Klaus Wolschner 

Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

www.medien-gesellschaft.de


II
Politik
und Medien

Zur Typologie des Verhältnisses von Medien und Politik:
 

Das 19. Jahrhundert

Neuordnung des Hintergrundwissens durch Volksaufklärung und Massenpresse

2014

Bis ins 18. Jahrhundert habe das „Gefecht gegen den zähen Brei jahrhundertealter Unbildung", so nennt das Rudolf Schenda („Volk ohne Buch“), wenig Erfolg gehabt. Er schätzt, dass 1770 nur 15 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung “lesefähig” war, hundert Jahre später - 1870 - dann 75 Prozent.

1814 führte die „Times of London" als erste Zeitung die dampfbetriebene Schnellpresse ein (1.100 Exemplare pro Stunde). 1846 baute der Brite Augustus Applegath für die Times eine Rotationsmaschine, die 12.000 Drucke pro Stunde schaffte. Mit der Rotationsdruckmaschine waren preiswerte Zeitungen und damit Massenpresse technisch möglich. Die meisten Menschen zumindest in den Städten, viel mehr übrigens in protestantischen Gegenden als in katholischen, konnten lesen. Aufklärung und Volksbildung hatten die tradierten, alten Gesellschaftsbilder soweit verdrängt, dass Nachrichten sich in ein neues („aufgeklärte”) Bild der Leser von Politik, Staat und Volk einfügen konnten.

Die revolutionären Erhebungen des Jahres 1848 waren dann schon durch ein intensives Wechselspiel von Presse und politischem Prozess charakterisiert. Durch Berichte sprang der Funke zudem in andere Städte über.

Das „Wörterbuch der deutschen Sprache” von Campe nahm 1809 den damals aktuellen Begriff „Lesesucht” auf und definierte sie als „Sucht, d. h. die unmäßige, ungeregelte auf Kosten anderer nötiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen.“ Die großen diskursiven Ideen, an die wir bis heute glauben, waren allgemein verbreitet: die große Liebe, die Selbstverwirklichung, die Freiheit.
Im 19. Jahrhundert wurde „das geschriebene Wort zum alleinigen Bezugsrahmen, innerhalb dessen Bewusstseins- und Verständigungsprobleme reflektiert wurden.“  Wer nicht schrieb und las, war, kulturell gesehen, eine Unperson (Eric Havelock). 

Leonardo Olschki (1919) beschriebt den Übergang vom anschaulichen Denken des Mittelalters zum begrifflichen Denken der Neuzeit aus als Lernen einer neuen Sprache: „Der menschliche Geist musste erst durch jahrhundertelange Erziehung dazu gebracht werden, möglichst ohne Zuhilfenahme des bildhaft Greifbaren folgerichtig zu denken.“ In dem neuen Medium war die Zerstörung der alten gesellschaftlichen Gefüge schon angelegt. „Denn die ‚Botschaft‘ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt“ (Marshall McLuhan). Die Druckkunst ermöglichte öffentliche Dispute, verlieh jedem, der damit umgehen konnte und wollte, unabhängig von Stand und Rolle „öffentliche“ Macht.

Illustrierte Welt

1833 erschien nach dem Vorbild des englischen Penny-Magazins in Leipzig das „Pfennig-Magazin“. Das Blatt wollte rein kommerziell orientiert, nutzte Bildgrafiken und richtete sich an die Familie. Herausgeber Johann Jacob Weber verstand sein Blatt als Organ zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse. Die Auflage stieg bald auf 100.000 Exemplare – die angesehene politische „Vossische Zeitung“ kam als auflagenstärkste Zeitung auf 20.000.

In der Jahrhundertmitte entstanden in verschiedenen europäischen Ländern wöchentlich erscheinende Familien-Illustrierte, allen voran die Illustrated London News (1842) und in Pariser L'Illustration (1843). Die Leipziger Illustrirte Zeitung (1843) übernahm das Format und oft auch Bilder und Berichte.

Seit 1853 erscheint in Leipzig zudem „Die Gartenlaube“, die erfolgreichste deutsche Familienillustrierte im 19. Jahrhundert. Ihre Auflage stieg von 100.000 (1861) auf 275.000 (1895). Politik war ausdrücklich ausgespart, Lesen sollte unterhalten und bilden. Sie berichte plaudernd und oft humorvoll über sachliche, medizinische, ethnografische, geografische und technische Themen, nostalgisch malte sie ein Bild einer heilen Welt der Harmonie im Schonraum der Familie. Nach 1871 förderte sie auch die nationale Identitätsbildung. In den Fortsetzungsromanen ging es um Liebe und Ehe, nie um Erotik und Sexualität.

In Deutschland erschienen 1877 insgesamt 3.775 verschiedene Zeitungen in acht Sprachen. Die Gartenlaube musste sich zunehmender Konkurrenz  erwehren, insbesondere die eher sozialdemokratische „Berliner Illustrierte Zeitung“ (BIZ, gegründet 1896) überflügelte sie in der Verkaufszahl. Während die Gartenlaube lange mit Holzschnitten und Zeichnungen arbeitete, startete die BIZ - journalistisch „moderner“  mit dem Abdruck von Fotos und dem bemühen um Aktualität. Zeppelin-Flug, Attentat in Spanien oder das Erdbeben in San Francisco 1906 kamen als Foto-Geschichten.

Die Illustrierten suchten die Sensationen der Moderne, und dazu gehörte die „neue Frau“. Die Berliner Illustrirte Zeitung druckte um 1900 regelmäßig Bilder aus aller Welt von herausragenden Frauen, die neues männliches Terrain eroberten.
Die BIZ startete mit einer Auflage von 40.000, erreichte 1909 schon 400.000, 1915 800.000. Ihren Höchststand erreichte sie 1931 mit fast zwei Millionen. Die Zeitschrift „Die Woche“ (1899) erfand den „Kultus der Persönlichkeit“ über die Portraitfotografie – 1910 betrug der Bildanteil der kaiserlichen Familie 15 Prozent. Auch die Woche richtete sich konzeptionell besonders an Frauen (Dirk Stegmann).

Im 19. Jahrhundert stellten die Medien Vorstellungen vom alltäglichen Leben zur Verfügung, die sich sicherlich dem Mehrheitsgeschmack anpassen mussten, wollten die publizistischen Titel Erfolg haben, die aber gleichzeitig für die Kultur der städtischen Unterschichten einen prägenden und kontrollierenden Einfluss hatten. 

Als Vorgänger des Fernsehens knüpfte die illustrierte Presse an die Visualisierung an, die für die Flugschriften der frühen Neuzeit schon wegen des hohen Grades an Analphabetismus selbstverständlich gewesen war. Das erste gedruckte Foto der Pressegeschichte, das Stephen H. Horgan in der New York Daily Graf  1880 abdruckte, zeigte Elendsquartiere in New York. Foto konnten also auch sozialkritische Elemente verstärken.

In England und in den USA wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert Interview und Enthüllungsjournalismus „erfunden“. Auch der Skandal als Kassenschlager war durchaus präsent: Die Prostituiertenmorde von „Jack the Ripper” verhalfen der Zeitung The Star zu großem Erfolg und trugen zum Rücktritt des Polizeichefs bei. Die Skandalberichte, mit denen die Medien - auch aus kommerziellen Gründen - Aufmerksamkeit erwecken konnten, entdeckten die städtische Armut und die Prostitution als Schlüsselloch-Thema. 

Die Politik reagierte auf die Medialisierung. Die Königshäuser verloren zwar an politischer Macht, kompensierten das aber mit medialer  öffentliche Präsenz, die sie gern im Alltagsleben auf bürgerlichen Familienbildern zeigten. Kaiser Wilhelm II. war bekannt und beliebt wegen seiner prunkvollen Selbstinszenierungen. Die Illustrierten und populären Massenblätter transportierten die volkstümlichen Inszenierungen der Monarchen oft mit täglichen Meldungen über das Königshaus. Die Fotos der Royals ebneten übrigens auch den Weg für den Siegeszug der Fotografie. Mit der Personalisierung der Monarchen kamen ihre privaten Affären in die Öffentlichkeit. Die monarchistische Fixierung des Publikums und die ideologische Fixierung der Parteien ersparten den Regierungen noch über weite Strecken ihres politischen Handelns die mediale Kontrolle.

Mit den Parteien entstanden in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts große Tageszeitungen als Gesinnungs- und Parteizeitungen. Es gab die „preußische“ konservative Presse, die katholische Presse, liberale Zeitungen und sozialdemokratische. Die Zeitung wurde zur Sozialisationsinstanz für die jeweiligen politischen Weltsichten. Wenn kommerziell ausgerichtete Verleger sich von dem Anspruch, Parteizeitung zu sein, befreien wollten, hatten sie große Probleme.
Ein Licht auf die Verhältnisse wirft der Brief des Generalanzeiger-Verlegers Wilhelm Girardet an seinen Chefredakteur im Jahre 1890, der ausführt, es liege nicht „in unserem Interesse, die uns seitens des sozialdemokratischen Comitès zugehenden Berichte puro zu akzeptieren“. Es sollte „dem Comitè“ der Vorschlag gemacht werden, dass die Zeitung „eigene Berichterstatter in jede Wahlveranstaltung entsenden“ könne, die „einen sachlichen, wahrheitsgetreuen Bericht liefert“. 

Insbesondere für die konservativen und liberalen Parteien, die keinen eigenen Apparat hatten, aber auch für die Sozialdemokratie war die Parteizeitung das wichtigste Bindeglied zur Pflege ihres Milieus. Die Journalisten waren oft Aktive der Parteien, in Deutschland stellte dieser Berufsstand knapp zehn Prozent der Reichstagsabgeordneten. Die enge Verbindung von Politik und politischen Medien funktionierte vor allem in einer Richtung: Die Massenmedien waren Sprachrohre ihrer politischen Richtung. Pressefreiheit gab es vor allem wegen der Vielzahl parteilicher Zeitungen, die die jeweilige Konkurrenzpartei natürlich kritisch beobachteten.

vgl. dazu auch die Texte

    Vor dem 18. Jahrhundert - Hören-Sagen-Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit M-G-Link

    Panorama - Die Sehnsucht nach virtuellen Welten M-G-Link

    Illustrierte I: Mode als europäisches Medienereignis    M-G-Link (1786)
    Illustrierte II:
    Die Gartenlaube     M-G-Link

    Die Verwandlung der Welt im 19. Jahrhundert: Unterhaltung, Medialisierung  Link

    Verzauberung durch ein neues Medium - Fotografie  M-G-Link
    Bewegende Bilder - Anfänge des Films   M-G-Link

     

    Das 20. Jahrhundert - Politik und Medien in der Fernsehgesellschaft   Link

    Das 21. Jahrhundert - Politik in der digitalen Gesellschaft   Link

    Die Idee einer Liquid democracy” als Erbe repräsentativer Demokratie Link