ein so enormes Echo in der öffentlichen Meinung auf der ganzen Welt haben."
I
Immerhin ging es um den Protest gegen Ausschluss der schwarzen Bevölkerung von „weißen” Bildungsinstitutionen im Land der Menschenrechte - fast 200 Jahre nach der amerikanischen Revolution war das endlich rechtswidrig. Nicht die politisch handelnden Männer hatten die Rassendiskriminierung in Schulen aufgehoben, sondern der Oberste Gerichtshof (1954). Ein Skandal ist es, wie Arendt diesen historischen Skandal der von ihr glorifizierten amerikanischen Revolution beschweigt und damit zu rechtfertigen scheint. Erschreckend ist der völlige Mangel an Empathie gegenüber den - vor ihren Augen - diskriminierten und in ihrer Freiheit beraubten Schwarzen.
Als der von der Zeitschrift „Commentary“ abgelehnte Text dann zwei Jahre später doch (von „Dissent“) unverändert veröffentlicht wird, spricht sie im Vorwort trotzig von „liberal cliches“, die stärker seien als sie zwei Jahre zuvor gedacht habe. Sie besteht auf ihren Argumenten, die jüngst als „erschreckende Dummheiten“ bezeichnet wurden. (5) Erschreckend ist auch, dass sie ihre Dummheiten nie öffentlich korrigiert hat. Erst sechs Jahre später, nach Martin Luther Kings großer Rede „I Have a Dream“ vom 28. August 1963 hat sie in einem privaten Briefwechsel mit ihrem Straßennachbarn Ralph Ellison eingeräumt, dass sie „die Komplexität der Situation einfach nicht verstanden“ habe, insbesondere „wie tief die schlimme Diskriminierung der Schwarzen in Amerika reicht und welche politischen Folgen sie hat“. Was soll das heißen, Komplexität??? Hat sich die Diskriminierung nicht einfach und ganz unterkomplex vor ihren Augen im amerikanischen Exil abgespielt? Sie hat diese selbstkritische Erkenntnis nie öffentlich gemacht. Es ist nicht erkennbar, dass sie ihr Denken korrigiert hätte.

Letztlich wurzelt ihre aristokratische, elitäre Auffassung in ihrer Heideggerschen Faszination gegenüber der antiken Philosophie, deren Ignoranz gegenüber der Sklaverei sie übernimmt in eine konservative philosophische Anthropologie und ausdrücklich an Gustave Le Bon angelehnte „Massenpsychologie“.

In dem Abschnitt „Race and Bureaucracy“ in ihrem großen Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ kam Arendt 1951 auf das imperialistische Vorgehen in Afrika, vor allem in Süd-Afrika, zu sprechen. Da schreibt sie von einer „Gespensterwelt des schwarzen Erdteils“, von „eingeborenen Wilden“, die den Europäern „unverständlich blieben wie die Insassen eines Irrenhauses“, von einer „überwältigend feindseligen Natur, welche in eine menschliche Landschaft zu verwandeln sich nie jemand bemüht“ habe. Wörtlich heißt es da: „Was sie (die Schwarzen) von anderen Völkern unterschied, war nicht die Hautfarbe; was sie auch physisch erschreckend und abstoßend machte, war die katastrophale Unterlegenheit oder Zugehörigkeit zur Natur, der sie keine menschliche Welt entgegensetzen konnten.“ In ihrer Unterscheidung von Natur und menschlicher Welt gehören die Schwarzen zur Natur.

Jahre später, in ihrem Buch „The Human Condition“ (1958) erläutert sie unter Bezugnahme auf Heraklit, dass „die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier durch die menschliche Gattung selbst“ verläuft: „Nur die Besten (aristoi), die sich auch beständig als die Besten erweisen und ‚den unsterblichen Ruhm den sterblichen Dingen vorziehen‘, sind wirklich menschlich“. (6)

Kolonialismus und Imperialismus - niemals beteiligt?

„Ihre Voreingenommenheit war nicht intendiert, sondern strukturell“, stellt Priya Basil fest, war tief begründet in dem Grundmuster ihrer aristokratischen politischen Theorie, in der das Politische von dem Sozialen strikt getrennt blieb. So wie Platons politisches Denken ignorant war gegenüber den Sklaven, die den Lebensunterhalt der freien Denker erarbeiteten, klammerte sie die Rechtlosigkeit der „animal laborans“, der Armen aus. Sie idealisiert die „Amerikanischen Revolution“ und die Formulierung der Menschenrechte unter Ausklammerung der schwarzen Sklaven (und der Frauen).  Den sozialen Emanzipationskämpfen Schwarzer erkennt sie keine politische Dimension zu. Sie hat sich nie damit beschäftigt, dass die Menschen in den afrikanischen und asiatischen Ländern versuchten, sich aus den Fesseln der Kolonialzeit zu befreien. In ihrem Text zu Little Rock (1957) heißt es: „Das Hautfarbe-Problem in der Politik erwuchs aus dem Kolonialismus und Imperialismus der europäischen Nationen, einem großen Verbrechen, an dem Amerika niemals beteiligt war.“  („for the color· problem in world politics grew out of the colonialism and imperialism of European nations,  that is the one great crime in which America was never involved“).
Niemals beteiligt?

Warum ist das Soziale nicht politisch?

In ihrem Text „Die Freiheit, frei zu sein“ (2019), der vermutlich auf eine Rede aus dem Jahre 1967 zurückgeht, definierte Arendt den Wunsch nach Freiheit als den „Wunsch ein politisches Leben zu führen“, und erklärt: „Unnötig zu erwähnen, dass man dort, wo Menschen in wirklich elenden Verhältnissen leben, diese Leidenschaft für die Freiheit nicht kennt“. Denn die Voraussetzung für Freiheit sei es, „nicht nur von Furcht, sondern auch von Not frei zu sein“.

Im Jahre 1885 hatte Sören Kierkegaard geschrieben: „Durch die Arbeit macht der Mensch sich frei, durch die Arbeit wird er ein Herr der Erde, durch die Arbeit endlich beweist er es, dass er über der Natur steht.“ Für Hannah Arendt ist aber der von Arbeit freie, aristokratische Mensch der eigentlich Freie. Der arbeitende Mensch ist nicht „homo faber“, sondern „animal laborans“ und „bloßes (tierisches) Lebewesen“. Menschen zeichnen sich durch künstlerische Arbeit und die Freiheit des Denkens aus. Das ist Arendts Geschichtsbild: „Was wir als die (dokumentierte) Menschheitsgeschichte bezeichnen, ist größtenteils die Geschichte dieser wenigen Privilegierten.“

In „Die Freiheit, frei zu sein“ fragt Arendt im Vergleich der Amerikanische und der Französischen Revolution, warum „die Männer der ersten Revolutionen (…) in Amerika triumphal siegten und in Frankreich auf tragische Weise scheiterten“:
„Die Unglücklichen, die im Verlauf der Französischen Revolution eine so gewaltige Rolle spielten und von ihr mit le peuple gleichgesetzt wurden, existierten in Amerika entweder nicht oder blieben völlig im Verborgenen.“ Die Voraussetzung der glücklich erfolgreichen Amerikanischen Revolution war die Unterdrückung der Sklaven und diese Sklaven muckten nicht auf, behauptet Arendt und bezeichnet das als „Glück”:  „Die Amerikanische Revolution hatte das Glück, nicht mit diesem Freiheitshindernis konfrontiert zu sein, und verdankte ihren Erfolg zu einem Gutteil dem Fehlen verzweifelter Armut unter den Freien und der Unsichtbarkeit der Sklaven in den Kolonien der Neuen Welt.“ Dagegen, so doziert sie für die gescheiterte französische Revolution, „führte ein gewaltsames Vorgehen gegen die sozialen Verhältnisse stets zu Terror“.
Diese Interpretation der US-amerikanischen Unabhängigkeit ignoriert die Aufstände der Sklaven, die es durchaus gegeben hat, und alle wirtschaftlichen Motive der Siedler - nur durch die Brille der aus der griechischen Philosophie entlehnten Begriffe der Politik kann man die Geschichte der „amerikanischen Revolution” so idealisieren.

Keineswegs übersah sie das „Elend der Schwarzen“, sie interpretiert sie nur anders:  Der „Prozentsatz völliger Verelendung“ sei im 18. Jahrhundert höher gewesen als im 19. Jahrhundert, schreibt sie, aber es habe keine Revolte gegeben: „Der Unterschied bestand somit darin, dass die Amerikanische Revolution aufgrund der Institution der Sklaverei und wegen der Überzeugung, Sklaven würden einer anderen ‚Rasse‘ angehören, die Existenz der Elenden übersah und damit die beachtliche Aufgabe aus dem Blick verlor, diejenigen zu befreien, die weniger durch politische Unterdrückung als durch die einfachsten Grundbedürfnisse des Lebens gefesselt waren.“ Bemerkenswert an diesem Satz ist nicht nur die Gleichsetzung von „die Amerikanische Revolution” mit den weißen Siedlern, die „die Existenz der Elenden” angeblich übersahen - welcher Zynismus! Die Behauptung, dass die verschleppten und versklavten Plantagenarbeiter „weniger durch politische Unterdrückung als durch die einfachsten Grundbedürfnisse des Lebens gefesselt waren”, relativiert die Unterdrückung und ignoriert, dass das Elend der Sklaven die Folge der Unterdrückung war - darin liegt letztlich ein Freispruch für die Unterdrücker.
Aber das ist ein Kerngedanke ihrer politischen Philosophie, die das Soziale ausklammert:
Die „größten Gefahr bei modernen Revolutionen“ sei „die Gefahr, die aus der Armut erwächst“, schreibt sie. Robespierre habe das klar gesehen: „La Republique? La Monarchie? Je ne connais que la question sociale“, habe er verkündet. Das, so Arendt, sei eben das „Credo des aufgeklärten Despotismus“. Weil politische Revolutionen nach 1789 die soziale Frage stellten, seien sie gescheitert: „In den letzten zweihundert Jahren haben zahlreiche Revolutionen ein schlimmes Ende genommen.“ Der Bezugspunkt ihres Blickes auf die französische Revolution ist der konservative Schriftsteller Edmund Burke, eine im Kern aristokratischer Begriff von Freiheit: „politische Freiheit in ihrer wahrhaftigsten und radikalsten Form” ist nach Arendt die „Freiheit, sich an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, Freiheit des Tuns”. Den Menschen, die im Elend leben, fehlen die Voraussetzungen für die „Freiheit, sich an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen”
Auch die gewaltsame Unterdrückung der Haitischen Revolution (1791) durch die weißen Siedler und die französische Kolonialmacht beschäftigt sie nicht. Für die rebellierenden schwarzen Studierenden hatte sie 1970 (in: „On Violence“) keinerlei Verständnis: „Kein Zweifel, Gewalt ‚zahlt sich aus‘, aber das Unglück ist, daß sie sich unterschiedslos auszahlt, für ›soul‹- und Swahili-Kurse für N[…]studenten ebenso wie für wirkliche Reformen.“
Warum scheiterte die amerikanische Invasion in Kuba (Schweinebucht)? „Der Fehler bestand darin, dass man nicht begriffen hat, was es bedeutet, wenn eine verarmte Bevölkerung in einem rückständigen Land, in dem die Korruption das Ausmaß völliger Verdorbenheit erreicht hat, plötzlich befreit wird, nicht von der Armut, sondern von der Undeutlichkeit und damit der Unbegreiflichkeit des eigenen Elends; was es bedeutet, wenn die Leute merken, dass zum ersten Mal offen über ihre Lage debattiert wird, und wenn sie eingeladen sind, sich an dieser Diskussion zu beteiligen; und was es heißt, wenn man sie in ihre Hauptstadt bringt, die sie nie zuvor gesehen haben, und ihnen sagt: Diese Straßen, diese Gebäude, diese Plätze, das gehört alles euch, das ist euer Besitz und damit auch euer Stolz. Das - oder zumindest etwas Ähnliches - geschah zum ersten Mal während der Französischen Revolution.“

Parlamentarische Massen-Demokratie der Animal laborans??

In ihrem Buch über die „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ fragt Arendt nach dem Versagen der (Weimarer) Demokratie – allerdings nicht historisch, sondern philosophisch. Im Sinne der konservativen Kultur-Theorie konstatiert sie die Auflösung von sozialen Milieus und Familienbeziehungen, was beim modernen Individuum das Gefühl der Einsamkeit und Isoliertheit hervorrufe. Sie nennt das „Vermassung“. In der Massengesellschaft verbreite sich das Gefühl des „Überflüssigseins“. In dem Buch gibt es zwei Abschnitte über die  „Untergang der Klassengesellschaft“ und „Die Massen“. Arendt interpretiert dort die politischen Parteien als Repräsentationsform in (vordemokratischen) Klassengesellschaften. „Der Zusammenbruch des Klassensystems bedeutete automatisch den Zusammenbruch des Parteiensystems, weil diese Parteien wirklich Interessenparteien waren, so daß ihnen nun gleichsam keine Interessen mehr zur Verfügung standen, die sie repräsentieren konnten.” 
Und weiter: „Unter solchen Bedingungen einer Massengesellschaft verlieren die demokratischen Institutionen wie die demokratischen Freiheiten ihren Sinn; sie können nicht funktionieren, weil die Mehrheit des Volkes nie in ihnen vertreten ist, und sie werden ausgesprochen gefährlich, wenn der nicht vertretene Teil des Volkes, der die wahre Mehrheit darstellt, sich dagegen auflehnt, von einer angeblichen Mehrheit regiert zu werden. Dieser Augenblick ist heute, nach dem Zweiten Weltkrieg, in nahezu allen europäischen Ländern eingetreten ...“

Dieses Argument ist irritierend: Wieso ist die Mehrheit des Volkes in demokratischen Institutionen nicht vertreten? Wo, wenn nicht in einer Massengesellschaft, haben demokratische Institutionen einen Sinn? Nachvollziehbar wird ihr Argument, wenn sie „vordemokratische“ Institutionen meint, wo es einen „nicht vertretenen Teil des Volkes, der die wahre Mehrheit darstellt“, gibt. Irgendwie scheint sie die Angst der Konservativen vor dem allgemeinen Wahlrecht (1918), spricht das Problem, das sie mit der Demokratie hat, aber nicht direkt an.
Am Ende von „The Origins of Totalitarianism“ (1951) schrieb sie:
Heute sehen wir sowohl die Geschichte wie die Natur als etwas dem Wesen des Menschen Fremdes an. Keine von ihnen bietet uns jenes umfassende Ganze, in dem wir uns geistig zuhause fühlen.“ 

Das Scheitern der repräsentativen Demokratie in der Weimarer Republik bestätigt für Arendt ihre These, das Repräsentationsprinzips sei der modernen Massengesellschaft unangemessen. Der Massenerfolg der totalitären Bewegungen verweist für Arendt auf das Ende einer demokratischen Illusion: Menschen, die vor allem ein Interesse an ihrem persönlichen Wohlergehen haben und ihr politisches Interesse delegieren möchten, sind für sie nicht politisch.
Auch in Vita Activa interpretiert Arendt die Auflösung Beziehungsstrukturen zwischen den Menschen in der der Moderne als „Weltentfremdung“. Während die demokratischen Parteien die zunehmend apathischen Massen nicht mehr ansprechen könnten, gelänge es populistischen Führern, sie zu mobilisieren -  der verlassene Massemensch sehne sich irgendwie nach gemeinschaftlicher Integration.
Ausdrücklich bezieht sich Arendt auf Heideggers Massentheorie, die er unter der Metapher des „Man“ formulierte: Arendt schreibt, die „Vielheit der Menschen (sei eben) das gesichtslose ‚Man‘, von dem sich das einzelne Selbst zu seinem Alleinsein abspaltet“. (Vom Leben des Geistes) David Riesman hat sie nicht zur Kenntnis genommen.

Dass in einer Gesellschaft, in der die materielle Armut keine entscheidende Rolle mehr spielt, die Chance auf Teilhabe aller an der Politik - und damit auf Demokratie – besteht, kommt Arendt nicht in den Sinn. Daher sollte der Staat sich aus jeder wohlfahrtsstaatlichen Sozialpolitik heraushalten.

In Vita activa (1960, engl. Human condition 1958) geht Arendt auf die moderne „Gesellschaft von Konsumenten“ ein:
„Von Belang für die Gesellschaftsordnung, in der wir leben, ist nicht so sehr, daß zum ersten Mal in der Geschichte die arbeitende Bevölkerung mit gleichen Rechten in den öffentlichen Bereich zugelassen ist, als daß in diesem Bereich alle Tätigkeiten als Arbeiten verstanden werden, daß also, was immer wir tun, auf das unterste Niveau menschlichen Tätigseins überhaupt, die Sicherung der Lebensnotwendigkeiten und eines  ausreichenden Lebensstandards, heruntergedrückt ist.“ Arbeit ist das „unterste Niveau menschlichen Tätigseins“, eben Job – wogen „alle nicht-arbeitenden Tätigkeiten zum Hobby“ werden.  

Marx habe „Emanzipation der Arbeiterklasse“ als „Emanzipation von Arbeit“, vom „Joch der Notwendigkeit“ verstanden und gehofft, dass die zunehmende Freizeit „das Animal laborans produktiv machen“ würde. Eine Illusion, dass Arbeit, „wenn sie nicht in der Plage des Lebens verbraucht und erschöpft ist, automatisch frei wird für das Höhere".  Hannah Arendt nimmt hier die Konsum-Kritik ihres Intimfeindes Adorno auf: „Hundert  Jahre nach Marx wissen wir um den Trugschluß dieses Arguments nur zu gut Bescheid; die überschüssige Zeit des Animal laborans wird niemals für etwas anderes verbraucht als Konsumieren, und je mehr Zeit ihm gelassen wird, desto begehrlicher und bedrohlicher werden seine Wünsche und sein Appetit.“ Nur Verfeinern würden sich die „Begehrlichkeiten“, und der Konsum, der „nicht mehr auf die Lebensnotwendigkeiten beschränkt bleibt“, bemächtige sich „des Überflüssigen“. Ergebnis sei „ein Gesellschaftszustand, in dem die Kultur zum Zwecke der Unterhaltung der Massen, denen man die leere Zeit vertreiben muß, benutzt, mißbraucht und aufgebraucht wird.“

Abfällig spricht sie von dem „unseligen Glücksideal des Animal laborans“ und der „Gefahr seiner Verwirklichung: „Denn was das sogenannte Glück betrifft, so sollten wir nicht vergessen, daß nur das Animal laborans die Eigenschaft hat, es zu beanspruchen; weder dem herstellend Werktätigen noch dem handelnd politischen Menschen ist es je in den Sinn gekommen, glücklich sein zu wollen oder zu glauben, daß sterbliche Menschen glücklich sein können.“

Warum Arendt von den Räten fasziniert war

Ihre Faszination an den Räten muss man vor diesem Hintergrund verstehen – Räte sind gemeinsam politisch handelnde Menschen. Die Räte sind bei ihr  - unausgesprochen - selbsternannt – sie repräsentieren nicht die Massen, werden nicht von den Massen gewählt, sie stehen für ihre Idee des politisch freien Handelns. Arendt fragt nicht, ob sie eventuell soziale materielle Partialinteressen vertreten. Angeregt durch den Aufstand in Ungarn hat sie einige allgemeine Sätze auch zu den russischen Räten geschrieben. Sie hat festgestellt, dass sich Räte als Zusammenschlüsse der politisch aktiven Männer in Zeiten des Umbruchs bilden. In ihnen koordinieren sich die politischen Aktivisten und leben ihre Freiheit. Räte zeugen von der „Lust am Handeln“ und der „Zuversicht, die Dinge aus eigener Kraft ändern zu können“.

Arendt versteht in „Über die Revolution“ die Revolutionen ausdrücklich nicht als Prozesse der sozialen Umwälzung, sondern als Orte freien politischen Handelns: „Wenn der Endzweck der Revolution die constitutio libertatis ist, die Errichtung der Freiheit bzw. die Konstituierung eines öffentlichen Raumes, in dem sie in Erscheinung treten kann, dann sind diese Elementarrepubliken oder Räte, in deren Rahmen jedermann von seiner Freiheit Gebrauch machen kann und also in einem positiven Sinne frei ist, im Grunde der große Endzweck der Republik selbst.“

Mancher Parlamentarismus-kritische Kommentar zu Hannah Arendt hat ihre Betrachtungen zu den Räten als Ansatz zu einer Theorie eines demokratischen „Räte-Systems“ lesen wollen.  Ein „System“ hat sie aus diesen Aktionsformen aber nicht entwickelt. Es geht ihr gerade nicht darum, die vielen zu integrieren, die ihr Privatleben genießen wollen und - solange es nicht nötig ist - nicht selbst politisch handeln wollen, sondern sich repräsentieren lassen und denen es reicht, alle vier Jahre ihre Vertreter zu wählen und die sich höchsten einmal engagiert, um ihre besonderen Interessen in einer Protestversammlung zu öffentlich zu machen. Nie verabredet sich eine Initiative zur Verkehrsberuhigung einer Straße mit den Autobesitzern der Straße, um einen Kompromiss auszuhandeln.
Das aber gerade ist die Rolle von gewählten Parlamentariern, die dem gesamten Volk und ihrem Gewissen verantwortlich sein sollen, nicht ihren Partialinteressen.

In ihrem Aufsatz „On Revolution“ (1963) formuliert sie ihren Zweifel an der Demokratie deutlich: „Öffentliche Freiheit, öffentliches Glück und die Verantwortlichkeit für öffentliche Angelegenheiten würden dann den Wenigen zufallen, die in allen Gesellschafts- und Berufsschichten daran Geschmack finden. Sie sind ohnehin die politische Elite eines Landes. Vielleicht würde eine solche im wahrsten Sinne des Wortes ,aristokratische' Staatsform dann nicht mehr zu dem Mittel der allgemeinen Wahlen greifen.“

    Anm.:
    1) Emmanuel Faye, Hannah Arendt und Martin Heidegger. Zerstörung des Denkens (2024)
    2) Franziska Martinsen, Ambivalenzen der Arendt-Rezeption,
      in: Fragil – Stabil? Dynamiken der Demokratie. Die 23. Hannah Arendt Tage 2020 (2021)
    3) Priya Basil, Gegen mich andenken. War die deutsche Philosophin Hannah Arendt rassistisch? (WOZ vom 6.5.2021)     https://www.woz.ch/2118/hannah-arendt/die-philosophin-und-die-schwarze-frage
    4) Judith Shklar, Über Hannah Arendt (Aufsätze, dt. 2020)
    5) So Benno Schirrmeister, https://taz.de/Hannah-Arendt-Preis-fuer-Masha-Gessen/!5977628/ 
    6) Im englischen Text wörtlich: „The distinction between man and animal runs right through the human species itself: only the best (aristoi), who constantly prove themselves to be the best (aristeu-ein, a verb for which there is no equivalent in any other language) and who ‚prefer immortal fame to mortal things,‘ are really human; the others, content with whatever pleasures nature will yield them, live and die like animals. This was still the opinion of Heraclitus,20 an opinion whose equivalent one will find in hardly any philosopher after Socrates.“ (H. Arendt, The Human Condition, Chicago 1998, S 19)
    Im deutschen Text Vita activa heißt die Passage: „Durch  unsterbliche Taten, die, so weit das Menschengeschlecht reicht, unvergängliche Spuren in der welt zurücklassen, können die Sterblichen eine Unsterblichkeit eigener, eben menschlicher Art erlangen und so erweisen, dass sie auch göttlicher Natur sind. So verläuft der Unterschied zwischen Menschen und bloßem (tierischen) Lebewesen mitten durch das Geschlecht der Menschen …“ Der denkende Mensch, so heißt es wenige Sätze später in „Vita activa“, schreibt in der „Sorge, Spuren des Gedachten für die Nachwelt zu hinterlassen. Er ist auf seine Weise in die Vita activa eingetreten, er ist tätig geworden…“