Klaus Wolschner             Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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In Buchform erschienen:

Wir-Ich Titel kl3

Neue Medien, neue Techniken des Selbst:
Unser digitales Wir-Ich    ISBN: 978-3-754968-81-9

POP Titel Farbe jpg

Über traditionelle Herrschaftskommunikation und neue Formen der  Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel online kommt  
ISBN: 978-3-752948-72-1

GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft der
    großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle Geschichte machen  
ISBN: 978-3-746756-36-3

AS Titel

Kulturgeschichte des Sehens, Mediengeschichte der Bilder: Wie wir wahrnehmen, was wir sehen:
Augenlust und Bildmagie   
 
ISBN 978-3-7418-5475-0

VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die menschliche 
    Wirklichkeits-Konstruktion im Jahrhundert des Auges:
Virtuelle Realität
der Schrift
  
ISBN 978-3-7375-8922-2

 

 

 

Frank Schirrmacher und die Nerds

Materialien und Texte

Essay von Michael Maier: Bruch mit den Spielregeln

22.09.2009. Es reicht nicht, den Nerd zu feiern. Es werden sich alle einlassen müssen auf die Digitalisierung: Computerkids und Feuilletonredakteure, Frau von der Leyen und die Hacker vom Chaos Computer Club.

Journalisten fühlen sich vom Internet bedroht, weil sie glauben, dass die neue Technologie das Geschäftsmodell der Zeitungen zerstört.

Dabei wurde weitgehend übersehen, dass das Internet kein Medium an sich ist, sondern ein Informations- und Kommunikationssystem. Wie daraus ein Medium oder vielmehr: viele neue Medien werden, ist noch nicht klar. Das Internet lebt von Versuch und Irrtum. Nur eines ist klar: Durch die Art, wie wir mit dem Internet unsere Kommunikationsmöglichkeiten erweitern, verändern wir unser Denken und damit jeden gesellschaftlichen Diskurs fundamental.

Nun hat erstmals ein führender deutschen Feuilletonist diese Dimension erkannt,
und, wie man dem Text von Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung entnehmen kann, die Bedeutung dieses Vorgangs vorurteilsfrei und ohne Zynismus beschrieben. Dies ist besonders bemerkenswert, weil Schirrmacher noch vor zwei Jahren in seiner Dankesrede für die Verleihung des Jacob-Grimm-Preises das Internet in düsteren Farben gemalt hatte (SZ-Version der Rede und FAZ-Version der Rede). Die mögliche Verrohung, die durch das Internet um sich zu greifen drohe, sei eine ungeahnte Gefahr für Menschheit und Zivilisation. Er forderte damals eine gesellschaftliche Debatte, die sich mit Kinderpornografie und Kriminalität auseinandersetzen müsse, um das Schlimmste zu verhindern.

Nun wird der Herausgeber der FAZ durch die Kandidatur der Piraten-Partei auf die helle Seite des Mondes aufmerksam. Unter dem Titel "Die Revolution der Piraten" schreibt Schirrmacher, dass es eine "Ko-Existenz der Plattformen" geben werde. Mehr noch: "Nerds haben die Drehbücher unserer Kommunikation, unserer SMS-Botschaften, mittlerweile unseres Denkens geschrieben." Und weiter: "Was wir erleben, ist der Übertritt einer anderen Intelligenzform in den Bereich der Politik." Zwar könne man heute noch nicht sagen, ob dies "durchweg zum Guten" der Menschheit sei - aber immerhin: Das Gute im Internet wird denkbar. Und: "Die Fragen, die die digitale Intelligenz stellt, sind legitim und überfällig."

Es ist Schirrmacher hoch anzurechnen, dass er auch vor Kritik an der eigenen Branche nicht haltmacht und sogar Selbstkritik übt: Der "Nerd" (für Schirrmacher der Archetyp des Internet-Intelligenzlers) fehlt nicht nur in den Salons und auf den Parties, "er fehlt, wie ich feststelle, auch in allen meinen Artikeln und in fast allen Artikeln meiner Kollegen der letzten Jahre".

Im November wird nun Schirrmachers neues Buch "Payback" bei Blessing erscheinen. Der zitierte Artikel liest sich wie ein Vorabdruck, wenngleich die Verlagsankündigung des Verlages noch den Pessimimus der Jacob-Grimm-Rede enthält: "Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen."

Die Fragen, die die digitale Intelligenz stellt, sind nicht mit Kontrollmechanismen zu unterbinden. Schirrmachers Forderung, den Vordenkern "zuzuhören und mit ihnen zu reden", stellt einen vernünftigen Anfang dar. Allerdings wird es kein gemütlicher Kaffee-Plausch, bei dem man Nettigkeiten ausgetauscht werden. Wie jede Revolution fordert auch die digitale Revolution radikale Veränderungen. Mehr noch: Über das neue Kommunikations- und Informationssystem des Internet werden gegenwärtig bereits viele Veränderungen durchgesetzt - ohne auf die Zustimmung jener Teile der Gesellschaft zu warten, die bisher die Deutungshoheit für sich reklamieren konnten.

Diese Veränderungen bedeuten einen radikalen Bruch mit den bisher vertrauten Spielregeln in gesellschaftlichen Debatten
: Alle Beteiligten müssen sich ihre Autorität erst verdienen. Gedanken werden ineinander verwoben, weil es kein Oben und Unten mehr gibt, sondern vor allem die gemeinsame Suche nach der besten Lösung für unsere in der Tat unübersehbaren globalen Probleme. Gaming, Videos, Interaktion und kollaborative Kommunikationsprozesse haben sich ihren gleichberechtigten Platz in jenem Raum erobert, in dem gesellschaftliche Definitionen formuliert werden. In dem Maß, in dem Kommunikationsprozesse für die Gesellschaft überlebensnotwendig sind, wird diese Gesellschaft auch unbeeindruckt von kommerziellen Erwägungen agieren. Viele Geschäftsmodelle funktionieren im Internet nicht, weil es um Prozesse geht, die wichtiger sind als das Geldverdienen. Es wird keine kulturelle Dominanz mehr geben, weil die Menschheit ein globales Kommunikationsmittel braucht. Alle Kulturen werden dazu beitragen, und am Ende werden hoffentlich alle mehr gewinnen als verlieren. Ebenso wie nationale Grenzen werden auch alle Altersbeschränkungen fallen - nach oben und nach unten. Kinder und Jugendliche werden ungeachtet ihres Alters wesentliche Beiträge liefern, und alte Menschen werden sich über die Ghettoisierung hinwegsetzen, die ihnen das Fernsehen mit der Definition der "werberelevanten Zielgruppe, 14-49 Jahre" aufgezwungen hat.

In diesen Veränderungen steckt eine Menge Potenzial für Tabubrüche
. Solche sind immer schmerzhaft, besonders für jene, die von Tabus bisher profitiert haben. Weil die neuen Regeln des Internet zwar kollaborativ, aber eben nicht konsensual aufgestellt werden, treten wir alle in eine große Phase des Lernens ein. Das ist anstrengend, und nicht alle werden da freudig mitmachen.

Daher ist es besonders wichtig, den Prozess der "Revolution der Piraten", wie Schirrmacher das Ganze nennt, nicht mit romantischer Bewunderung für die "Nerds" in den Bereich des Kuriosen abzuschieben. Es werden sich alle einlassen müssen, Computerkids und Feuilletonredakteure, Frau von der Leyen und die Hacker vom Chaos Computer Club. Auch sind es am Ende nicht selbsttätige Algorithmen, die das Heil bringen.

So faszinierend die Mathematik ist - am Ende werden wir eine neue gemeinsame Moral entwickeln. Diese wird dann doch wieder konsensfähig sein müssen, wenn wir denn gemeinsam die Welt retten wollen. Ein Abstimmungsprozess darüber, was gut und was böse ist, wird viel komplexer und dynamischer sein als das, was wir bisher kulturgeschichtlich so erlebt haben. Die Entwicklung des Internet zu einem menschlichen "Superhirn" ist keine Marketingveranstaltung. Gerade weil ein ungeordneter, chaotischer Prozess auch viele Gefahren birgt, kommt es im Kantschen Sinne auf den einzelnen an. Dieser hat alle Möglichkeiten, in jedem denkbaren Sinn. Die Beschreibung dieses Prozesses wird auch zu einem Goldgräber-Zeitalter des Feuilletons führen. Als ihr Scout ist Frank Schirrmacher im Wilden Westen der digitalen Zukunft angekommen. Yeah!              Michael Maier

Michael Maier war Chefredakteur der Berliner Zeitung, des Stern und der Netzeitung. Zuletzt hat er ein (geschwätziges, K.W.) Buch vorgelegt: "Die ersten Tage der Zukunft - Wie wir mit dem Internet unser Denken verändern und die Welt retten können", Pendo Verlag, 19,90 Euro.

Wikipedia:
Nerd
(engl.) für Langweiler, Sonderling, Streber, Außenseiter) steht für besonders in Computer oder andere Bereiche aus Wissenschaft und Technik vertiefte Menschen. Manchmal wird auch ein überdurchschnittlicher Intelligenzquotient (IQ) als begleitende Eigenschaft genannt. Die moderne Bezeichnung für Computerfreak ist Nerd, wobei diese Bezeichnung in Computerkreisen als echtes Kompliment gilt, darüber hinaus aber auch abwertende Anklänge im Sinne von Eigenbrötler aufweisen kann.

 

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FAZ  21. September 2009  Von Frank Schirrmacher

Aufstieg der Nerds  - Die Revolution der Piraten

Der Nerd erwacht zum politischen Tier

Die Journalistin Dagmar von Taube bringt demnächst einen offenbar sehr interessanten Fotoband über die Berliner Gesellschaft heraus. Bei dem wenigen, das man gesehen hat, handelt es sich um ein Panorama von Schönheit und Coolness und Macht, von Clubs und Bars, von Partys und Gastwirten – ganz Berlin, so scheint es, ist ein einziger Grill, auf dem Königskinder von heute in glühender Liebe zu Kunst und Smalltalk vor sich hin brutzeln. Aber ehe daraus eine neue Ära wird, hier der Hinweis: Etwas fehlt.

Es fehlt nicht nur hier, es fehlt überall, wo solche balzacschen Gemälde entworfen werden. Es fehlt, wie ich feststelle, auch in allen meinen Artikeln und in fast allen Artikeln meiner Kollegen der letzten Jahre. Es fehlt nicht nur in Berlin, sondern in München, Frankfurt und Münster. Wir haben es entweder alle übersehen oder nicht ernst genommen, auch deshalb, weil Coolheitsgesichtspunkte einer Pop-Ökonomie dagegen sprachen. Fragen Sie jeden Feuilletonredakteur: Was ist cooler? Ein wabernder, wilder Text des Kult-Denkers und Model-Ehemannes Slavoj Zizek, der uns züchtigt und uns unsere eigene Spießigkeit schmerzlich bewusst macht; oder sind es die Satzbefehle, die irgendein pizzaverschlingender Zwanzigjähriger in seinem mit „Star Wars“-Memorabilien vollgestopften Kinderzimmer jetzt gerade in seinen Computer tippt? Könnte man sich vorstellen, dass sie in einem von Dagmar von Taubes Get-togethers, während Nadja Auermann und Norbert Bisky noch feiern und flirten, über das Problem von Botnets oder die besten Verfahren der „würdevollen Herabstufung“ reden, der Art und Weise, wie man Websites auf Handys darstellt?

Kurz: was fehlt, sind die Nerds.

Typologie des Nerds

Und jetzt, da sich aus ihrem innersten Kern eine neue und wahrscheinlich bald auch immer un-nerdigere, weil moderne politische Bewegung formiert, kann man nicht anders, als voller Respekt und ohne Ironie ihren Siegeszug zu rühmen. Sie haben die Gesellschaft längst geentert, noch ehe Teile von ihnen sich als „Piraten“ zusammentaten. Ob die „Piraten“ Nerds sind oder nicht, ist eine der am heißesten diskutierten Fragen der politischen Blogs im Internet. Mit gutem Grund: der klassische Nerd trägt Kopfhörer, während er sich tief über seine Computertastatur beugt und gedankenlos mit der linken Hand nach einem kalten Stück Pizza greift. In „Jurassic Park“ war der Typus, gespielt von Wayne Knight, zu besichtigen.

Nerds sind meist männliche junge Leute, die schon im Alter von vier Jahren damit beginnen, Spielzeugautos, Radios und Computer zu zerlegen und ganz anders wieder zusammenzubauen. Es gibt auch weibliche Nerds. Marissa Meyer von Google, die sich selbst einen Nerd nennt, ist die prominenteste Frau. Nerds verehren Daniel Düsentrieb, Jules Verne und später Neal Stephenson. Meist fallen sie schon frühzeitig durch einen unbändigen Basteltrieb auf. Früher konnte man sie in der Schule leicht erkennen: Sie hatten Diplomatenkoffer mit Nummernschloss, dessen Code sie täglich änderten, trugen Pferdeschwanz und schwarze T-Shirts mit „Ultima Online“-Logo. Der Typus ist seltener geworden, aber, wie ein Blick in das Publikum des letzten ZDF-Wahlforums zeigte, nicht ganz ausgestorben. Ausgehend vom neuen Google-Stil sind Nerds heute von der Pizza-und-Cola-Phase in das „Healthy food“-Biotop gewechselt und deshalb, anders als die großen Nerd-Pioniere wie Jaron Lanier und Nathan Myrvold, nicht mehr ohne weiteres zu erkennen.

Ein Foto des jungen Bill Gates. Aufgenommen 1978. Es ist das letzte Jahr der Ruhe. Noch ein Jahr, dann wird, wie Gates später erklären wird, der „digitale Tsunami“ losbrechen. Dann wird klar werden, dass ein Massenmarkt für Computertechnologie entsteht. Das Foto zeigt einen etwas bleichen, jungen Mann mit ziemlich dicken Brillengläsern. Zwei Jahre zuvor hatte er bei einer Tupperware-Party seiner Mutter sein erstes Computerprogramm vorgeführt und war unter Flüchen und Wutanfällen gescheitert. „Er geht wohl nicht in Discos“, soll eine Freundin seiner Mutter bemerkt haben.

Die Programmierung der Welt

Porträts des Tycoons als junger Mann: Es gibt noch viele davon, von Bill Joy, dem Gründer der Computerfirma „Sun“, von Danny Hillis, der den ersten Parallelrechner erdachte, von Charles Simonyi, der die wichtigsten Anwendungsprogramme erfand. Und dann sind da die zwei jungen Männer. Sie haben zwar keine dicken Brillen, aber während ihre Kommilitonen in Clubs abhängen, sitzen sie zu Hause und spielen mit Lego. Sie bauen einen bunten Turm aus Legosteinen, einen Quader, wie man ihn aus jedem Kinderzimmer kennt, nur dass hier im Inneren eine Zentraleinheit, eine Festplatte und ein Algorithmus versteckt sind. Vier Jahre später wird dieser Legoturm das Herz der wertvollsten Firma der Welt geworden sein, die in allen ihren Niederlassungen Legosteine verstreut und in ihrem Markenzeichen „Google“ bis heute den Farben Legos huldigt.

Die Nerds, die die Sprites auf ihrem C-64-Homecomputer programmierten, während ihre Mitschüler in Clubs oder auf Demos waren, haben buchstäblich die Welt programmiert, in der wir uns heute bewegen. Wenn wir der modernen Welt ein Gesicht geben wollen, reden wir von Wall-Street-Haien und Managern, aber wir sollten anfangen, über Nerds zu reden. Dieser Text ist in Word geschrieben. Word stammt von Charles Simonyi. Bereits als Vierjähriger im kommunistischen Ungarn spielte er in der damals noch begehbaren Zentraleinheit des Computers, den sein Vater bediente.

Mit zehn bestach er das Aufsichtspersonal, um an dem Computer, der mit riesigen Hebeln statt einer Tastatur ausgestattet war, zu programmieren. Mit achtzehn verließ er Ungarn. In Amerika schlug er sich als Privatlehrer durch und saß nächtelang vor einem uralten IBM-Rechner. Mit einunddreißig lehrte er Bill Gates kennen. Für ihn erfand er „Word“ und „Excel“, zwei Programme, die in den Tiefen des Codes kleine Gedenktafeln eingebaut haben, die sagen, dass sie „vom Ungarn“ („the Hungarian“) stammen. Und dann, mit über fünfzig, lässt sich der Jules-Verne- und „Star Wars“-Fan von den Russen auf eigene Kosten ins Weltall schießen. Das ist sozusagen der Nerd in Reinkultur.

Drehbuch unseres Denkens

Word-Erfinder und Weltraumtourist Charles Simonyi

Der Nerd ist ein Wunder der Technik. Aber jetzt wird er zu einem Wunder unserer Gesellschaft. Man würde ihn in unserer coolen Glamourwelt auf jeder Party übersehen, er würde kaum reden und keinen Wirbel machen. Ein großer Fehler, wie wir womöglich bereits nach der Bundestagswahl bemerken werden.

Nerds sind Menschen, die wissen wollen, wie Dinge funktionieren. Sie benutzen Schraubenzieher und sehr große Lupen. Sie zerlegen Radios und Computer und bauen sie dann wieder zusammen. Allerdings kann der Computer dann Kaffee kochen, und das Radio sucht nach Signalen außerirdischen Lebens. Das erste Nerd-Programm im Internet war eine Webcam, die auf eine Kaffeemaschine in Oxford gerichtet war.

Nerds, heißt es, haben es in der Pubertät etwas schwerer als die Raver, eine Freundin zu finden. Das stachelt sie umso mehr an. Das Ergebnis liegt vor unser allen Augen: Nerds haben die Drehbücher unserer Kommunikation, unserer SMS-Botschaften, mittlerweile unseres Denkens geschrieben. Sie sind die größte Macht der modernen Gesellschaft. Ihre Texte verstehen Außenstehende nicht, obwohl sich alle nach ihnen richten, und sei es, wenn sie Suchbefehle bei Google eingeben. Es waren die Nerds, die als Erste erkannten, dass deshalb die Codes offen sein müssten, überprüfbar und zumindest lesbar für die anderen Nerds. Denn es gibt, wie überall, Abspaltungen, Verrat, Seitenwechsel auch bei den Nerds. Eine besonders gefährliche Gruppe sind die quants, die quantitativen Analysten; sie schrieben die Software für die Finanzprodukte, die die Katastrophe brachten.

Der Nerd als politisches Tier

Ihrem Wesen nach sind Nerds individualistisch. Aber sie sind Individualisten, die dank der digitalen Technologie die größte Vernetzungsstufe der Menschheitsgeschichte möglich gemacht haben: Vernetzung einzelner Subjekte, die ihren Charakter und ihre Individualität bewahren können, nicht nach ihrem Äußeren beurteilt werden, nicht nach ihrem Geschlecht, nicht nach ihrem Diplomatenkoffer oder ihrer Jute-Tasche. Die Organisation ist so geschlechtsneutral, wie es das Internet ist. Das erklärt, wieso sie politisch geweckt wurden, als die Grundregeln bedroht zu sein schienen. Und das macht sie wichtig und notwendig.

Über die „Piraten“ lässt sich Endgültiges noch nicht sagen. Die Partei betrachtet die modernen Technologien als ein Instrument der Emanzipation. Ihr harter Kern ist nerdig, doch Jens Seipenbusch, der Bundesvorsitzende und ein Intellektueller von Format, zeigt bereits den Übergang: die Verwandlung des Nerds in ein politisches Tier. Würden die Nerds jetzt oder bald ein politisches Mandat erringen, wäre das, nachdem sie die Kommunikation der Gesellschaft revolutioniert haben, ihr erster Triumph nicht mehr nur in der Welt der Legosteine, sondern in der Welt von Zement und Mörtel. Vielleicht würden die wahren Nerds im Lauf der Zeit und bei größerem Erfolg immer weniger, so wie sich in den achtziger Jahren die bärtetragenden strickenden Männer bei den Grünen keinen Außenminister Joschka Fischer haben vorstellen können. Aber zu glauben, es handele sich um das Partikularinteresse einer partikularen Öffentlichkeit, wäre ein großer Fehler.

Mathematisierung des Verhaltens

Was wir erleben, ist der Übertritt einer anderen Intelligenzform in den Bereich der Politik. Ob durchweg zum Guten, das lässt sich heute noch nicht sagen. Für das Problem des Urheberrechts haben die „Piraten“ so wenig eine Antwort wie die anderen: Ihr heutiges Programm, umgesetzt, bedeutete das Ende von Verlagen und Künstlern. Auch über den abgründigen Herrn Tauss sollte man schweigen, solange das Urteil nicht gesprochen ist. Jedenfalls verzichten die „Piraten“ glücklicherweise darauf, ihn zu einer Galionsfigur zu machen. Man kann nur hoffen, dass es so bleibt. Wenn die Schwäche eines Gesetzes dadurch bewiesen werden soll, dass ein Bundestagsabgeordneter aus angeblichen Recherchegründen einschlägige Daten empfängt und versendet und das Ganze dann auch noch mit den Worten „Geiles Material“ quittiert, dann ist man froh, dass es Gerichte gibt, die der „Recherche“ nachrecherchieren.

Doch wer diese Bewegung zu Befürwortern von Kinderpornographie machen wollte, handelte nicht nur moralisch, sondern auch intellektuell höchst unüberlegt. Die Fragen, die die digitale Intelligenz stellt, sind legitim und überfällig. Dazu zählt auch das Netzsperrengesetz. Kein Mensch bestreitet die Notwendigkeit, der Täter habhaft zu werden. Aber es wäre einem wohler, die Bundesregierung lüde die Kritiker ein, um gemeinsam ein Verfahren zu entwickeln, das funktioniert.

Noch hat die Politik, haben viele Menschen kaum eine Ahnung, wie fundamental die Informationstechnologien unser Verhältnis zu uns selbst verändern werden. Immer mehr Menschen bewegen sich in Informationsökologien, die harmlos wirken, aber in deren Untergrund hochkomplexe Berechnungen laufen, die menschliches Verhalten in Mathematik verwandeln. Das Feedback, das diese Systeme auf das „wirkliche“ Leben haben, lässt sich erst in Ansätzen erkennen. Aber klar ist, eine Welt, in der vom Arbeitgeber bis zur Krankenversicherung ganze Lebensläufe in Daten zerhackt, neu zusammengesetzt und interpretiert werden, Daten, in denen nicht nur Aussagen über die Gegenwart, sondern auch über die Zukunft, die Leistungskraft, die Kreativität und womöglich auch die politische Einstellung von Menschen gesammelt werden, eine solche Welt verändert ihr Verhältnis zur Freiheit fundamental.

Sie sind, was Sie sagen

Insofern ist das Programm der Nerds, ob sie nun in der Piratenpartei sind oder in anderen Parteien, noch viel zu bescheiden. Sie, die die Systeme kennen, müssen, wie seinerzeit die Renegaten der Atomspaltung, in politische Sprache übersetzen, was technisch möglich ist, was es aus uns macht und wie wir uns dagegen wehren können. In den Vereinigten Staaten sind Verhaltensvoraussagen zur Abwehr von terroristischen Verbrechen bereits ein florierender Markt. Aber eine Software, die solches Verhalten vorhersagen kann, kann das auch womöglich bei anderen Fragen. Das betrifft nicht nur den Staat, der das Internet erst mit der nächsten Politikergeneration wirklich entdecken wird, sondern vor allem auch Wirtschaft und Unternehmen.

2006 veröffentlichten fünf Forscher der Universität Minnesota einen Aufsatz mit dem Titel „Sie sind, was Sie sagen: Bedrohung der Privatsphäre durch öffentliche Äußerungen“. Was sie zeigten – mittlerweile ist die Technik ausgereifter –, war nichts anderes, als dass es Softwareprogramme gibt, die durch Zugriff auf Online-Datenbanken selbst bei Anonymisierung unglaubliche Korrelationen und Profile herstellen können. Da Menschen, über das, was sie mögen, gerne kommunizieren, einen Film, ein Musikstück, ein Foto, und da sie das meistens auf mehreren Plattformen tun, von Facebook über Amazon bis zum eigenen Blog, haben die Forscher gezeigt, dass es schon bei Verwendung von zwei Datenbanken möglich war, sechzig Prozent jener Menschen zu identifizieren, die acht oder mehr Filme erwähnten.

Die Fragen, die aus Verhaltenssteuerung und Voraussage sich ergeben, aber auch die Abhängigkeit des modernen Menschen von unverstandenen Algorithmen sind Kernfragen der gesellschaftlichen Zukunft. Sie werden nicht weggehen und nicht ein für alle Mal gelöst werden können. Aber es ist entscheidend, dass man erkennt, dass die Informationsgesellschaft auf andere Weise, aber mit ähnlicher Dramatik unser Leben revolutioniert, wie es einst die Maschinenparks des industriellen Zeitalters taten.

Großhirn der Gesellschaft

Und dazu brauchen wir Nerds. Sie sind eine politische Kraft, ziehen Nicht-Nerds an sich heran und werden bald auch die anderen Parteien verändern.

Die digitale Intelligenz, für die der Urkern der Piratenpartei nur ein Symbol ist, denkt nicht mehr psychologisch. Hier reden Experten der Informationsverarbeitung. Es sind Leute, die nichts so sehr interessiert wie die Frage, wie Informationen zustande kommen, weil dann erst über ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit geurteilt werden kann. Sie glauben zunächst nicht an höhere Einsichten, sondern an Algorithmen, das heißt an stufenweise aufgebaute Rezepte, die zu einem Ergebnis führen. Alles das, was hochkomplexe mathematische Theorien, sei es der Verhaltensökonomik, sei es der modernen Psychologie, in den letzten Jahren an neuen Erkenntnissen über das Zustandekommen von richtigen oder unrichtigen Entscheidungen herausgefunden haben, ist für sie längst Lebenswirklichkeit. Sie erleben es praktisch im Netz.

Jeder bekanntere Blogger kann die Effekte von Gruppenurteilen und Gruppenpolarisierungen auf seiner eigenen Seite in Echtzeit studieren, jeder weiß, dass das Ergebnis einer Debatte über Wertfragen manchmal nur von der mathematischen Einschätzung durch rivva.de oder Google abhängt, jeder erlebt, wie ein felsenfester Konsens binnen Sekunden durch Kommentatoren aufgebrochen werden kann und durch Feedback zu einem neuen Konsens wird – und wer das alles nicht selbst erlebt, kann es bei Wikipedia oder Google-News studieren. Das Netz beendet das Verhältnis von Macht und Gedanken nicht, es verteilt es nur neu. Wer in den letzten Tagen gesehen hat, dass eine sich als PR-Trick herausstellende Information über einen angeblichen Selbstmordanschlag in einer nicht existierenden amerikanischen Stadt über Twitter kommuniziert und am Ende von der dpa in alle Welt verbreitet wird, der weiß, dass „Urteile“, „Meinungen“ und psychologische Trends mathematischen Mustern folgen.

Anders aber, als die Cyber-Propheten glauben, ist das Netz auch strukturell keineswegs der Ort der Freiheit, als der es, auch aus Marketinggründen, annonciert wird. Man muss es anders formulieren: Das Netz stellt, gerade wegen seiner kontrollierten Strukturen, viele Freiheitsfragen auf ganz neue Weise. In seinem Maschinenraum arbeitet Software, die gleichsam über unendlich viele Aktenordner, Protokolle, Querverweise, Fußnoten, Eingaben das Verhalten steuert und prägt, ohne dass man es merkt. Die Vorstellung, dass das Netz an sich frei und kostenlos sei, ist eine der stärksten Illusionen der Gegenwart. Es ist einer der meistkontrollierten Organismen, die wir kennen. Moderne Informationstechnologien sind dezentral, aber ihrem Wesen nach bürokratisch.

Deshalb siedeln die „Piraten“ an einem Ort, den sie selbst erst vermessen, der aber, nach allem, was wir heute wissen, nicht das Herz, sondern das Großhirn moderner Gesellschaften betrifft. Die jungen Vertreter des alten Parteiensystems haben mit wachem Instinkt festgestellt, dass die „Piraten“ zwar einerseits kommerzfeindlich (Kopierschutz), in einigen ihren Strömungen partiell marxistisch (Vergesellschaftung der Inhalte), aber andererseits in ihrem Individualismus auch durchaus neoliberal sind. Eines der ersten Piratenschiffe im England der sechziger Jahre, das gekaperte Musik in den Äther sendete, hieß „The Laissez Faire“.

Doppelte Moral

Die existentielle Frage des geistigen Eigentums beispielsweise wird im Augenblick vor allem technisch beantwortet. Da das Internet kostenlose Kopien von allem und jedem zu Nullkosten erlaubt, folgt in den Augen der Piraten daraus die prinzipielle Freiheit der Inhalte. Es aber ist eine Schlüsselfrage der digitalen Zukunft, dass sich jedermann der unerwünschten Verbreitung und des Diebstahls seines geistigen Eigentums widersetzen kann. Jonas Andersson hat das soeben am Beispiel der schwedischen Website „Pirate Bay“ (die mit den „Piraten“ nicht in einen Topf geworfen werden kann) gezeigt. Die Gruppe der freien Inhaltelieferanten im Netz, jener Elite, die in eigenen Blogs und Foren Beiträge, Analysen und Kommentare liefert, ist im Vergleich zu denen, die sich ausschließlich fremder Inhalte bedienen und sie auch noch verkaufen, erstaunlich gering.

Viele, die im Netz das Urheberrecht in Frage stellen, basteln mittlerweile an ihrem eigenen Geschäftsmodell, und das ist vielleicht die aktuellste Erscheinungsform doppelter Moral: Es ist kein Zufall, dass der kluge Chris Anderson, Chefredakteur von „Wired“ und Autor des Buches „Free“, sowie der Cyber-Evangelist Jeff Jarvis ihre Bücher gegen Geld verkaufen und ihre Verlage Urheberrechtsverstöße streng ahnden. Allerdings muss man auch hier die Genese kennen: Kopierschutz bei Software oder Musik, der den Gebrauch fast unmöglich macht, und die potentielle Kriminalisierung der Computer-Kids, die sich ein Spiel kopieren, standen am Anfang der Massenbewegung.

Wir müssen reden

Womöglich sind die „Piraten“ längst nicht mehr die Nerds, die insbesondere Grüne wie neulich Julia Seeliger in einer klugen Analyse in ihnen zu erkennen glauben. Auf alle Fälle sind sie der Kern der ersten digital-sozialen Bewegung. „Eure Wurzeln sind nur im Netz“, schrieb Julia Seeliger in ihrem „taz“-Blog, um zu begründen, warum sie die „Piraten“ zwar begrüße, aber sie nicht wählen werde.

Das Netz freilich ist jetzt selbst eine Ökologie geworden und wird, im unmittelbar bevorstehenden, durch den Vorboten Twitter schon spürbaren Echtzeit-Internet, über die mobilen Geräte die Mauern zwischen der materiellen und der digitalen Welt noch löchriger machen. Das wird, anders als viele glauben, nicht auf Kosten des Papiers gehen, sondern ihm eine neue Rolle in der Ko-Existenz der Plattformen zuweisen. Dazu braucht die Gesellschaft Gesprächspartner, wenn sie nicht nur den Codes der Software und des nächsten Hypes folgen will. Es wäre schön für alle, wenn die „Piraten“, ganz gleich ob als Partei oder als Bewegung, ein solcher Gesprächspartner sein könnten. Um das herauszufinden, gibt es keine prognostische Software. Aber es gibt die Möglichkeit, ihnen zuzuhören und mit ihnen zu reden.

© Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH 2009.

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Debatte  30. Oktober 2007 Von Frank Schirrmacher

Wie das Internet den Menschen verändert

Journalisten werden in amerikanischen Filmen gerne mit einem Stift hinter dem Ohr porträtiert, auch Lebensmittelhändler übrigens und Wettbürobesitzer. Kein besonders imposantes Werkzeug, also. Und doch hat es ausgereicht, von den ersten Ritzungen in Ton, die die Höhlenmenschen ausführten, bis zu Einsteins Relativitätstheorie, alles auszudrücken, was wir sind. Und es reichten Stift und Papier, um wie Joanne K. Rowling von der Sozialhilfeempfängerin zur reichsten Frau Englands aufzusteigen.

Wer sich mit Fragen des Schreibens und Lesens befasst, redet auch von ABC-Schützen, die möglicherweise einmal die Welt aus den Angeln heben könnten. Das Problem ist nur: Es gibt kaum noch ABC-Schützen und das, was die Stifte einst leisteten, tun nun die Laptops. Beide Parameter zusammen beschreiben exakt, was wir die Krise der Medien nennen.

Jacob Ludwig Karl Grimm, geboren 1785, gestorben 1863; er steht am Beginn des großen Zeitalters der Erfindungen. Im Jahr seiner Geburt wird der mechanische Webstuhl erfunden, in seinem Todesjahr die Rollen-Rotationsmaschine für Zeitungen patentiert, und Henry Ford wird geboren. Mit Jacob Grimms Jahrhundert beginnt unwiderruflich die Epoche der Beschleunigungen. Es sind die Erfindungen, die Einst und Jetzt sortieren, eine Zeit vor der Elektrifizierung und eine Welt danach, eine Welt vor dem Automobil und eine Zeit danach.

Man muss das erwähnen, weil auch Grimm auf seiner Lebensbahn gemeinsam mit seinem Bruder eine eigene Erfindung macht: Er fand eine Luke in der Zeit, durch die man sich in die Welt des „Es war einmal“ befördern kann; durch die Märchen.

Eine andere Chronologie

Die Grimms geben so dem Leben bis heute eine andere Chronologie, gleichsam, als würde ein anderes Zifferblatt unter die Zeiger gelegt. Und in seiner Schrift „Über das Alter“ hält Jacob Grimm fest, wie subjektiv und veränderlich der Zeitbegriff immer war: „Unter unsern Vorfahren hergebracht war eine zusagende, progressive Berechnung des Menschenalters, wie sie ein Hausvater den ihm zunächst umgebenden Gegenständen entnehmen konnte. Ein Zaun währt drei Jahre, ein Hund erreicht drei Zaunes alter, ein Ross drei Hundes Alter, ein Mann drei Rosses Alter. . .“

Wir, fast alle noch Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts, haben Geschichte abgelesen an denen, die uns die Märchen vorlasen, Eltern und Großeltern. Sie waren Menschen, an deren Lebensanfang noch die Pferdekutsche und an deren Lebensende die Mondlandung stand, Kriege, Revolutionen und Inflationen gar nicht gerechnet. Weder unsere Eltern und Großeltern, noch die Älteren, mit denen ich sprach, vom hundertjährigen Hans-Georg Gadamer bis zum neunundneunzigjährigen Ernst Jünger, konnten wirklich erklären, wie sich das anfühlte, als die Gesellschaft in die technische Moderne katapultiert wurde. Sie behalfen sich mit dem Märchen-Ton: „Damals, als es noch keine Autos gab. . .“ Was war und sich nicht modernisieren konnte, stürzte über Nacht oder wurde in ein Museum verwandelt.

Anstehen vor Telefonzellen

Ich erkenne erst jetzt, dass sämtliche technische Revolutionen, denen ich ausgesetzt war, solche der Kommunikations- und Informationswelt waren. Versuchen Sie mal, die Frage Ihrer Kinder und Enkel zu beantworten: Wie sie denn war, die Welt als man sich vor Telefonzellen anstellen musste? Als es noch kein Fax, kein Internet oder Laptop gab. . . Eine Jugend mit nur zwei Fernsehsendern? Verabredungen, die man umständlich planen musste, weil es keine Möglichkeit gab, sich unterwegs zu verständigen? Zeitungen ohne Bilder auf der Titelseite?

Kann sich heute irgendein Journalist, Schreibender, ja Handelnder in diesem Land noch daran erinnern, wie er Informationen vor der Epoche der Suchmaschinen sammelte? Zum ersten Mal hat die Beschleunigung das Instrument des Berichtens und Erzählens, die Schrift und ihre Verbreiter, selbst betroffen. Erst 1994, das ist dreizehn Jahre her, tauchte zum ersten Mal das Wort „World Wide Web“ auf. Was wird in dreizehn Jahren sein? Manche glauben, der Prozess sei faktisch abgeschlossen und differenziere sich nur noch im Detail. Das halte ich für unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass die technologische Revolution sich überhaupt jetzt in der Gesellschaft selbst bemerkbar macht. Nachdem die Werkzeuge verändert wurden, verändern sich die Menschen.

Immer mehr Nichtleser

Die erste Generation, die seit ihrer Geburt vom Internet geprägt wurde, macht jetzt Abitur. Gleichzeitig steigt der Anteil an jungen Menschen, die bekennen, gar nicht mehr zu lesen, dramatisch an. Und man wende nicht ein, dass der Mensch auf den Vorgang des Lesens nicht verzichten kann. Das Gegenteil ist der Fall. Neben vielem anderen ist das Netz auch ein Medium, das in steigendem Maße Nicht- oder Fastnichtmehrlesen ermöglicht, und wer das nicht glaubt, schaue sich die Verfilmung von Archiven bis zu Gebrauchsanweisungen auf Youtube an.

Die Welt, die gerade nachwächst, wird schon in jungen und vielleicht sogar jüngsten Jahren Bilder und Filme gesehen haben, von denen wir uns gar keine Vorstellung machen. Mag sein, dass die Warnung vor jugendgefährdendem Schriften und Filmen in der Vergangenheit oft prüde und unrealistisch war. Doch was Kinder und Jugendliche heute unkontrolliert sehen können, ist pornographischer und gewalttätiger Extremismus, wie ihm niemals zuvor eine Generation ausgesetzt war, und gegen den man sich, zumindest als Jugendlicher, nicht immunisieren kann.

Vollständige Abstumpfung

Florian Henckel von Donnersmarck hat dies unlängst an dem amerikanischen Erfolgsfilm „Superbad“ illustriert. Der Film, als Teenie-Komödie annonciert, zeigt die erste Internetgeneration, die in ihrer eigenen Sprache spricht und darin ihr Bild von Frauen respektive Männern ausdrückt. Diese Sprache ist beängstigend roh, sie kommt aus den Bildern und handelt von den Praktiken, die diese Protagonisten in irgendwelchen Nischen des Internets gesehen haben. Bilder, die jeder, der sie einmal gesehen hat, nie wieder vergessen kann, es sei denn um den Preis vollständiger Abstumpfung.

Wir riskieren, die wenigen Kinder, die unsere Gesellschaft in Zeiten des demographischen Wandels hat, auf Dauer mit seelischem Extremismus zu programmieren, wenn wir nicht bald eine Debatte über pornographische und kriminelle Inhalte im Internet beginnen. Und wenn Sie die Infektionsausbreitung verfolgen wollen, zählen Sie, wie viele Tote neuerdings auch in Nachrichtensendungen oder Illustrierten gezeigt werden.

Die schönste Herausforderung

Ich möchte nicht missverstanden werden. Dies ist kein Kulturpessimismus. Gerade diese Beispiele zeigen, warum wir gebraucht werden und was geschieht, wenn man die vermittelnden Instanzen der großen Zeitungen ignoriert. Es gibt keine schönere Herausforderung für uns als diese: Nicht nur das Internet zu erobern, sondern auch gegenzuhalten und Optionen anzubieten.

Eine Option ist die Tageszeitung selbst, die von manchen allzu voreilig totgesagt wird - und zwar gerade von jenen mit Vorliebe, die von der Ausbeutung fremder redaktioneller Inhalte leben. Die Umlaufgeschwindigkeit von echten und halbseidenen Nachrichten im Internet ist enorm, und auf den ersten Blick kann man sie nicht voneinander unterscheiden. Sie tauchen ebenso schnell auf, wie sie verschwinden.

Die Zeitung liefert eine Haltbarkeit von mindestens 24 Stunden, und in ihren Kommentaren, Rezensionen und Kritiken will sie sogar vor der Nachwelt bestehen. Im Vergleich zum Internet ist sie ein retardierendes, also verzögerndes Moment in der gesellschaftlichen Kommunikation, und gerade deshalb wird sie immer unverzichtbar sein.

Gelehrte und X-Men

In Deutschland nennen wir das, was wir tun, „Qualitätsjournalismus“, und gemeint ist ein Journalismus der großen Zeitungen, der nicht nur auf Verlässlichkeit setzt, sondern auch einer redaktionellen Ausstattung bedarf, die diese Verlässlichkeit sichert. Zeitungen sind Qualitätszeitungen, weil sie auch dort analysieren, wo vorläufig kein „Markt“ im herkömmlichen Sinn existiert, in der Latenz, in den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Tiefenschichten des eigenen Landes und der globalen Gemeinschaft.

Oft gleichen die Redaktionen dieser Zeitungen Gelehrten-Republiken mit X-Men-Einschlag. Wer glaubt, dass sich, wie in Amerika gesehen, Redaktionen von Zeitungen einzig nach Rendite rechnen sollten - womöglich einer, durch die ein Kaufpreis kompensiert werden soll - wird erleben, dass die Zeitung ihr Denken, ihre Kreativität und ihre Marktstellung verliert. Das kann - und das sei jenen gesagt, die in ihre Kalkulation schon den Qualitätsabbau einplanen - sehr schnell gehen.

Eine Zeitung, die einmal aus dem Taktschlag gerät, deren Temperament gebremst und deren geistige Risikobereitschaft entmutigt wird, eine Qualitätszeitung, deren Besitzer einmal die Drehschrauben ansetzen, um zu sehen, wie weit man drehen kann - diese Zeitung verliert auf Dauer ihre Seele. Und es ist, wie man in England, Schweden, Finnland, Amerika, leider auch in Frankreich beobachten kann, praktisch unmöglich, ihr diese Seele jemals wiederzugeben.

Verzagte Chefetagen

Ich wundere mich manchmal über die Verzagtheit in manchen Chefetagen. Die großen, anerkannten Zeitungen haben, was alle anderen wollen: Autorität. Und wenn sie beherzt das Internet als Ergänzung begreifen, gewinnen sie die Zukunft, die die Pessimisten ihnen ausreden wollen.

Glücklicherweise sind wir in der F.A.Z. nicht in dieser Lage. Wir sind, wie alle anderen, durch schwierige Zeiten gegangen, die man fälschlich „Zeitungskrise“ nennt, die aber in Wahrheit eine Anzeigenkrise war. Am Ende ist es gelungen, aus der Krise sogar mit zwei Zeitungen hervorzugehen, der F.A.Z. und ihrer Sonntagszeitung. Ich sage das nicht, um uns zu rühmen und schon gar nicht, um die objektiven Probleme kleinzureden; ich sage es, weil die Zeitung lebt, im Print und im Internet.

Das Jahrzehnt des Qualitätsjournalismus

Jeder, der Augen hat zu sehen, wird erkennen, dass das nächste Jahrzehnt das Jahrzehnt des Qualitätsjournalismus sein wird; er schafft die Bindungskräfte einer medial disparaten Gesellschaft. Schon heute merken wir - und ich glaube, ich spreche damit auch für Kollegen aus anderen Häusern - dass die Durchschlagskraft, die der einzelne Artikel entfaltet, trotz Medienkonkurrenz ungleich größer ist als noch in den achtziger und neunziger Jahren. Das hat damit zu tun, dass in einem kommunikativen Chaos die verlässlichen Stimmen besser durchdringen.

Die, die sich nicht anstecken lassen, die ihre Qualität, also: ihre Inhalte unverändert lassen, werden sein, was diese Gesellschaft dringender benötigt denn je: der geometrische Ort, an dem die Summe des Tages und der Zeit gezogen wird.

Wir fühlen uns gewappnet. Und dennoch gibt es in Deutschland, anders als in allen anderen Staaten Europas, eine Asymmetrie, die nicht nur uns, die allen Zeitungen zu denken gibt. Je stärker der öffentlich-rechtliche Rundfunk ins Internet ausgreift, desto bedrohter werden die Zeitungen. Die öffentlich-rechtlichen Systeme haben begonnen, im Internet zu veröffentlichen; und das mit einem Etat im Rücken, der dem Staatshaushalt eines baltischen Landes entspricht. Sie verfassen Rezensionen im Internet, Kommentare und Tagebücher. Noch ist es nicht soweit. Doch wenn diese gebührenfinanzierten Angebote weiter ausgebaut werden, sind die Zeitungen, die sich durch den Markt finanzieren, wirklich bedroht.

Dieser Text ist die leicht gekürzte Fassung der Dankesrede, die Frank Schirrmacher, Herausgeber des Feuilletons der F.A.Z., anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache 2007 in Kassel hielt.

 

SZ-Version: 29.10.2007  Zeitung und Internet

Wir brauchen eine Debatte

Nicht das Internet ist der Feind des Journalismus, sondern das Kalkül. Vom Pulsschlag des Textes: Ein Plädoyer für ein Jahrzehnt des Qualitätsjournalismus.  
Von Frank Schirrmacher

Am vergangenen Samstag wurde der Journalist Frank Schirrmacher, 48, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in Kassel mit dem Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache 2007 geehrt. In seiner Dankesrede, die wir in Auszügen drucken, setzt sich Schirrmacher kritisch mit Inhalt und Funktion des Internets auseinander und warnt davor, Zeitungen einzig nach Rendite zu berechnen.

Journalisten werden in amerikanischen Filmen gerne mit einem Stift hinter dem Ohr porträtiert. Kein besonders imposantes Werkzeug. Doch hat es ausgereicht, von den ersten Ritzungen in Ton, die die Höhlenmenschen ausführten, bis zu Einsteins Relativitätstheorie alles auszudrücken, was wir sind. Und es reichten Stift und Papier um, wie Joanne K. Rowling, von der Sozialhilfeempfängerin zur reichsten Frau Englands aufzusteigen.

1994, das ist dreizehn Jahre her, tauchte zum ersten Mal das Wort "World Wide Web" auf. Was wird in dreizehn Jahren sein? Manche glauben, der Prozess sei faktisch abgeschlossen und differenziere sich bloß noch im Detail. Das halte ich für unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass die technologische Revolution sich überhaupt jetzt in der Gesellschaft selbst bemerkbar macht. Nachdem die Werkzeuge verändert wurden, verändern sich die Menschen.

Lesen unnötig?

Die erste Generation, die seit ihrer Geburt vom Internet geprägt wurde, macht demnächst Abitur. Gleichzeitig steigt der Anteil an jungen Menschen, die bekennen, gar nicht mehr zu lesen, dramatisch an. Und man wende nicht ein, dass der Mensch auf den Vorgang des Lesens nicht verzichten kann. Das Gegenteil ist der Fall. Das Netz ist auch ein Medium, das in steigendem Maße Nicht- oder Fastnichtmehrlesen ermöglicht, und wer das nicht glaubt, schaue sich die Verfilmung von Archiven bis zu Gebrauchsanweisungen auf Youtube an.

Jetzt aber verändern sich die Gehirne. In welchem Ausmaß das geschieht, ist selbst der Forschung noch nicht klar: Fest steht, dass der ikonographische Extremismus, dem die Jungen und Jüngsten im Internet ausgesetzt sind, wie eine Körperverletzung wirkt.

Die Welt, die gerade nachwächst, wird schon Bilder und Filme gesehen haben, von denen wir uns keine Vorstellung machen. Mag sein, dass die Warnung vor jugendgefährdenden Schriften und Filmen in der Vergangenheit oft prüde und unrealistisch war. Doch was Kinder und Teenager heute unkontrolliert sehen können, ist pornographischer und gewalttätiger Extremismus, wie ihm niemals zuvor eine Generation ausgesetzt war, und gegen den man sich, zumindest als Jugendlicher, nicht immunisieren kann.

Seelischer Extremismus

Die Sprache dieser ersten Internetgeneration ist beängstigend roh, sie kommt aus den Bildern und handelt von den Praktiken, die diese Protagonisten in irgendwelchen Nischen gesehen haben. Bilder, die jeder, der sie gesehen hat, nie wieder vergessen kann, es sei denn um den Preis vollständiger Abstumpfung.

Wir riskieren, die wenigen Kinder, die unsere Gesellschaft in Zeiten des demographischen Wandels hat, mit seelischem Extremismus zu programmieren - wenn wir nicht bald eine Debatte über pornographische und kriminelle Inhalte im Internet beginnen. Und wer die Infektionsausbreitung verfolgen will, braucht nur zu zählen, wie viele Tote neuerdings auch in Nachrichtensendungen oder Illustrierten gezeigt werden.

Dies ist kein Kulturpessimismus. Gerade diese Beispiele zeigen, warum die Zeitungen gebraucht werden und was geschieht, wenn man die vermittelnden Instanzen der großen Zeitungen ignoriert. Es gibt keine schönere Herausforderung als diese: Nicht nur das Internet zu erobern, sondern auch gegenzuhalten und Optionen anzubieten.

Eine Option ist die Tageszeitung selbst, die von manchen allzu voreilig totgesagt wird - und zwar gerade von jenen mit Vorliebe, die von der Ausbeutung fremder redaktioneller Inhalte leben. Fast alles, was im Netz auf Dauer ernst genommen wird, hat seine Urquelle in den Zeitungen. Die Umlaufgeschwindigkeit von echten und halbseidenen Nachrichten im Internet ist enorm. Auf den ersten Blick kann man sie nicht voneinander unterscheiden, sie tauchen auf und sind wieder verschwunden.

Unverzichtbar: die Zeitung

Die Zeitung liefert eine Haltbarkeit von mindestens 24 Stunden, und in ihren Kommentaren, Rezensionen und Kritiken will sie sogar vor der Nachwelt bestehen. Im Vergleich zum Internet ist sie das verzögernde Moment in der gesellschaftlichen Kommunikation. Deshalb wird sie immer unverzichtbar sein.

Ein dänischer Kollege, Chefredakteur einer der großen Zeitungen des Landes, beschrieb das einmal anhand des Umgangs der Schreibenden mit ihren eigenen Texten. "Im Internet", so erzählte er, "hängen die Redakteure weniger an ihrem Text. In der Zeitung muss ich um jedes Redigat stundenlange Diskussionen führen." Es gibt nur eine logische Konsequenz: Zeitung und Internet sind konstitutiv für den, der ein aufgeklärtes Leben führen will.

In Deutschland gibt es den "Qualitätsjournalismus". Gemeint ist ein Journalismus der großen Zeitungen, der nicht nur auf Verlässlichkeit setzt, sondern auch einer redaktionellen Ausstattung bedarf, die diese Verlässlichkeit sichert. Zeitungen sind Qualitätszeitungen, weil sie auch dort analysieren, wo vorläufig kein "Markt" im herkömmlichen Sinn existiert, in der Latenz, in den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Tiefenschichten des eigenen Landes und der globalen Gemeinschaft.

Wer glaubt, dass sich, wie in Amerika gesehen, Redaktionen von Zeitungen einzig nach Rendite rechnen sollten - womöglich einer Rendite, durch die ein Kaufpreis kompensiert werden soll - wird erleben, dass die Zeitung ihr Denken, ihre Kreativität und Marktstellung verliert. Das kann - das sei jenen gesagt, die in ihre Kalkulation schon den Qualitätsabbau einplanen - sehr schnell gehen.

Eine Zeitung, die einmal aus dem Taktschlag gerät, deren Temperament gebremst und deren geistige Risikobereitschaft entmutigt wird, eine Qualitätszeitung, deren Besitzer einmal die Drehschrauben ansetzen, um zu sehen, wie weit man drehen kann - diese Zeitung verliert auf Dauer ihre Seele. Und es ist, wie man in England, Schweden, Finnland, Amerika, leider auch in Frankreich beobachten kann, praktisch unmöglich, ihr diese Seele jemals wiederzugeben.

Verlässliche Stimmen im Chaos

Ich wundere mich manchmal über die Verzagtheit in manchen Chefetagen. Die großen, anerkannten Zeitungen haben, was alle anderen wollen: Autorität. Und wenn sie beherzt das Internet als Ergänzung begreifen, gewinnen sie die Zukunft, die die Pessimisten ihnen ausreden wollen.

Jeder, der Augen hat zu sehen, wird erkennen, dass das nächste Jahrzehnt das Jahrzehnt des Qualitätsjournalismus sein wird; er schafft die Bindungskräfte einer medial disparaten Gesellschaft. Schon heute merken wir, dass die Durchschlagskraft, die der einzelne Artikel entfaltet, trotz Medienkonkurrenz ungleich größer ist als noch in den achtziger und neunziger Jahren. Das hat damit zu tun, dass in einem kommunikativen Chaos die verlässlichen Stimmen besser durchdringen.

Die, die sich nicht anstecken lassen, die ihre Qualität, also ihre Inhalte, unverändert lassen, werden sein, was diese Gesellschaft dringender benötigt denn je: der geometrische Ort, an dem die Summe des Tages und der Zeit gezogen wird.

Es gibt allerdings in Deutschland, anders als in allen anderen Staaten Europas, eine Asymmetrie, die allen Zeitungen zu denken gibt. Je stärker der öffentlich-rechtliche Rundfunk, also ARD und ZDF, ins Internet ausgreift, desto bedrohter werden die Zeitungen.

Die öffentlich-rechtlichen Systeme haben begonnen, im Internet zu veröffentlichen; und das mit einem Etat im Rücken, der dem Staatshaushalt eines baltischen Landes entspricht. Sie verfassen neuerdings Rezensionen im Internet, Kommentare und Tagebücher.

Noch ist es nicht soweit. Doch wenn diese gebührenfinanzierten Angebote weiter ausgebaut werden, sind die Zeitungen wirklich bedroht. Wir sind Freunde eines Qualitätsjournalismus im Fernsehen, aber Gegner quasi staatlich finanzierter Aufschreibesysteme. Gegen deren "Texte" hätten die unabhängigen Zeitungen auf Dauer keine Chance.