Klaus Wolschner 

Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

www.medien-gesellschaft.de


II
Politik
und Medien

Talk-Politik - Politik im Fernsehen

9-2014

Die politische Sphäre bleibt für den Großteil der Staatsbürger außer Reich- und Sichtweite - auch in der Demokratie. Allerdings bedarf die Politik einer mehr oder weniger zustimmenden Teilnahme der Untertanen, über die sie regiert - sie muss sich den Untertanen demonstrativ „mitteilen”, das gilt auch für fürsten, Kaiser und Militär-Diktatoren, nicht erst für Gesellschaften mit legitimierendem Wahlrecht.

Max Weber begründete 1917 die Vorteile eines parlamentarischen Wahlrechtes so, dass damit „die Gleichstellung der an Masse überlegenen sozial beherrschten gegenüber den privilegierten Schichten zum mindesten bei der Wahl der kontrollierenden und als Auslesestätte der Führer fungierenden Körperschaft geschaffen wird.“ In diesem Sinne hat der amerikanischen Journalist Walter Lippmann 1922 die amerikanische Öffentlichkeit als Masse von „unwissenden und zudringlichen Außenseitern” beschrieben. In einer funktionierenden Demokratie, so seine Feststellung, habe die Masse der Menschen („die Herde”) lediglich die Befugnis, die Spezialisten zu wählen und den Rest der Zeit mit „Grasen” zu verbringen. Die emotionalisierten Wahlkämpfe der Weimarer Demokratie haben die Wahlbürger kaum über mehr als die Richtung der jeweiligen Partei aufgeklärt, natürlich wurde Politik in vereinfachenden Modellen erklärt. Zumal Politik für die meisten Wahlbürger in ihrem Leben keine besondere Bedeutung hat, ist zu bezweifeln, ob überhaupt ein Interesse vorausgesetzt werden kann, mehr zu erfahren als zur Orientierung unbedingt erforderlich - Stereotype, Symbole, Rituale, Images, Fiktionen, Standardversionen und geläufige Denkschemata.

Die Trivialisierung bezieht Politik zurück auf die erfahrene Alltagsrealität und macht sie so nachvollziehbar. Noch heute sind Königinnen und präsidiale Repräsentationsfiguren wichtig im politischen Erleben der Mehrheit der Bevölkerung in demokratischen Gesellschaften – obwohl deren Bedeutungslosigkeit im politischen Prozess jedem bewusst ist.

Im Fernsehzeitalter scheint sich daran grundsätzlich wenig geändert zu haben. Wirklich? Joshua Mayrowitz (1) hat festgestellt, dass Fernsehzuschauer in den 1960er Jahren mehr über Politik wussten als politische Repräsentanten zehn oder 20 Jahre zuvor. Drei und mehr Stunden verbringen Erwachsene seit der Durchsetzung des Fernsehens als Alltagsmedium täglich vor dem Bildschirm, das ist neben der Arbeit die dominante und prägende Beschäftigung. 

Jegliche Politik, auch die vordemokratische, bedarf der Vermittlung an Betroffene, Lobbyisten, Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen, an die herrschenden Kreise des Adels oder Bildungsbürgertums. Politische Prozesse haben immer eine nach außen gerichtet Dimension gehabt.
Die Erfordernisse der Legitimation sind seit dem 19. Jahrhundert durch die Medienberichterstattung stark gewachsen. Der Begriff der „Fernsehdemokratie“ gibt den Eindruck wieder, dass durch die elektronischen Medien dieser Prozess eine neue Qualität erreicht hat. Unter den Bedingungen einer medialisierten Gesellschaft wird Politik zu einem wesentlichen Teil zur öffentlichen Kommunikation.

Was bedeutet das für politische Prozesse?

Moderne Medienberichterstattung hat in ganz neuem Ausmaß Rückwirkungen auf das Ereignis „Politik“ in demokratischen Gesellschaften. Politik scheint von mediengerechter Ritualisierung und Inszenierung geprägt zu sein, „arkane” Geheimpolitik unter Ausschluss der Öffentlichkeit scheint aufgrund der umfassenden Medienbeobachtung der Politik unmöglich. Die kommunikative „Verpackung“ wird zu einem integralen Bestandteil politischen Handelns.

Thomas Meyer hat dafür den Begriff der „Mediokratie“ geprägt und die Frage aufgeworfen, ob nicht  Politik an Substanz verliert, wenn sie sich so sehr nach der Logik der Medien richtet wie das heute der Fall ist. Es geht um die „Transformation des Politischen durch Medien“: Da geht es um Personalisierung, Visualisierung, Dramatisierung, Emotionalisierung, während der Kern des politischen Prozesses, das Aushandeln von Interessenlagen, oft farblos grau ist, wenig Emotionen und viel kühles Taktieren erfordert, längere Zeit beansprucht, keinen „Redaktionsschluss“ berücksichtigen kann und zumindest in der Phase des Aushandelns das Licht der Öffentlichkeit scheut.   

I Politik als Theater

Politiker unterwerfen sich dem Erfordernis der journalistischen Komplexitätsreduktion und dem Visualisierungszwang des Fernsehens, und da in der ökonomischen Konkurrenz die Fernsehsender das Geld für Eigenrecherchen, die Personal, Material und Zeit kosten, fehlt, stellen sie ihre Sendeplätze gern für Werbeträger politischer Botschaften zur Verfügung. Politiker lassen sich weitestgehend auf die Unterhaltungserfordernisse des Mediums ein, da sie an die Wirkungsmacht des Fernsehens glauben.

Offensichtlich sind Politiker mit einem wesentlichen Teil ihrer Arbeitskraft damit befasst, wirkliche politische Ereignisse und Pseudoereignisse medien- und vor allem fernsehgerecht zu inszenieren. Parteitage, Auslandsreisen und Vertragsunterzeichnungen eignen sich dazu. Pseudoereignisse sind „medienexklusive Ereignisse in dem Sinne, dass sie ohne über sie berichtende Massenmedien überhaupt nicht stattfänden“. (Sarcinelli) Die Zahl der Pseudoereignisse überwiegt in der Medienberichterstattung, und der Fernsehzuschauer hat kaum die Chance, die Mischung aus realem Geschehen, Inszenierung und medialer Darstellung zu entschlüsseln. Für Akteure ohne professionellen Apparat ist es schwer, da mitzuhalten. Aber das Beispiel Greenpeace zeigt, dass Bürgerinitiativen sich desselben Arsenals der inszenierten Politik bedienen, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Irreführend wäre die Vorstellung, dass reine Fernsehnachrichten besonders vom Journalismus geprägte Formate der Medienberichterstattung wären, die nach eigenen Kriterien die Selbstdarstellungsinteressen der Politiker  filtern. Gerade in der Tagesschau kommt ein etatisiertes Politikverständnis zum Ausdruck, in dem sich „aktive Macher“ mit Problemlösungskompetenz inszenieren können. Offenbar flößt aber das Format Vertrauen ein – so will das Publikum seine Politiker sehen, auch wenn eine Stunde später die Talkshow dieses Bild zu zerstören droht.

Die Zuschauer wissen wie in jedem (epischen) Theater, dass da etwas inszeniert wird, auch wenn sie zeitweilig während einer guten Präsentation gefesselt sind und die Distanz verlieren. Durch die Vielfalt der Fernsehpräsentationen muss man davon ausgehen, dass jeder Wahlbürger heute deutlich mehr verschiedene Meinungen vorgetragen bekommt als das in der Demokratie der Weimarer Republik etwa der Fall gewesen ist. Dass die Einbindung in soziale Netzwerke abnimmt, in denen Opinion-Leader die Neuigkeiten interpretieren und ins fest gefügte Weltbild einordnen, bedeutet für den Einzelnen auch, dass er mehr selbst sich seine Meinung bilden muss – und daher Informationsangebote, die sein Freizeit-Bedürfnis nicht überfordern, sucht.

II Die Form der Talk-Show als Politik-Theater

Seit den 1980-er Jahren hat die Form der Talk-Shows mit Politikern zugenommen, in denen politische Gespräche inszeniert werden, deren eigentliche Adressaten „draußen“ an den Bildschirmen sitzen und in der Regel nicht angesprochen werden. Der TV-Polit-Talk ist inzwischen so institutionalisiert, dass die Bundestagsdebatte als klassische und institutionell legitime Form von Öffentlichkeit der Politik in einer Demokratie an den Rand gedrängt wird. Sogar parteiinterne Willensbildung wird in hohem Ausmaß, jedenfalls wenn große und daher „Talkshow-fähige Fragen“ anstehen, durch diese Form des Fernseh-Dialogs bestimmt. Bei Wahlkampf-Veranstaltungen werden Talk-Show-Formate imitiert.

Da die Moderatoren-Firmen für die Einschaltquoten und damit für den Unterhaltungsaspekt verantwortlich sind, müssen den Politikern in diesem Formaten nicht zwingend kompetente Gesprächspartner gegenübertreten – Zeichen dafür sind die vorbereiteten Fragekarten, von denen die Moderatoren die Stichworte ablesen. Dieses Sendeformat ist beim Zuschauerpublikum beliebt und für die Fernseh-Programme billig zu produzieren.

Es sind für die öffentliche Beobachtung inszenierte Pseudodiskurse, in denen Politiker großen Spielraum zur Selbstinszenierung bekommen – so lange sie „mitspielen“ und sich im den Rahmen der Unterhaltungs-Show bewegen. Durch die Fernbedienungen und die Vielzahl konkurrierender Unterhaltungsangebote auf den unterschiedlichen Sendern ist dieser Aspekt inzwischen zwingend für den „Erfolg” einer Talk-Show. Für Politiker stellt sich damit kein Problem – sie erreichen um so größere und politikfernere Kreise, je unterhaltsamer ein Sendeformat ist, und sie haben weitaus bessere Selbstdarstellungsmöglichkeiten, jedenfalls was „Personality“-Aspekte angeht, als auf den klassischen Foren der Demokratie (Parlamentsdebatte, Parteiversammlung, Pressekonferenz). In der Talkshow können sie sich als „Mensch wie Du und ich“ darstellen. Erlaubt ist alles, was unterhaltsam ist und die Zuschauer an den Sessel fesselt.

Die Verschmelzung des Systems Politik mit dem System Medien ist in diesem Format vollendet. Wobei es sich um eine anspruchsvolle Kunstform der Kommunikation handelt, die auch für die Zuschauer transparent ist: Obwohl die eigentlichen Adressaten – jedenfalls quantitativ – „draußen“ vor dem Bildschirm sitzen, müssen Politiker die Fragen der internen Talkrunde ernst nehmen, argumentieren – nur so können sie ihre Kompetenz und Glaubwürdigkeit („kommunikative Authentizität“) unter Beweis stellen. Wer „Fensterreden“ hält, disqualifiziert sich. Gleichzeitig wollen Politiker „ihre“ Botschaft und „ihr Thema“ unterbringen, weil sie von der Bedeutung des Agenda-Setting wissen. Die Balance dieser beiden Interessenlagen wird oftmals vorab ausgehandelt. Die Zuschauer wissen, dass der Talk inszeniert ist, durch die stellvertretenden Zuschauer im Studio ist das auch ganz deutlich, sie erwarten gutes Theater und dazu gehört, dass die Rollen authentisch besetzt sind und gut gespielt werden, „echt wirken“. Sein Glaubwürdigkeit als Person zu verstärken ist für Politiker ein wesentlicher Sinn der Teilnahme an Talk-Runden – sozusagen eine langfristig wirkende Kapitalbildung.  

Seit dem Jahre 2002 gibt es in Deutschland (in den USA seit John F. Kennedy, 1960) „TV-Duelle“ zwischen den Spitzenkandidaten. 15 Millionen Zuschauer haben das 2002 gesehen und bestätigt, wie weit Adenauer seiner Zeit voraus war, als er meinte, nur über das Fernsehen käme man an die Menschen heran. Dass den Medienvertretern im Jahre 2002 noch nicht ganz wohl war bei diesem über acht Monate bis ins Detail ausgehandelten Format, wurde an der Bemerkung des Moderators Thomas Roth deutlich, der „Viel Spaß und gute Unterhaltung“ wünschte. Günter Jauch setzte sie mit der Erwartung unter Druck, es dürfe nicht zugehen „wie bei der Augsburger Puppenkiste“, wo die Strippenzieher hinter Bühne das Sagen haben. Der Kabarettist Bruno Jonas meinte, man müsse bei solchen TV-Shows  nur den Ton abstellen, um sich auf den „emotionalen Datensatz“ des Ereignisses konzentrieren zu können. Das Fernsehen präsentierte damals seine Show mit einem Höchstmaß an ironischer Distanz.

Die Moderatoren der Talk-Sendungen werden, auch wenn sie biografisch  Journalisten waren, selbst zu Stars der Mediengesellschaft und nähern sich in ihrer Rollendefinition und Medienstrategien der der Politiker an.

TV-Kompetenz und Erfolg beim Umgang mit den Spielregelen der Fernseh-Kommunikation ist  für Karriere von Berufspolitikern unerlässlich. Die klassische „Ochsentour“ der Verbändedemokratie mit ihren Ortsvereinen, Unterbezirksparteitagen und lokalen öffentlichen Veranstaltungen ist nur die Vorbereitung auf die Karriere. Konsequenterweise werden auf den „unteren“ ebenen der Politik die Formate der Fernsehdemokratie soweit wie möglich übernommen. Wenn Ortsvereine ganz modern sein wollen, ahmen sie die Fernsehformate nach und inszenieren sie „Talk-Shows“ in ihrer Dorfkneipe.

III Darstellungspolitik, Entscheidungspolitik

Wie sehr formieren die Zwänge der medialen Vermittlung die eigentliche Sphäre der materiellen Entscheidungspolitik? Die telegene „Verpackung“ ist nicht alles. Spitzenpolitiker müssen sich „ein Bild der Lage" machen. Politischen Führungspersönlichkeiten orientieren sich an dem, wie Journalisten die Lage beschreiben und sind gleichzeitig  stark von ihrem administrativen Unterbau abhängig. Da Journalisten gleichzeitig den Einflüsterungen konkurrierender Politiker unterliegen, sich instrumentalisieren lassen, ist in diesem Wechselverhältnis oft nicht mehr unterscheidbar, wer die Henne spielte  und wer das Ei.

Auch in der Mediendemokratie werden letztlich die meisten politischen Entscheidungen fernab der Öffentlichkeit getroffen. Politiker sind sich durchaus dessen bewusst, sie reden von „draußen“ und wissen, dass ein Gutteil ihrer internen Kommunikationsarbeit mit den Lobby-Gruppen und den Experten besser gelingt, wenn sie „drinnen“ ohne öffentliche Beobachtung erledigt werden kann.

Die permanente und lückenlose Beobachtung steigert den Legitimationsdruck. Zumindest muss bei internen Politik-Beratungsprozessen immer auch überlegt werden muss, „was kommunizieren wir nach außen“. Sobald mehr als drei Menschen an solchen Beratungsprozessen teilnehmen, steigt das Risiko, dass eine grob falsche Außendarstellung auffliegt. 

Auch die Möglichkeiten der Inszenierung einer Politiker-Persönlichkeit unterliegen Grenzen. Politische Präsentation scheitert, wenn die Suggestion von Authentizität nicht gelingt, Authentizität schafft Glaubwürdigkeit, auch wenn sie – Fallbeispiel Angela Merkel – gegenüber den Anforderungen der Mediendemokratie sperrig zu sein scheint. Die „Echtzeitmassenmedien“ Radio und Fernsehen (Horst Wenzel) reduzieren dabei die Inszenierungsmöglichkeiten – Politiker sind dann erfolgreich, wenn sie ihre Rolle verkörpern. Eine hohe „Live-Kompetenz“ bedeutet, dass journalistische Berichterstattungsmuster von dem politischen Akteur antizipiert werden muss.

    Exkurs: Der Kanzler und die Frisur

    Auch die Frisur eines Politikers wird zum Prüfstein authentischer Medien-Inszenierung. Kurz vor dem Wahlkampf 2002 zog der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder bis vor das Hamburger Landgericht, um der Presse die Verbreitung weiterer Spekulationen über die Färbung seines  Haupthaars zu untersagen. Schröder gewann den Prozess - der frühere Kanzlerberater Hans-Hermann Tiedje bezeichnete Schröders Reaktion als einen seiner "größten politischen Fehler". Souveränität demonstrierte dagegen Angela Merkel in ihrer Haar-Affäre: Unter einem verfremdeten Foto, das Merkel mit wild-wehendem Haar zeigte, warb der Münchener Autovermieter Sixt für Mietcabrios mit dem Slogan "Lust auf eine neue Frisur?" Merkel nahm es gelassen und dankte den Sixt-Werbern für den "interessanten Vorschlag". Inzwischen präsentiert sich die Kanzlerin in Designgarderobe mit perfektem Make-up und trägt eine vorteilhafte Bob-Frisur – eine Creation von Starcoiffeur Udo Walz.

Zuschauer wissen verschiedene Sichtweisen auf dieselben Vorgänge und dieselben Personen zu schätzen, das führt auf der Seite der Medienmacher zu einem deutlich Anteil an öffentlicher Selbstreflexion im Programm. Die Inszenierung der Politik in ihrer Rollenverteilung von Politikern und Medien ist durchaus ein Thema, das Publikum zieht. Medien strukturieren Erfahrungsmöglichkeiten, sagte der Medienphilosoph Marshall McLuhan, mit dem Fernsehen sehen wir Politik anders, aber die Selbstreflexion in den Medien macht das Theater durchschaubar. Nicht mehr „opinion leader“ – Parteiführer, Literaten, Priester - leisten die soziale Integration angesichts verwirrend vielfältiger Informationen, sondern das Fernsehen und seine Vertrauenspersonen. 

    (1) Joshua Mayrowitz Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter, dt. 1987, engl. 1985)