Klaus Wolschner                         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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III
Medien-
Theorie

Visionen der Informationsgesellschaft

950 / 2.12.2007

nach Giesecke, Abhängigkeiten und Gegenabhängigkeiten der
Informationsgesellschaft von der Buchkultur (Kapitel 7 S. 270-330)

Es ist wie bei der Erziehung von Kindern: Wenn man wissen will, wie sie sich in der Phase der Ablösung von ihren Eltern verhalten, dann sollte man zunächst die Normen der Eltern besser verstehen.

Am Anfang bringen die neuen elektrischen Medien nicht mehr als ein Fortschreiben der Programme der Buchkultur mit den neuen Verbreitungsmitteln. Im Radio wurden Texte vorgelesen. Das Fernsehen zeigte Kinofilme. Es dominierte rationales Denken und die sprachliche Darstellungsform. Der renommierte französische Philosoph Pierre Bourdieu las 1996 im Fernsehen seine Fernsehkritik „Über das Fernsehen“ vor – wie eine Vorlesung im Collège de France. Offenkundig lehnte er neue Medium ab.

Die Devise lautet: Mehr vom Alten, aber schneller und billiger! 

Aber alle elektronisch gespeicherten Informationen, die sich problemlos in typographische Produkte umsetzen lassen (und umgekehrt), gehören im Grunde noch der typographischen Zeit an.

„Über den Buchdruck hinausgehende, bleibende Bedeutung erlangen die elektronischen Medien dort, wo sie völlig andersartige Informationssysteme aufbauen.“

Das sind nach Giesecke „Informations- und Kommunikationstechnologien, die sowohl das Unbewusste als auch rationale Instanzen nutzen und ansprechen, die verbale mit nonverbalen Medien verknüpfen.“

Von der Visualität zur Taktilität

Wenn sich die Physiker etwa nächtelang damit beschäftigen, die Stromimpulse ihrer Tunnel-›Mikroskop‹ genannten Maschine auf dem Monitor so zu strukturieren und zu färben, dass vor den Augen der ›Betrachter‹ ein ›Bild‹ der abgetasteten Gegenstände entsteht, dann karikieren sie damit den Anspruch des Sehens in der Neuzeit mehr, als dass sie ihn einlösen. Die elektronischen Informationen besitzen eine völlig andere Qualität als jene mit den Augen gewonnenen der klassischen beschreibenden Naturwissenschaft.

Diese Entwicklungstendenz zeigt sich auch in der Robotronik und in den Laboratorien, in denen die virtuellen Räume konstruiert werden. Wer sich etwa mit dem ›data-glove‹, dem Datenhandschuh, und einem Helm mit Minicomputer durch den ›cyber space‹ bewegt, der hat die Rolle des distanzierten, neutralen Betrachters in einer immer auf gleiche Distanz gehaltenen Umwelt, wie dies für die perspektivischen Konstruktionen unserer Umwelt typisch ist, verlassen. Hier wird der Computer tatsächlich nicht nur zu einem Verstärker des Sehens oder Hörens, sondern zu einer Art ›zweiter Haut‹. Für zahlreiche Interaktionen und Verrichtungen  ist nicht mehr notwendig, Informationen in der Standardsprache zu kodieren, um sie zu speichern und weiterzugeben.

So unauffällig wie möglich passt man den Datenhandschuh dem Körper an und sensibilisiert ihn für jede Hand- und Kopfdrehung. Er reagiert auf taktile Inputs.

Welcher Sensor übernimmt bei den elektronischen Medien die Rolle, die die Visualität für die typographischen Medien (Schriftzeichen) gespielt hat? Offenbar die Taktilität. „Welche Sensibilität hier freilich im Einzelnen gemeint ist, lässt sich noch kaum abschätzen.“

Taktilität meint nicht einfach Tastsinn. Ebenso wie ›Sehen‹ nach der Entwicklung der zentralperspektivischen Theorie in der Renaissance einen vollkommen neuen Inhalt erhalten hat. Zentraler Bestandteil des neuen Konzepts der Taktilität wird die Sensibilität für elektromagnetische Wellen sein. Hier liegt eine der aufregendsten Schnittstellen zwischen der Maschine und ihrer Umwelt, darunter eben auch dem Menschen. Mit den Gehirnstrom-Interfaces – und deren Biosensoren – entsteht neben dem Gesichtssinns ein neues Kommunikationsmedium.

Die Interaktion zwischen Menschen und zwischen Mensch und seiner Technik wird dann nicht mehr auf die äußere, ›hör-‹ oder ›sichtbare‹ Sprache, auf Bilder, auf gedruckte oder geschriebene Texte angewiesen sein, sondern zwischen den Computern und den verschiedenen elektrischen Signalen des Körpers könnte ein direkter elektronischer Wandler, zum Beispiel ›Biomuse‹, als Mittler zwischen den Schnittstellen genutzt werden.

Diese Verknüpfung von künstlichen mit menschlichen neuronalen Strukturen stellte eine völlig andere Form kommunikativer Netze dar, als wir sie bislang aus der zwischenmenschlichen Kommunikation samt all ihrer technischen Verstärker wie Post, Markt oder Telegraphie kennen. Es wäre der Übergang von den sichtbaren Kommunikationsmedien zu solchen, die sich nur mit den ›inneren Augen‹, um noch einmal ein altes Konzept heranzuziehen, wahrnehmen lassen.

Die Folgen blieben aber zweifellos nicht auf den Wahrnehmungsapparat und die Medien beschränkt, sondern sie träfen auch alle Formen der Informationsverarbeitung, einschließlich unseres Denkens.

Die Möglichkeit sprachunabhängiger Kooperation entwertet unseren an Sprache gebundenen Prozessor und somit das das logische Denken und das Bewusstsein. Das Hinzutreten einer neuen Möglichkeit mindert immer den Status dieses ehemaligen Monopolisten. Und da der Gegenspieler des Bewusstseins seit geraumer Zeit das ›Unbewusste‹ oder von alters her das ›Affektive‹ ist, wird dieses wohl von dem Verlust an Ansehen profitieren, das das Bewusstsein gegenwärtig erfährt.

Gehirnphysiologen vermuten schon längst, dass unsere höhere Nerventätigkeit von geringerer Komplexität ist als jene niederer Gehirnregionen. Je komplizierter das Denken, desto leichter lässt es sich technisch substituieren. Wenn selbst der beste Schachspieler gegen einen Computer verliert, dann eignet sich das strategische Denken kaum mehr als Urbild höchster Intelligenz.

Ähnliche Umwertungen hört man auch aus Wirtschaft und Management. Logistische Probleme, die früher von guten Führungskräften zu meistern waren, lassen sich an das Gespann Rechner plus Sachbearbeiter delegieren. Was berechenbar ist, braucht keine spezielle Leitungskompetenz. Und die unberechenbaren Entscheidungen, die auf Intuition und Daten gründen, die nicht in den Bilanzen stehen, scheinen kaum der Sprache zu bedürfen.

Was die sprachliche Beschreibung unserer Welt und ihre kausale Analyse angeht, gelangen wir immer öfter an Grenzen. Ganz anders sieht es im Bereich unserer anderen Sinnesorgane und Darstellungsmedien aus. Viel weniger haben wir uns in den vergangenen Jahrhunderten mit gefühlsmäßigen Entscheidungen und unseren Fähigkeiten beschäftigt, die Komplexität unserer Umwelt durch das Einbeziehen von affektiven Informationen und metaphorischen Vergleichen zu reduzieren.

Medien für das Unbewusste und Affektive könnte man die neuen Techniken nennen: Der Verstand ist viel zu langsam, um sie wahrzunehmen und zu verarbeiten. Videoclips wirken nicht mehr über das Sehen, sondern über die Vibrations. Techno-Musik kann man schwerlich genießen, wenn man sie in dem traditionellen Sinne ›hört‹. Wer sie mag, geht mit, lässt sich, seinen Körper, im Takt bewegen. Die „Fernsehkultur entlastet das Bewusstsein, das in der Buchkultur sowieso überstrapaziert wurde“.

Es geht nicht darum, die Verdienste der Aufklärung und der Buchkultur zu leugnen. Die Erziehung des Verstandes, die kontrollierte Wahrnehmung, der vernünftige Diskurs, all dies sind ungemein wichtige Errungenschaften unserer Kultur. Würfe man sie über Bord, wäre alle Orientierung auf das Gefühl und auf Überkomplexität schwerlich ein Fortschritt. 

Die Frage lautet: Wie kann der Verstand durch das Gefühl ergänzt, das Gefühl andererseits am Verstand überprüft werden?

Das Denken, das den Buchdruck mit beweglichen Lettern ermöglicht hat, ist linear und monokausal. Und da die typographische Technik der Prototyp der Produktionstechnik des Industriezeitalters ist, hat diese Form der Analyse und Synthese die Neuzeit geprägt.

Technik und auch logisches (rationales) Denken ist zweckgerichtete Minimierung von Wechselwirkung (Selbstsimplifikation).

Aber: Unsere Umwelt ist überkomplex; wir können sie nur unvollkommen erkennen und die Wirkungen unseres Handelns nur in geringem Umfang abschätzen (riskantes Raten statt sicheres Wissen).
– Die Welt ist ein Netzwerk, Informationen breiten sich in alle Richtungen aus.
– Es gibt keine Wirkung ohne Rückwirkung: Interaktivität statt Linearität.
– Prozesse haben keinen Anfang und kein Ende, aber wir können sie interpunktieren,
   unterbrechen und linearisieren.
Ambivalenzen, Zirkularitäten und Paradoxien bestimmen die Dynamik unserer Umwelt.
– Vollständige Beschreibungen sind deshalb zirkuläre, paradoxe und ambivalente
   Beschreibungen: ›Sowohl-als-auch‹-Denken muss das ›Entweder-oder‹-Denken
   ablösen.

So wie der Mensch schon aufgrund seiner spezifischen sensorischen Ausstattung eine andere relevante Umwelt besitzt als die Schmetterlinge oder Bienen, so eröffnet auch eine Informationstechnologie wie der Buchdruck eine andere Umwelt als die elektronischen Medien. Jedes informationsverarbeitende System erzeugt auch immer ein Bild von der Umwelt - in Abhängigkeit von den eigenen Möglichkeiten.

Die Frage ist: Welche Erkenntnistheorie und welcher Kommunikationsbegriff ist für die multimediale Kommunikation geeignet?

Mit den herkömmlichen Wahrnehmungstheorien werden wir nicht auskommen, bislang haben noch alle Medien in der Geschichte ihre eigenen Erkenntnis- und Darstellungstheorien hervorgebracht.

950 Turner Railway

Der junge Joseph Mallord William Turner ließ sich auf einer stürmischen Überfahrt von Dover nach Calais am Mast seines Schiffes festbinden, um der Bewegung des Schiffes folgend die beständige Veränderung des Horizontes beobachten zu können. 1843 oder 1844 machte er als fast 70-Jähriger noch einmal ein ähnliches Experiment, streckte seinen Kopf aus dem Abteilfenster des Zuges, genau neun Minuten lang, und ließ Landschaft, Wind und Wolken an sich vorbeiziehen. Nichts stimmt in dem entstehenden Gemälde ›Regen, Dampf und Geschwindigkeit – The Great Western Railway‹ mit den zentralperspektivischen Prinzipien überein, und die Konturen der Umwelt interessieren den Künstler nicht mehr. Sie sind in Dunst und Geschwindigkeit aufgelöst.

„Doch genau das, was als Stärke der neuzeitlichen Sinnesorganisation angesehen wird - die unbeeinträchtigte Genauigkeit des Sehens - ist längst zur hauptsächlichen Schwäche geworden … Fotografie, Film, Fernsehen, Video sind – bei aller eigenen Bedeutung – auch Stationen eines noch unabgeschlossenen Niedergangs der (alten) visuellen Kultur. Zivilisation als Transformation des Körpers ins Geistige war und ist nämlich auf der anderen Seite der Abstraktion vom Körper.“ (Dietmar Kamper, Christoph Wulf: Blickwende. Die Sinne des Körpers im Konkurs der Geschichte) 

Mit dem rationalen linearen Denken lässt sich die sprachlich abbildbare Realität verstehen. Aber wir scheitern mit diesem Denkansatz schon, wenn wir die zwischenmenschliche Verständigung von Angesicht zu Angesicht beschreiben wollen. Diese Besonderheiten liegen vor allem in dem sequentiellen, beständiges Feedback ermöglichenden Aufbau und in der Multimedialität des Gesprächs, die es erlauben, Unvollständigkeiten in dem einen Medium durch die Konsultation des anderen zu korrigieren. Schon an das Gespräch traut sich die Wissenschaft nur zögernd heran. Nach Giesecke liegt dies daran, dass Verständigung immer auch als zirkulärer, paradoxer Prozess verstanden werden muss, der alle Beteiligten verändert. Der Gesprächspartner A bleibt nicht A während der Unterhaltung und B nicht B. Zeit ist wichtig, einseitige Wirkungen gibt es nicht.

Die Kommunikationswissenschaft, die bisher entstanden ist, hat nur das Medium gewechselt, nicht noch aber ihren Objektbereich neu begründet. Im Mittelpunkt steht nicht mehr der Versammlungsredner und nicht mehr der Schreiber von Briefen und Büchern, sondern der Journalist, der Blogger oder wer immer ein Publikum über die typographischen und elektronischen Medien „anspricht“. Weil dieses Publikum eine “Masse” ist, vielschichtig und kaum überschaubar, deshalb scheint seine Rückmeldung nur statistisch und in sehr abstrakten Kategorien fassbar: Meinungsumfragen, Einschaltquoten, verkaufte Exemplare von Zeitschriften und Büchern.

Aber jede neue Technologie erweitert unsere Möglichkeiten der Selbstbeschreibung.
Die elektrischen Multimedialität schafft neue Entwicklungsmöglichkeiten. Sie muss einschließen, was das auf die Schriftsprache zentrierte alte Kommunikationssystem ausgrenzte:
– multisensorielle Wahrnehmung,
– affektive Informationsverarbeitung,
– multimediale Speicherung und Darstellung,
– rückkopplungsintensive Informationsverarbeitung und Kommunikation.

Ein Verständnis von Kommunikation, das diese Ebenen einschließt, entspricht übrigens auch den Erkenntnissen der Psychobiologie über die Funktionsmechanismen der menschlichen Persönlichkeit.

Psychogenetiker wie Christopher Walsh analysieren, wie seelische Eigenschaften durch große Gruppen von Genen beeinflusst werden. Es gibt einen Zusammenhang zwischen erfahrungsabhängiger Nervenaktivität und Aktivierung von “eGenen” - erst durch Erfahrung aktivierte eGene machen uns zu dem, was wir sind. Für die Gehirnforschung gibt es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen den elektrochemischen Wirkmechanismen des vernünftigen Bewusstseins, als dessen Bausteine uns die Begriffe der Schriftsprache erscheinen, und den elektrochemischen Wirkmechanismen der Psyche, die auf auf nicht sprachlich geordnete Signale reagiert - Bilder, Gerüche, verdrängte Erinnerungen und Erfahrungen, kurz: “Unbewusstes”.
Die für den gebildeten Verstand vollkommen irrationalen, also “verständnislosen” Kommunikations-Signale, die als “Pubertät” beschrieben werden, lassen sich mit Reifungsprozessen im Hirn erklären, die nicht parallel, sondern zeitversetzt ablaufen: Das limbische System, das Emotionszentrum im Hirn, wächst zu voller Leistung, während die Kontrollzentren im Großhirn Jahre hinterherhinken.