Medientheorie -
zwischen Zeichenkultur und Gesellschaftstheorie
2020
Wo sind wir, wenn wir im Kino sind? Wo wir sind, wenn wir im Internet surfen? Die physische Ortsangabe wäre eine vordergründige Antwort, der Hinweis auf den physischen Raum macht wenig Sinn. Wir begeben uns in Räume, in denen „No Sense of Place” (Joshua Meyrowitz) ist. In der Vorstellungswelt des Imaginären verrichten wir nicht nur wichtige Arbeiten und gehen Vergnügungen nach, wir sind – körperlos, aber geistig - auch in uns und bei uns.
„Medien erfüllen nicht nur den Zweck, als Verteiler von Botschaften zu dienen, sondern … eröffnen oder verschließen die Zugänge zu den verfügbaren Ressourcen an Wahrnehmbarkeit ebenso wie an Sinn“, formuliert Albrecht Koschorke. Wenn wir denken oder uns erinnern, leben wir in imaginären Räumen, einen wichtigen Anteil unserer Lebenszeit leben wir in Vorstellungswelten. Medien sind „Kulturtechniken, mit deren Hilfe das Imaginäre transpersonal und intersubjektiv, damit vermittelbar, speicherungsfähig und überlieferbar wird“, sagt der Berliner Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme. Die natürlichen Medien des Lichts und der Luft ermöglichen es dem Menschen, andere – und sich selbst – als Sinnenwesen körperlich wahrzunehmen, über Bilder, Geräusche und Gerüche. In den Worten des Philosophen Emanuel Coccia: „In-der-Welt-sein bedeutet vor allem, im Sinnlichen zu sein, sich in ihm zu bewegen und es fortwährend herzustellen und aufzulösen. Sinnenleben ist nicht nur, was die Empfindung in uns weckt. Es ist zugleich die Art und Weise, in der wir uns der Welt hergeben, die Form, in der wir in der Welt sind (für uns und für die anderen), und das Medium, in dem die Welt für uns erkennbar, bewohnbar, lebbar wird. Nur im Sinnenleben bietet sich die Welt dar, und nur als Sinnenleben sind wir auf der Welt.“
Die kulturellen Medien konstituieren das Imaginäre, eine symbolische Welt der kulturellen Wirklichkeit.
Die Kultur des Imaginären ist dabei keine moderne Erfindung. In der europäischen Antike und im christlichen Mittelalter zum Beispiel hatten die Vorstellungswelten von Himmel und Hölle, von Engeln und Teufeln für den emotionalen und sozialen Alltag der Menschen große Bedeutung, sie waren genauso „lebenswirklich” wie heute die Avatare oder Facebook-Freunde. „Himmel und Hölle bilden in Wort, Bild und Klang das multimediale Gesamtkunstwerk des Mittelalters.“ (Böhme) Jenseits-Reisende berichteten von ihren Erfahrungen wie Science-Fiction-Filme von Besuchen der Außerirdischen. Das „Spektakel des Imaginären“ ist die Vorstellungswelt, aus dem die Menschen für ihr irdisches Leben Sinn beziehen. Dantes göttliches Inferno beflügelt heute wie damals die menschliche Phantasie.
Die Diskussion der „virtuellen Realität" technisch erzeugter Bilder aus dem Computer hat auf die alte philosophische Erkenntnis zurückverwiesen, dass der Mensch mit Hilfe von medienkulturellen Mustern sein Bewusstsein von Wirklichkeit konstruiert. „Medienwirklichkeit" ist nicht hintergehbar auf der Suche nach einer authentischeren materiellen Realität. Sie ist nicht durchleuchtbar hin auf eine echtere Welt, es gibt keinen direkten Zugriff auf eine realere Welt. Aber der Zusammenhang von Medien und Realität ist nicht beliebig konstruierbar. Die medial konstruierte kulturelle Vorstellungswelt muss „Sinn machen”, also nützlich sein für den Menschen. Und der Mensch ist kritisch bei der Rezeption von Medienrealität – und bedient sich der „Multimedialität”, um Wahrheit vielfältig zu konstruieren. Die Herdplatte, die dem Auge so schön „rot“ erscheint, berührt den Finger böse heiß. Schon der Jünger Jesu, der sich des Realitätsgehaltes der Auferstehung versicherten wollte, traute weder dem Wort noch dem Sehsinn allein. Er wollte seinem Tastsinn die Wundmale in der Hand prüfen. Die scholastischen Diskussionen waren ein Ringen um die Frage, was als Sicherheit für die Bestimmung von Wahrheiten akzeptabel sein soll. Sogar in den Hexenprozessen dokumentiert sich das Bedürfnis nach „multimedial” bestätigten Wahrheiten - etwa die „Wasserprobe” oder Geständnisse aus „peinlichen Verhören” sollten die imaginierten Erscheinungen als „Hexerei” bestätigen. Heute würden wir den geschaffenen Kontext – Folter – nicht mehr als authentisch für die Produktion von Wahrheit anerkennen wollen.
Kultur der Sprache
Das Anschauen und Imaginieren, also das Bild, steht in der Entwicklung des Menschen vor dem Begreifen und Erzählen mit Hilfe von Worten, gleichwohl ist die Sprache das wesentliche, primäre Mittel für die menschliche Kultur, durch die Normen entstehen, Werte tradiert und soziale Muster vermittelt werden. Ihre Botschaften wurden in den oral geprägten Gesellschaften durch Gesang und Tanz unterstützt und zu bewegten Bildern gestaltet. Bis heute ist das kommunikative Handeln der Alltagskultur oral geprägt.
Die gründliche philosophische Auseinandersetzung mit der Sprache in der Neuzeit geht auf Johann Gottfried Herder (1744-1803) zurück. Der Weimarer Philosoph fasst den Menschen als „denkendes sensorium commune", als Sprachgeschöpf auf. Sprache ist für ihn das Werkzeug zur Welterschließung; sie unterscheidet den Menschen vom Tier, gibt ihm seine Vernunft. Herder legt dar, dass der Mensch seine Wahrnehmungsmerkmale in „Zeichen" und Begriffe fasst, mit denen er sich die Welt erklärt und „Merkworte ins Buch seiner Herrschaft" einträgt.
Denn das soziale Verhaltenspotential des Menschen ist genetisch nicht für komplexe Gesellschaften vorbereitet, er muss „sozialisiert” werden, um an einer Gesellschaft von Fremden teilnehmen und Bedürfnisse und Interessen im Sinne dieser jeweiligen Kultur artikulieren zu können. Die damit verbundene kollektive Sinn-Stiftung vermittelt die sprachliche Kommunikation. Wo Kommunikation versagt, wird gesellschaftlich angepasstes Verhalten durch unmittelbare Gewalt ersetzt.
Sprachlicher Austausch findet mit Hilfe eines Regelsystems statt, wenn Zeichen vom Sender zum Empfänger übermittelt werden. Aber Kommunikation ist mehr als sprachlicher Austausch, Kommunikation ist zeichenvermitteltes Handeln, ist ist symbolische Interaktion, über die sich soziale Identität und soziale Ordnung erst vermittelt und konstituiert.
Kommunikation kann die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern operiert mit selektiven Signalen. Mögliche Aspekte der Realität – im besseren Falle die, die nicht „gebraucht“ werden oder die störend wirken würden – werden ausgeblendet. Sprache produziert eine selektiv geordnete Welt. Dass der Code der Zeichen nur bestimmte Ausschnitte der unendlich komplexen Realität „transportiert“, entlastet die Kommunikation. Die Reduktion der Realität produziert bringt Ordnung (im Kopf). Indem Kommunikation Sinn stiftet und Wirklichkeitsbilder „konstituiert“, übt sie Macht aus.
Die moderne Sprachtheorie geht vom Zustand einer schriftlich fixierten, damit einigermaßen eindeutig gemachten Sprache aus. Dies ist kulturgeschichtlich ein besonderer Zustand. Die sprachliche Kommunikation in oral geprägten Gesellschaften wie in der Alltagskommunikation ist immer mehrdeutig, Botschaften sind nur aus dem Kontext und zwischen Menschen, die den Kontext kennen und verstehen, deutbar. Michael Giesecke (1992) hat den Prozess beschrieben, in dem die ‘Standard-Schriftsprache‘ gegen die Vielfalt der mündlichen Sprachen und Dialekte überhaupt erst durchgesetzt wurde; eine herausragende Rolle spielte dabei die Drucktechnik, die als eine Instanz der Normierung und einer gewaltförmigen Vereinheitlichung gewirkt hat.
Kultur der Bilder
Der Grund für die Attraktivität der Bild-Medien und insbesondere des Fernsehen liegt darin, das sie nun wieder eine Dominanz der Bild-Kommunikation herstellten. Den Bild-Medien ist schon immer die Illusion der Authentizität eigen, das ist das Thema der neuzeitlichen Kritik des Bildes. Die besondere Wirkung des bewegten Bildes beruht darauf, dass wir uns als Augenzeugen fühlen dürfen. Während sprachlich geführte Argumentation Beweise erbringen muss, um nicht als bloße Behauptung abgetan zu werden, reicht oft ein einziger Blick auf wenige Bildfolgen, um Menschen zu überzeugen. Thomas Meyer (1992) spricht von der „metaphysischen Gewissheit des Augenscheins" und dem „ontologischen Vorrang” der Bilder: „Die Art, wie das Fernsehen uns die Welt zeigt, wird zur Art, wie wir die Welt sehen."
Nach Jahrhunderten der Sprach-Dominanz in der Kultur der Eliten nivelliert sich der Abstand wieder, der mit der Entfaltung der Schrift-Kultur hin zur populären Kultur der Massen entstanden ist. Eliten vergnügen sich an dieselben medialen Inszenierungen, das abfällige Reden über „Unterschichtenfernsehen” war nur ein kleiner Rest der „feinen Unterschiede”, auf die das gebildete Bürger einst so großen Wert legte.
Kultur der digitalen Netze
Dass sich Texte, Grafiken, Töne und Bilder digital speichern und „versenden“ lassen, bringt einen erheblichen praktischen Vorteil gegenüber den alten Kommunikations- und Speicherformen. Aber das radikal Neue, das durch die komplexe Technik der umfassenden Computernetzwerke entsteht, ist die Dialogstruktur. In den digitalen Netzen wird die hierarchisierende Trennung von elitären Sendern und Massen-Empfängern überwunden, alle Nutzer können mühelos und gleichberechtigt aktive Teilnehmer sein. Die digitale Multimedia ist eine niedrigschwellige, interaktive Kommunikation. Die Sender müssen nicht einmal schreiben können - es reicht ein Bild mit einem „da“. Jeder kann mit dem Smartphone Filme machen und versenden.
Mit der rhizomartigen Struktur des Internets hängt die Idee zusammen, das Netz könnte Hierarchie, Zensur und Kontrolle unterlaufen. Theoretiker wie Pierre Lévy oder auch Vilém Flusser folgern daraus, dass mit den Interaktionsmöglichkeiten die „technische Verwirklichung der Ideen der Moderne" möglich geworden sei, das Internet sich insofern als „legitimer Nachfolger des Projekts der Aufklärung" erweise, so formulierte Pierre Lévy 1998. Zwanzig Jahre Jahrzehnt später ist die Sorge beherrschend, dass die totale elektronische Vernetzung vor allem totale Kontrolle bedeutet – „Big Data“ scheint die moderne Fortsetzung von „Big Brother“ zu werden.
Die elektrischen Medien konstituieren die symbolische Welt der kulturellen Wirklichkeit neu und anders als die herkömmlichen Medien Buch und Film. Sie verändern die Gesellschaft: Die digitale Kommunikation entwertet den Ort, an dem sich ein Mensch befindet, an dem er arbeitet, sich informiert oder sich vergnügt - und entwertet damit die Bedeutung des menschlichen Körpers, herkömmliche soziale Bindungen und Hierarchien. Das „globale Dorf”, in das die elektrischen Medien den Menschen einbetten, ist eine virtuelle Realität.
Welche Auswirkungen das hat auf die Nah-Beziehungen? Was können authentische Gefühle sein in der digitalisierten Gesellschaft? Wie stellt sich Nähe her, wie konstituiert sich „Fremdheit”, wenn räumliche oder verwandschaftliche Kriterien unwichtig werden im Vergleich mit den medial vermittelten kulturellen Mustern einer globalisierten Gesellschaft? Wie können „wir Mammutjäger” uns kulturell adaptieren an die schöne neue Medienwelt?
Medientheorie stellt letztlich die zentralen Fragen der Gesellschaftstheorie, davon handeln die hier zusammengestellten Texte.
P.S.: Dass die Texte dieser Webseite in verschiedenen Jahren entstanden und überarbeitet wurden und sich teilweise thematisch überschneiden, ist dem Arbeitsprozess geschuldet. Es kann und muss keine abschließende Fassung geben - dem Internet sei Dank.
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