Klaus Wolschner 

Über den Autor

Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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II
Politik
und Medien

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

POP 55

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Über die
Mediengeschichte der
Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert des Auges

2 VR Titel

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Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

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Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

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Was MACHT macht

Über die alltägliche Kommunikations-Macht der Sprechakte -
im Unterschied zu der Gewalt-Macht, die aus den Gewehrläufen kommt

2020/2014

Der Hund, der die Zähne bleckt und knurrt, will damit kommunizieren. Auch Menschen verstehen, was er „sagen” will. Der Briefträger, der eine Wurst hinhält, kommuniziert. Der Hund versteht, wenn es ein guter Hund ist, was er sagen will.
Machtverhältnisse sind keine Sache, die man innehat, sondern ein Verhältnis, eine Beziehung, ein Beziehungsnetz. 
Wir denken bei Macht zunächst an solche Drohungen mit offener Gewalt, an „Unterdrückung", an Ausnahmesituationen.

Viel effektiver und „normaler“ ist die Macht durch Verführung:
Weltanschauungen, Ideologien, Ideen bietet Antworten auf existentielle Fragen.
Warum das Unglück? (Astrologie) Was kommt nach dem Tod?  (Religion)

Die Macht der Kommunikation wirkt, indem sie Wahrheiten produziert. 
Die Macht der Kommunikation lässt Menschen in Krieg ziehen und sich selbst opfern.

Wenn nach der christliche Lehre Gott seinen Sohn opfert (ganz im Stil archaischer Menschenopfer-Riten), dann geht es allein um die Lösung des kommunikativ geschaffenen Problems „Sünde”.
Die Darstellung eines Menschen als „Verbrecher” oder „Sünder” ist ein kommunikativer Akt, hinter dem oft (nicht nur im Falle des historischen Jesus) die Strafgewalt steht.
Die Umdeutung dieser Exekution zum Opferritual der Befreiung von „Sünde” und seine Aktualisierung in dem körperlichen Erinnerungs-Ritual „Abendmahl” ist eine der großen historisch Kommunikationsleistungen - auch Sprechakte können wirkmächtige virtuelle Realität schaffen.

Das Medium dieser Kommunikationsmacht der Sprechakte ist die Sprache.
Die Sprache erlaubt es dem Menschen, komplexe Wirklichkeitsbilder zu konstruieren.
Auch der kommunikative Sinn der meisten Bilder ist nicht rein intuitiv, sondern vor allem im Kontext sprachlich konstruierter Wirklichkeitsauffassungen zu erfassen.

Auch Politik-Management ist im wesentlichen Kommunikations-Management.

Kommunikationsmacht im Alltag

Kommunikation im Alltag passiert ohne Zwang, zwanglos, ohne Drohung und Bestechung - aber nie ohne die Macht. Nicht Worte haben Macht - „es sind immer Menschen, deren Worte Macht haben.“ (Jo Reichertz) Kommunikations-Macht können Sprechakte entfalten, wenn sie im Kontext einer Beziehung der Akteure zueinander stehen. Kommunikations-Macht entsteht insbesondere, wenn der sprachlich Handelnde eine  Bedeutung für die Identitätsfeststellung des Adressaten hat. Sprechakte erhalten ihren Sinn vor dem Hintergrund der Geschichte der erlebten und im Gedächtnis verankerten Beziehungen. Identität braucht immer wieder kommunikative Erneuerung durch Anerkennung, Bestätigung und Austausch. Identität kann jederzeit durch Beleidigungen, Herabsetzungen, Missachtung angegriffen.
Identität ist ein aus Fremdbildern angemischtes Selbstbild.

Gewalt und Herrschaft gründet sich auf die Bereitschaft und Fähigkeit, die  Unversehrtheit des Körpers des Anderen zu beeinträchtigen
Beziehungsmacht gründet sich auf die Bereitschaft, die Unversehrtheit der Identität zu gefährden

Kommunikation, also vor allem Sprache, ist das Instrument der Beziehungsmacht. 
„In der Sprache haben vorangegangene Generationen ihre Wege, Pfade und Straßen des Wahrnehmens, Kategorisierens, Deutens und Bewertens angelegt.“ (Reichertz)
Und vergangene Geschichten. In der Kommunikation eines Liebespaares sind die Partner früherer Liebesbeziehungen irgendwie im Hintergrund dabei. „Der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch noch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks“, formulierte Friedrich Nietzsche.

Wo Menschen miteinander kommunizieren, sind nicht nur diejenigen im Spiel, die anwesend sind, sondern zugleich die Gemeinschaft, die die Sprache und deren Bedeutungskultur geprägt hat. Wir müssen uns innerhalb einer Bedeutungskultur darauf verlassen, dass die Worte den gesellschaftlich vorgeprägten Sinn haben.

Nur wer konform kommuniziert, sich also dem ‚zwanglosen Zwang‘ der Kommunikation unterordnet, wird als verlässlicher Kommunikationspartner wahrgenommen.
Wer Falsches sagt, wer verdunkelt oder vertuscht, wer maßlos schönfärbt, mag noch Worte sprechen, aber seinen Worten fehlt die Kraft, die Worte „kommen nicht an“, er stirbt den „kommunikativen Tod“: „Wenn das kommunikative Handeln unter den Beteiligten nichts bis wenig zählt, dann kann man den Anderen nicht einmal bewegen, sein Zimmer aufzuräumen oder das Fenster zu schließen; zählt es dagegen viel, dann kann man andere auch dazu motivieren, Flugzeuge zu kapern oder Verbrechen zu gestehen. Kommunikationsmacht ist in der Lage, jemanden ein Leben lang zu beflügeln oder aber ihn lebenslang an seine Vergangenheit zu binden. Kommunikationsmacht kann frei setzen oder fesseln. Entscheidend für die Macht der Kommunikation sind die Beziehung und die daraus erwachsende Bedeutung der Kommunizierenden für die Identitätsarbeit des Gegenübers. Ist diese Bedeutung groß genug, dann kann Kommunikationsmacht auch stärker als Herrschaft und Gewalt sein.“ (Reichertz)

 

Tributäre und intervenierende Herrschaftsweisen

„Unter tributären Systemen werden vorstaatliche Stammesverbände oder Herrschaftssysteme und Reiche verstanden, deren Eliten ein limitiertes Interesse an der Ausgestaltung der sozialen Beziehungen ihrer Mitglieder, Untertanen bzw. der breiten Bevölkerungsschichten aufwiesen. Solche tributäre Systeme waren in vorgeschichtlicher Zeit die Regel, während ihre Verbreitung in Altertum, Mittelalter und Neuzeit aufgrund zunehmender Machtmittel der Herrschenden ständig abnahm. Das Interesse der Führungseliten beschränkte sich auf die Sicherstellung der von ihnen geforderten Tribute, Steuern, Abgaben oder der Heeresfolge. Gerade Letzteres sollte in Hinblick auf die islamischen Reiche wichtig werden, denn nichtmuslimische Bevölkerungsgruppen waren davon ausgenommen, was sie durch höhere Steuerleistungen zu kompensieren hatten. Nicht in Kriege ziehen zu müssen, scheint grundsätzlich ein Vorteil zu sein; dadurch wurden jedoch die mit einer Heeresfolge einhergehenden Tendenzen einer Gleichstellung mit der muslimischen Bevölkerung hintertrieben.

Unter intervenierenden Systemen hingegen werden Staaten, Reiche und Herrschaftsweisen verstanden, deren Führungseliten die Absicht verfolgten, die jeweils althergebrachten Sozialbeziehungen zu verändern, und sie verfügten auch über die entsprechenden Machtmittel dazu. Solche Interventionen konnten beispielsweise das Ziel verfolgen, die Abgabenleistungen effizienter zu gestalten oder auf die Familienverhältnisse einzuwirken. Wie es scheint, stellten die griechischen Stadtstaaten und das Römische Reich die ersten intervenierenden Systeme in der Geschichte Europas und des Nahen Ostens dar, die zudem auch über längere Zeit hinweg Bestand hatten. Die meisten vorstaatlichen Gebilde zuvor und viele Herrschaftsgebilde danach repräsentieren Varianten tributärer Systeme – wie etwa die islamischen Reiche.“
aus: Karl Kaser, Balkan und der Nahe Osten (2011), S. 43

 

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Die Geschichte des Nachdenkens über Macht im vergangenen Jahrhundert spiegelt das Zurücktreten der latenten Gewalt-Drohung und die zunehmende Bedeutung von kommunikativer Macht in den gesellschaftlichen Strukturen wider:

Max Weber (1864-1920): Macht, Herrschaft und Fügsamkeit

„Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht." Während Macht als übergreifender Begriff ein breites Spektrum der situationsabhängigen Durchsetzung des eigenen Willens gegenüber Anderen meint, setzt Herrschaft ein bestimmtes Maß an Dauerhaftigkeit der Macht voraus.
„Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden."
„Herrschaft („Autorität") in diesem Sinn kann im Einzelfall auf den verschiedensten Motiven der Fügsamkeit: von dumpfer Gewöhnung angefangen bis zu rein zweckrationalen Erwägungen, beruhen. Ein bestimmtes Minimum an Gehorchen wollen, also Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis."
Oder andererseits durch bloße ‚Sitte‘, die dumpfe Gewöhnung an das eingelebte Handeln; oder sie kann rein affektuell, durch bloße persönliche Neigung des Beherrschten, begründet sein. Eine Herrschaft, welche nur auf solchen Grundlagen ruhte, wäre aber relativ labil. Bei Herrschenden und Beherrschten pflegt vielmehr die Herrschaft durch Rechtsgründe, Gründe ihrer ‚Legitimität‘, innerlich gestützt zu werden, und die Erschütterung dieses Legitimitätsglaubens pflegt weitgehende Folgen zu haben."

Antonio Gramsci (1891-1937): Macht als Hegemonie einer Klasse

Der italienische Philosoph und kommunistische Politiker reflektierte die Prozesse des Konsenses zwischen Herrschenden und Beherrschten, zwischen Regierenden und Regierten als Form bürgerlicher Klassenherrschaft. Herrschaft gründet nicht nur auf die Momente der Gewalt und der Repression. Auf Hegemonie basierende Herrschaftsformen ringen stets darum, eine spezifische Balance zwischen den Elementen des Zwangs und des Konsenses zu erreichen, in der die integrativen, auf Zustimmung und Loyalität gerichteten Momente auf Dauer dominieren.
Gramsci schreibt, dass sich die Hegemonie „einer gesellschaftlichen Gruppe auf zweierlei Weise äußert, als ‚Herrschaft’ und als ‚intellektuelle und moralische Führung’".

Oder: „Eine gesellschaftliche Gruppe kann und muss sogar bereits führend sein, bevor sie die Regierungsmacht erobert (…); danach, wenn sie die Macht ausübt und auch fest in den Händen hält, wird sie herrschend, muss aber weiterhin auch ‚führend’ sein". Die Hegemonie einer herrschenden Klasse realisiert sich also über ihre Führungskompetenz.
Der bürgerliche Staat ist „integraler Staat", der sich in verzweigten Formen regulierend in die Zivilgesellschaft erstreckt. Neben Schulen und Universitäten, sind es dabei die "Vielzahl so genannter privater Aktivitäten und Initiativen", die gesellschaftliche Erziehungsfunktionen übernehmen und als solches „den Apparat der politischen und kulturellen Hegemonie der herrschenden Klasse bilden". Hierzu zählen die Kirchen, Medien und Parteien ebenso wie etwa der örtliche Kulturverein. Mit Blick auf diese pädagogischen Praxen schlägt Gramsci daher vor, den modernen bürgerlichen Staat als erzieherischen Staat aufzufassen, der über eine Vielzahl von „Hegemonialapparaten" pädagogisch in die Zivilgesellschaft hineinwirkt, der Reformen im Bereich der Sitten, Gebräuche und Einstellungen anleitet. "In Wirklichkeit muss der Staat als ‚Erzieher’ aufgefasst werden, insofern er gerade danach strebt, einen neuen Typus oder ein neues Niveau der Zivilisation zu schaffen". Der erzieherische Staat strebt also danach, „die große Masse der Bevölkerung auf ein bestimmtes kulturelles und moralisches Niveau zu heben, ein Niveau (oder Typ), der den Entwicklungsnotwendigkeiten der Produktivkräfte" entspricht. Es gilt entsprechend, "die Moral der breitesten Volksmassen den Erfordernissen der ständigen Entwicklung des ökonomischen Produktionsapparates anzupassen, folglich auch physisch neue Menschentypen herauszuarbeiten".

Talcott Parsons (1902-1979): Macht als Beziehungsmuster

Der amerikanische Soziologe Parsons kritisiert die klassische Vorstellung, nach der „Macht“ als Zwangsverhältnis verstanden wird und letztlich ein Nullsummenspiel darstelle, innerhalb dessen eine Partei ihre eigenen Wünsche auf Kosten anderer durchsetze.
Parsons versteht Macht als ein Beziehungsmuster, aus dem beide Seiten Vorteile erlangen können und das auf Zwang und Zustimmung beruht. Macht ist etwas in einem sozialen Gefüge ‚Erzeugtes’. In einem demokratischen Gemeinwesen statten soziale Interessengruppen das politische System und seine Repräsentanten mit Macht aus und erwarten  im Gegenzug einen „Macht-Output“ in Form von Entscheidungen, die ihren Interessen entsprechen.
Voraussetzung für das Wirken von Macht sind Verpflichtungen auf Ziele: Macht ist für Parsons dann „die generalisierte Fähigkeit zur Sicherung des Einhaltens bindender Verpflichtungen…“.
Macht äußert sich dann in der Fähigkeit, Vorteile anzubieten und für den Zweifelsfall Nachteile anzudrohen.
Auf der Ebene der symbolischen Kommunikation arbeitet Macht mit guten Gründen und appelliert an ethische Normen.
Der Einsatz von roher Gewalt ist der praktizierte Ausnahmezustand der Machtausübung. Der (häufige) Gebrauch von Zwang ist eher ein Zeichen für eine unsichere Machtbasis.

Hannah Arendt (1906-1975) über Macht und Gewalt

Hannah Arendt kritisierte 1970 geflügelte Mao-Wort „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen“ (Mao Tse-tung, Rotes Buch, 1967), sie setzte dagegen: „Aus den Gewehrläufen kommt immer der wirksamste Befehl, der auf unverzüglichen, fraglosen Gehorsam rechnen kann. Was niemals aus den Gewehrläufen kommt, ist Macht.“
Arendt befasste sich in ihrer Schrift „Macht und Gewalt“ (1970) über die Studentenbewegung mit der Abgrenzung der beiden Begriffe. Sie kritisierte die schlichte Verständnis, dass „dass Gewalt nichts weiter ist als die eklatanteste Manifestation von Macht“ sei: „Politische Macht mit der organisierten Staatsgewalt gleichzusetzen hat nur Sinn, wenn man wie Marx den Staat als ein Instrument der Unterdrückung in der Hand der herrschenden Klasse versteht.“
Schon der Sophist Gorgias von Leontinoi (um 483–375 v.u.Z.) hatte festgestellt, dass Macht wesentlich auf Überredung beruht. Wie zum Beispiel die Geschichte von Missionskriegen zeigt, reicht reine Gewalt nie aus, um dauerhafte Machtverhältnisse zu erzeugen.
Macht erscheint dem Einzelnen als „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen“ (Max Weber).
Grundlage von dauerhafter Macht ist aber die Unterstützung durch Viele. Der „Extremfall der Gewalt“ besteht für Hannah Arendt „in der Konstellation: Einer gegen Alle. Und das letztere ist ohne Werkzeuge, d. h. ohne Gewaltmittel niemals möglich.“  Gewalt stützt sich auf Werkzeuge, aber selbst der Tyrann braucht zur Bedienung der Werkzeuge willige Helfer. Arendt definiert:
„Macht
entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er ‚habe die Macht’, heißt das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln. In dem Augenblick, in dem die Gruppe, die den Machthaber ermächtigte und ihm ihre Macht verlieh (potestas in populo — ohne ein ‚Volk’ oder eine Gruppe gibt es keine Macht), auseinander geht, vergeht auch ‚seine Macht’.“
Die Vorstellung, dass „Macht nichts anderes als eine Fassade, hinter der die Gewalt sich verbirgt“, sei, kritisiert Arendt mit Verweise auf ein tieferes Verständnis von Revolution: Die „Vorstellung von der Revolution als Folge des bewaffneten Aufstands (ist) ein Märchen. Revolutionen gerade werden nicht ‚gemacht’ und am wenigsten durch eine lernbare Prozedur, in der man vom Dissens zur Verschwörung, von passivem Widerstand zum bewaffneten Aufstand fortschreitet. Wo Gewalt der Gewalt gegenübersteht, hat sich noch immer die Staatsgewalt als Sieger erwiesen. Aber diese an sich absolute Überlegenheit währt nur solange, als die Machtstruktur des Staates intakt ist, das heißt, solange Befehle befolgt werden und Polizei und Armee bereit sind, von ihren Waffen Gebrauch zu machen. Ist das nicht mehr der Fall, so ändert sich die Situation jählings. Nicht nur kann der Aufstand nicht niedergeworfen werden, die Waffen wechseln die Hände, und zwar manchmal, wie etwa in der Ungarischen Revolution, binnen weniger Stunden. …  Wo Befehlen nicht mehr gehorcht wird, sind Gewaltmittel zwecklos.“
„Der plötzliche dramatische Machtzusammenbruch, wie er für Revolutionen charakteristisch ist, zeigt, wie sehr der so genannte Gehorsam des Staatsbürgers — gegenüber den Gesetzen, den Institutionen, den Regierenden oder Herrschenden — eine Sache der öffentlichen Meinung ist, nämlich die Manifestation von positiver Unterstützung und allgemeiner Zustimmung. Die innere Zersetzung der Staatsmacht macht Revolutionen möglich.“                 
alle Arendt-Zitate aus: „Macht und Gewalt“ (On violence, 1970)

Das Verhältnis von Macht und Gewalt wird komplexer, wenn berücksichtigt, dass das Modell „Einer gegen alle“ oder „gegen Viele“ eher die Ausnahme beschreibt – eine machtpolitische Auseinandersetzungen kommt in der Regel erst zustande, wenn verschiedene „Viele“ sich gegenüberstehen. Das Auszählen der Mehrheit ist die demokratische Methode, solche Konflikte zu entscheiden. Die Drohung mit Gewalt wäre eine erste Eskalationsstufe. Wenn Konflikte effektiv ausgekämpft werden, ist nicht allein die Zahl entscheidend, sondern auch die Qualität der Werkzeuge: Eine kleinere Gruppe kann dauerhaft über eine größere Gruppe Macht ausüben, wenn sie über die effektiveren Gewalt-Werkzeuge verfügt und ihre Gewalt-Drohung wirkt.
Der Begriff symbolische Gewalt bezeichnet in der Regel keine Drohung mit Gewalt, sondern instrumentalisiert begrenzte Gewalt für den Machtkampf um die Meinungen der Vielen: Gezielte, auf symbolisches Handeln begrenzte Gewaltanwendung ist ein Mittel der „Wenigen“, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Symbolische Gewalt soll die moralische Legitimation der Macht infrage stellen – und über den anschließenden Kommunikationsprozess das Kräfteverhältnis der „Vielen“ zu den „Wenigen“ verändern.

Michel Foucault (1926-1984): Produktion der Wahrheit durch die Macht

Der französische Philosoph Michel Foucault richtet seinen Blick auf die Frage: „Wie funktioniert Macht?" Für Foucault gibt es „die Macht" nicht, sondern nur ein „offenes, mehr oder weniger koordiniertes Bündel von Beziehungen". Konservativ-empirischen und orthodox-marxistischen Auffassungen, welche die Macht als Instrument einer Gruppe oder einer Person begreifen, hält Foucault entgegen: Machtverhältnisse sind „keine Sache, die man innehat, kein Eigentum, das man überträgt; sondern eine Maschinerie, die funktioniert“. Die „Mikrophysik der Macht" wirkt durch kleinste Elemente; sie ist ein Netz, das die Familie, sexuelle Beziehungen, Wohnverhältnisse, Nachbarschaft, Schulen, Krankenhäuser, Gefängnisse, die Psychiatrie usw. „durchläuft" und umspannt.

Die Wirkungsweise der Macht äußert sich nicht in erster Linie als spürbare „Unterdrückung", Macht wirkt nicht vor allem negativ oder einschränkend, sondern ist etwas, das „Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muss sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht". Ein Staat kann nur funktionieren, wenn es dafür geeignete Subjekte gibt. Machtverhältnisse sind der „permanente Kampf um Hegemonie", in dem um konkurrierende Standpunkte und Diskurse gerungen wird.

„Disziplin ist im Grunde der Machtmechanismus, über den wir den Gesellschaftskörper bis hin zum kleinsten Element, bis hin zu den sozialen Atomen, also den Individuen, zu kontrollieren vermögen. Es handelt sich um Techniken der Individualisierung von Macht. Wie kann man jemanden überwachen, sein Verhalten und seine Eignung kontrollieren, seine Leistung steigern, seine Fähigkeiten verbessern? Wie kann man ihn an den Platz stellen, an dem er am nützlichsten ist? Darum geht es bei der Disziplin.“ Foucault unterscheidet dabei nicht zwischen Disziplin und Selbstdisziplin – Selbstdisziplin ist die effektive Form der Disziplin.
Foucault kritisiert den Ideologiebegriff, da er immer „in einem potentiellen Gegensatz zu etwas [steht], was Wahrheit wäre" und sich zudem „zwangsläufig auf [...] ein Subjekt bezieht". Stattdessen produziert die Macht Wissen vom Individuum. Im Gegensatz zur marxistischen Vorstellung von Ideologie gibt es für Foucault kein von der Macht abgetrenntes und mit einem Bewusstsein ausgestattetes Subjekt, welches diese sich unterwerfen will. Macht lässt sich nicht in der Alternative Gewalt oder Ideologie (d. h. „kalkulierte", „subtile" Täuschung) begreifen, denn jeder Punkt der Machtausübung [ist] zur gleichen Zeit ein Ort der Wissensbildung [...] und umgekehrt". Wenn die Macht ausschließlich eine Unterdrückungsfunktion hätte, wäre sie sehr zerbrechlich und nicht akzeptabel für die Individuen. Der abendländische Mensch unterwirft sich dagegen der Produktion der Wahrheit durch die Macht" und übt „Macht nur über die Produktion der Wahrheit" aus.  (mehr zu Foucault siehe „Techniken des selbst”  MG-Link)

Wie sich die subtilen Machtstrukturen des Wissens einem einzelnen Individuum über Kommunikation vermitteln, untersucht Jo Reichartz:

Kommunikationsmacht nach Jo Reichertz

„Es gibt sie – die alltägliche Kommunikationsmacht, die ohne Befehl, Drohung und Bestechung auskommt. Kommunikation gelingt im Alltag nämlich meist ohne Zwang (auch ohne Drohung und Bestechung), aber nie ohne Macht. Aber es ist eine Macht, die sich aus der Beziehung der Akteure zueinander ergibt und der Bedeutung der Anderen für die eigene Identitätsfeststellung. Diese Macht beruht letztlich auf Anerkennung, also auf Freiwilligkeit.“ 
„Identität ist nicht etwas, was man für immer durch die gesellschaftliche Interaktion erhalten hat, sondern Identität wird immer wieder bis auf Widerruf zugesprochen. Jede Identität braucht deshalb immer wieder kommunikative Erneuerung durch Anerkennung, Bestätigung und Austausch. Es gilt aber auch: Identität kann jederzeit durch Beleidigungen, Herabsetzungen, Missachtung angegriffen, verletzt und beeinträchtigt werden. Identität ist nie fix – trotz aller Bemühungen sie zu fixieren. Identität ist immer ein vorläufiges Ergebnis, aber auch der aktuelle Ausdruck gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse, die immer eine Geschichte haben und Geschichte schaffen, in der jeder seinen Platz hat.“
„Die Welt, in der wir leben, ist unhintergehbar symbolisch aufgebaut, eben weil sie mittels Kommunikation, also symbolisch, produziert und weil sie ebenfalls symbolisch vermittelt ist. Deshalb besteht diese Welt aus einem komplizierten, nicht gleichmäßig gewobenen Netz von Sinnbezügen, das sich in nichtsprachlichen und sprachlichen Zeichen zeigt und das die gesamte Welt, also auch das Äußere und das Innere des Akteurs umfasst.“
Beziehungsmacht „resultiert nicht aus dem Verhältnis von Wörtern und Menschen, sondern immer nur aus dem (sozialen, nicht privaten) Verhältnis von Menschen zu Menschen – aus sozialen Beziehungen und der Bedeutung, die Beziehungen für den Aufbau und den Erhalt von Identität besitzen. Es sind immer Menschen, deren Worte Macht haben, nicht Worte, die Macht haben.“

„Kommunikationsmacht ist nicht das ‚Wesensmerkmal‘ einer Person, sondern sie ergibt sich aus der Beziehung, die Personen immer wieder aufs Neue miteinander eingehen.“
„Ohne Zweifel besitzt auch die Sprache eine Art von ‚Macht‘, weil sie unsere Gedanken führt, indem sie ermöglicht, was für uns zu denken und auszudrücken ist. (…) In der Sprache, aber nicht nur dort, haben vorangegangene Generationen ihre Wege, Pfade und Straßen des Wahrnehmens, Kategorisierens, Deutens und Bewertens angelegt. (…)  Mit jedem Sprachgebrauch bedienen wir uns dieser Ordnung, aber wir bedienen sie zugleich. Sprache legt uns nicht nur eine Weltsicht zu Füssen, sondern erlegt uns diese Weltsicht auch auf. Sprache liefert uns eine Sicht der Welt und zugleich deren Bewertung, also Hinweise, wie mit dieser Welt umzugehen ist. (…) Kommunikatives Handeln ist ein zutiefst soziales Phänomen. Sobald Menschen miteinander kommunizieren, sind nicht nur diejenigen anwesend, die anwesend sind, sondern zugleich die Gemeinschaft, die ihnen die ‚Sprache‘ und die Bedeutung gegeben hat und diese auch verbürgt.“
Der ‚
Zwang der Worteist „nur zu verstehen, wenn man ihn als einen nach innen genommenen Zwang begreift, den alle Mitglieder einer Sprach- und Interaktionsgemeinschaft nicht nur als selbstverständlich empfinden, sondern dem sie auch, da er Teil ihrer selbst ist, freiwillig folgen wollen und von dem sie erwarten, dass auch andere im folgen. (…) Fremdzwänge wandeln sich in Selbstzwänge, zu nach innen genommenen Werten, die man mit allen Fasern seiner Persönlichkeit anstrebt, an denen man den eigenen Wert und den der Anderen misst. Sie werden, nachdem ihnen der jeweils legitime Diskurs die höheren Weihen des kollektiv Heiligen übertragen hat, Teil des persönlichen und sozialen Habitus, der nicht nur das gesamte Handeln, also auch das kommunikative, gestaltet, sondern sich, die Anderen und die Welt vor dem Hintergrund dieser Werte wahrnimmt und bewertet.“
„Gesichert wird dieser
‚zwanglose Zwang‘ der Kommunikation durch soziale Anerkennung. Je ‚enger‘ die Beziehung der Kommunizierenden zueinander, also je relevanter sie füreinander sind, desto mehr Macht entfaltet kommunikatives Handeln. (…)  Verlässlichkeit, also die Sicherheit, dass der Kommunizierende seinen Worten auch Taten folgen lässt, ist die Schüsselkategorie zu Erlangung kommunikativer Macht. (…)  Wer jedoch als unzuverlässig gilt, (…) mag noch Worte haben, aber seinen Worten fehlt die Kraft, andere zu bewegen und anderen ein Motiv für ihr Handeln zu geben. Menschen, denen man Verlässlichkeit abspricht, sterben in gewisser Weise den ‚kommunikativen Tod‘ vor dem wirklichen – sie gleichen darin einer ‚lame duck‘ innerhalb der Politik. Was sie sagen, bewegt nichts mehr.“
Man kann die
Kommunikationsmacht verstärken, „indem man die soziale Gruppe nicht nur zum Zeugen und Bürgen der Kommunikation aufruft, sondern das gesamte kommunikative Geschehen vor und für die soziale Gruppe aufführt (also vor dem Dritten), somit kommunikatives Handeln theatralisiert. (…) Theatralisierungen nicht ohne Gefahr, da es durchaus möglich ist, dass nicht der andere, sondern ich meinen Ruf, verlässlich zu sein, verliere. (…) Wer Falsches sagt, wer verdunkelt oder vertuscht, wer maßlos schönfärbt und übertreibt, gilt schnell als  unglaubwürdig. Übernahme von Verantwortung für das eigene kommunikative Handeln und Tun und verlässliche Einlösung sind deshalb die entscheidenden Grundlagen für die Erlangung von Glaubwürdigkeit. Diese schafft bei Anderen Vertrauen in die Kommunikation und die Zuversicht, dass den Worten Taten folgen werden.“
„Kommunikationsmacht erleichtert menschliche Verhaltensabstimmung und macht sie
nachhaltig. Verzichtet man auf die Beziehungsmacht in der Kommunikation oder wird sie wirkungslos, dann müssen Herrschaft (und letztlich auch Gewalt) die Lücke zwischen einem kommunikativ angetragenen Handlungswunsch und dessen Erfüllung schließen. Herrschaft und Gewalt produzieren aber nicht nur erheblich mehr soziale Kosten, sondern sie sind sehr viel uneffektiver, da sie statt Zustimmung und Nachfolge immer auch Widerstand und Revolte säen.“

Die Reichertz-Zitate sind dem Kapitel „Kommunikationsmacht als Beziehungsmacht über Identität“
entnommen, in: Jo Reichertz, Kommunikationsmacht (2009)

Reichertz hat 2012 in der Zeitschrift Communicatio Socialis
seine Analyse zusammenfassend unter dem Titel
Kommunikation, Macht, Identität” veröffentlicht  Link


    s.a. meinen Text „
    Kommunikation konstruiert Wirklichkeit”  Link