Klaus Wolschner                         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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III
Medien-
Theorie

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

3 AS neu 200

ISBN 978-3-7418-5475-0
im Buchhandel oder beim Autor  klaus(at)wolschner.de

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche Wirklichkeits-Konstruktion im „Jahrhundert des Auges“

3 VR neu 200

ISBN 978-3-7375-8922-2
im Buchhandel oder beim Autor  klaus(at) wolschner.de

Was ist Kultur?

 9-2014

Kultur (cultura) ist Ackerbau, aber auch „verehren“ (colere). Vieles davon hat der Mensch selbst hervorgebracht, aber nicht alles: „Lebenskultur“ ist die kultivierte Befriedigung natürlicher Bedürfnisse. Nach der Tischrede kommt das Fressen. Seit alters her hilft religiöse Kommunikationskultur, das menschliche Zusammenleben kultiviert zu ordnen: Im  Vater-unser bitten wir ums tägliche Brot und um Vergebung der Sünden.

Kultur und ihr biologisches Erbe

Kultur ist nur aus der arroganten menschlichen Unterwerfungs-Perspek-tive ein Gegensatz zu Natur („Macht euch die Erde untertan“). Gerade die Lust an der Unterwerfung all dessen, was einen fremden Willen zu besitzen scheint, ist ein Naturtrieb. Der Mensch ist kein naturverlassenes Mängelwesen. Die angstbesetzte Aggressivität gegen alles Fremde war immer schon ein Motiv des zivilisatorischen Fortschrittes – als Kriegskunst, Technik und als Wissensbegierde und Wissenschaft. In ihren höchsten, also am meisten geschätzten Formen als reine Kunst scheint Kultur etwas Unnützes – und imitiert doch nur die Pfauen.

931 Bonobos-kleinKeine Frage: Auch die Gesellschaften (Sippen) der Bonobo-Affen haben Kultur.

Bonobo-Affenmutter
spielt mit ihrem Kind

 

 

Sie kommunizieren über unmittelbare Körper-Signale: Gesten, Gebärden.

Blicke, auch Lust– oder Warn-Laute gehören dazu. Ihre Gruppen-Hierarchien, ihre Rollen-Spiele und ihre feinsinnige soziale Einbettung von sexueller Lust lassen sich nur als spezifische Lebenskultur beschreiben. Nur über etwas, das der menschlichen Sprache ähneln würde, verfügen sie nicht. 

Die Angewohnheiten der Schimpansen, ihre Macht- und Hierarchiekonflikte zu inszenieren und zu bewältigen, erinnern den Primatenforscher Frans de Waal an die Kultur unserer Politiker. Bonobos gelten ihm im Vergleich dazu eher die Hippies der Affenkultur.

Und die hohe Kultur, die Kunst? Größere Künstler als Bonobos und Schimpansen sind die Laubenvögel. Die Männchen dieser in Asien heimischen Vogelart bauen zur Brautwerbung auf dem Boden aus Zweigen imposante Laubenkonstruktionen, die sie mit Muscheln, Blättern oder Blüten verzieren – neuerdings auch mit aufgesammelten Plastikteilen,  Münzen oder Teelöffeln. Dieses Nest ist reine Kunst. Das eigentliche Nest wird nach der Befruchtung der Weibchen weniger prächtig, dafür an geschütztem Ort in einem nahe gelegenen Baum gebaut.

Die am Himmel singende Lerche signalisiert durch ihren Gesang  potentiellen Paarungspartnern ihre „Schönheit“. Das vermittelte Signal hat keinen Inhalt – seine Form ist der Inhalt. So sehr, dass auch Menschen, die sich nicht direkt angesprochen fühlen dürften, ein Gefühl von „schön“ beschleicht. Alle kulturellen Phänomene wie Mythen, Musik oder Kunst leben davon, dass sie nicht nur „teuer“ sind (und unnütz im engeren Sinne), sondern auch formschön.
Hohe Kunst funktioniert also nicht nur bei den Pfauen offensichtlich nach dem Handikap-Prinzip (Eckart Voland). „In einigen Fällen scheint bloße Neuheit als Zauber gewirkt zu haben", wusste schon Charles Darwin (1875). Er interpretierte die beobachtete „Fähigkeit zu singen oder fremdartige Rufe auszustoßen, oder Instrumentalmusik hervorzubringen“ als den eindeutigen Versuch, Weibchen der jeweiligen Gattung zu beeindrucken.

Schimpansenkultur

Wortkraulen, „Wortlausen“ – so beschreibt der Schweizer Sprachforscher Urs Boeschenstein im Anschluss an Robin Dunbar die Kommunikationsform, die den Übergang von der Laut-Kommunikation der Primaten zur Sprache erklären können. Boeschenstein über die Frühformen des sozialen Denkens bei Primaten:
„Jane Goodall, die Primatenforscherin, die Schimpansengruppen während Jahren beobachtete, erzählt die Geschichte von Mike, einem kleinen, eher schwachen aber gescheiten jungen Schimpansenmann. Eines Tages nahm Mike zwei Metallbehälter, in denen Jane Goodall ihren Brennstoff zum Kochen aufbewahrte, und begann sich damit Aufmerksamkeit zu verschaffen. Er machte Krach. Das tun Schimpansen, wenn sie um Rang streiten, indem sie Äste heftig bewegen oder sich auf die Brust trommeln. Mike machte Lärm mit Kerosinbehältern und erreichte, dass ihn die übrigen Männer als obersten Krachmacher akzeptierten. Er schaffte es, sich die dominante Position in der Männerhierarchie zu erobern.  Mike war offenbar ein ‚gescheiter’ Affe. 
Was musste Mike denken können, um seine Strategie zu planen? Bevor Mike die Benzinkanister zum Stärkesignal umfunktionierte, hatten schon andere Schimpansen mit den leeren Trommeln gespielt. Aber Mike gelang es, sich eine Vorstellung zu machen, welchen Effekt er mit seinem ‚display’, mit seiner Veranstaltung, erreichen könnte. Er plante seine Handlung und konnte Wirkungen vorausberechnen. Er war in der Lage, sich vorzustellen, wie seine Handlung auf andere wirken würde, er konnte sich die Reaktion der anderen vorstellen. ‚Social event perception lies at the core of chimpansee social intelligence’ , schreibt Merlin Donald in seinem Buch über die Urspünge der Denkfähigkeit des modernen Menschen. Die Fähigkeit, Ereignisse als Einheiten wahrzunehmen und solche Ereignisse im Kopf zu planen, ist die Grundlage der sozialen Intelligenz der Schimpansen. Aus dieser Fähigkeit konnte Kultur wachsen, das gelernte und tradierte Wissen einer Gruppe. (…)
Die Gehirne dieser Vorfahren konnten ‚Episoden’, ganze Sequenzen von Ereignissen speichern, und sie konnten diese Abläufe von Erinnerungen zum Nachdenken brauchen, sie konnten ihre Erfahrungen nach den Maßstäben ihrer Gefühlssprache ordnen. Sie hatten gelernt, Erfahrungen zu bewerten, und sie bewerteten nach einer gemeinsamen Ordnung von Werten: Ausgleich, Gleichgewicht, Gleichheit, Miteinander, Miteinanderteilen, Miteinanderleben, Freuen, Trauern, Lachen, Weinen - miteinander.“

Menschenkultur

„Kultur“ ist kommunikatives Handeln, mit dem der Mensch den Dingen Sinn und Bedeutung zuweist. Aus sprachlich repräsentierter Sinn-Kultur formt er sich selbst Bewusstsein und Identität. Clifford Geertz definiert im Anschluss an Max Weber Kultur als das vom Menschen geschaffene, „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“:  Kultur ist ein „historisch überliefertes System von Bedeutungen, die in symbolischer Gestalt auftreten, ein System überkommener Vorstellungen, die sich in symbolischen Formen ausdrücken, ein System, mit dessen Hilfe die Menschen ihr Wissen vom Leben und ihre Einstellungen zum Leben mitteilen, erhalten und weiterentwickeln."

Kultur vermittelt die Einpassung des einzelnen Individuums in die Gemeinschaft der Mitmenschen. Fühlen, Denken und Verhalten des Menschen verfestigen sich in kulturellen Mustern und ihren gesellschaftlichen Rollen-Strukturen.

Voraussetzung der menschlichen Kulturentwicklung ist die Sprache. Sie erlaubt es, Erfahrungen zu konservieren, im Gedächtnis zu speichern und weiterzugeben an die Nachkommen. Bei Tieren mit entwickeltem sozialem Gemeinschaftssinn ist über den Generationswechsel hinweg in der Regel keine Verhaltensänderung festzustellen. Menschen geben ihr kulturell erworbenes Wissen weiter und die neue Generation kann auf dem, was die Alten gedacht und erfunden und sprachlich fixiert haben, aufbauen. In Tiergesellschaften gibt es Veränderungen als Anpassung an Umgebungs-Veränderungen, bei Menschen gibt es Geschichte. Michael Tomasello nennt das den „Wagenheber-Effekt” der menschlichen kulturellen Evolution.

Zu den Voraussetzungen menschlicher Kulturentwicklung gehört mehr. Mit dem Sprechen lernen Kinder, Dinge mit Namen zu benennen und „Ich" und „Du" zu unterscheiden. Menschenkinder haben eine außergewöhnliche Empathiefähigkeit, ihre Nachahmungs-Spiele beschränken sich nicht auf Mimikry, sondern sie lernen die intentionale Perspektive anderer zu übernehmen. Sie können nicht nur Räuber und Gendarm, also Gejagte und Jäger spielen, sondern sich auch in Autos und Flugzeuge „verwandeln“. Sie lernen im Alter zwischen drei und fünf Jahren, sich in die Absichten anderer hineinzuversetzen, können „so tun als ob“ (täuschen) und auch so denken. „Diese distanzierte und elastische Behandlung propositional verfasster Wahrheiten war es, die den Menschen zu dem Erfolgsmodell der Evolution gemacht hat.“ (Karl Eibl)

Dabei hilft ihnen ihre Fähigkeit, Verhaltensprogramme unterbrechen, alternative Verhaltensweisen zu erwägen – was Arnold Gehlen „Hiatus“ nannte. Der Moment des Innehaltens ist Voraussetzung für Bewusstsein und Reflexion. Menschen können nicht nur Informationen speichern und austauschen, sondern diese auch mit Zusatzinformationen versehen: Unter welchen Umständen oder aus wessen Perspektive ist das so und so? Ein Vorrat an „bedingt wahrer Informationen“ (Eibl) macht den Wissensbestand flexibel und bedeutet einen riesigen Vorrat für Handlungsoptionen. Auch Emotionen lösen nicht einfach nur Reflexe aus: Selbstwahrnehmung und Bewertung kann sie filtern, bevor ein kulturell vorgeformtes Handlungsmuster gewählt wird.

Sprache ist ein billiges Signal. Er sagt, er sei ein potenter, starker Held? „Das kann ja jeder sagen“ ist die sprichwörtliche Entlarvung eines billigen Spruchs. Wenigstens emotional aufgeladen müsste Sprache sein, um an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. 
Aufwändige Signale überzeugen mehr. Das Einschüchtern von Gegenparteien - durch Gorilla-Gebrüll, Säbelrasseln, Trommelwirbel, Kriegstanz – funktioniert genauso wie die Partnerwerbung. „Anbalzen“ wäre das Mindeste. Wer unterhaltsam reden kann, hat mehr Erfolg bei den Frauen, ersatzweise hilft nur so etwas Unnützes wie ein Cabrio.

Gleichzeitig ermöglicht es die Sprache mit ihren Vergegenständlichungs-Effekten, über Abwesendes und mit Abwesenden zu kommunizieren. Sprache und vor allem die durch Schrift kultivierte Sprache ermöglicht die Ablösung des Denkens von der aktuellen Situation. Schriftsprache ermöglicht abstraktes Denken. Nur so können wir uns über Vergangenheit und Zukunft austauschen. Und da es ein Bewusstsein der eigenen Wahrnehmungsweise gibt, können wir über Mythos und Wahrheit nachdenken.

Vom kulturellen Sinn des Spiels

Die kulturelle Welt, die in der menschlichen Kommunikation entsteht, nennt Eibl „Zwischenwelt“. Diese Zwischenwelt ist kein willkürliches Konstrukt, das die menschliche Selbstwahrnehmung gefangen hält, sie ist die Welt für uns”. Die prekären kulturellen Zwischenwelt-Konstruktionen müssen immer neu bestätigt und aufgefrischt werden. Daher freut uns jede Wiederholung – sie bestätigt. Und es freut uns, wenn Handlungserfolge unsere Weltsicht als „richtig“ bestätigen, wenn sich unsere Annahmen über unsere Umwelt als konsistent erweisen. Denn „wir vergleichen die Daten, die über unsere fünf oder sechs Sinne, unser Gedächtnis, unsere apparative Ausrüstung, unsere logischen Schlussverfahren, die Mitteilungen anderer liefern, und wenn sie sich als konsistent erweisen, dann sind wir einigermaßen beruhigt und sagen: So wird es wohl sein. Mehr Realität kann man vernünftigerweise nicht erwarten.“ (Eibl)

Eibl sieht im Spiel einen Motor der menschlichen Kulturentwicklung. Im Unterschied zu den Tieren währt die Lust am Spiel bei den Menschen bis ins hohe Alter. Und es gibt universelle Muster – die sich etwa im Spiel mit den Worten (Dichtung) äußern, oder in den magisches Bedürfnis, mit Feuer zu spielen. Menschen spielen gern Rollen, erfreuen sich am Rollenspiel auf der Bühne.

Dieses Spielverhalten prägt auch die moderne Medienwelt. Die Lust am Horrorfilm erinnert an pleistozäne Mutproben, mit denen Mammutjäger den Weibchen zu imponieren suchten. Typischerweise verwenden viele der Horrorfilme die Requisiten aus der Welt der Dinosaurier. Gefährliche Urgestalten trifft man auch überproportional in Geisterbahnen an, die jungen Männern die Gelegenheit verschaffen, ihre Angebetete schützend in den Arm zu nehmen.

Menschenkinder üben nicht nur wie kleine Löwen im Spiel ihre Körperkräfte einschätzen zu lernen. Sie lieben auch Memory oder Brettspiele. Offenbar werden die komplexen Gehirnfunktionen im Spiel erprobt und herausgebildet – und frisch gehalten. Kreuzworträtsel lösen, Skatspielen und Gedächtnistraining gehört zu den Standards jedes Programms „Fitt im Alter“. Der ungewöhnlich zeitaufwändige Fernsehkonsum, der das mediale Zeitbudget des Romane-Lesens oder Theaterbesuchs früherer Generationen weit überschreitet, erklärt sich auch als eine Art Spiel – als emotionales Probehandeln, das die Kultur der Dorfgemeinschaften mit ihren Riten und populären Festen ablöst.

Die Lust am Spiel hat sich längst verselbständigt. Offenbar verschafft sich der Mensch intrinsische Belohnung durch erfolgreiches Tätigsein unabhängig vom aktuellen äußeren Erfolg. Menschen haben auch da große Empathiefähigkeiten: Sie können beim Spielen zuschauen. Tiere wollen immer gleich selbst mitspielen.

Kunst

Auch Kunst ist ein altes kommunikatives Handlungsfeld. Schon in der jüngeren Altsteinzeit (vor rund 35.000 Jahren) malten unsere Vorfahren in Höhlen tierköpfige Menschen mit Phallus an die Wand. Oder schnitzten Menschen mit Löwenkopf aus einem Mammutzahn. Auch das früheste erhaltene Musikinstrument ist 35.000 Jahre alt – eine Flöte aus Schwanenknochen, gefunden in einer Höhle auf der Schwäbischen Alb. Schätzungsweise 70.000 Jahre alt sind die frühesten Zeichen von Schmuck: Acht Millimeter große Häuser einer Wasserschnecke, mit Löchern versehen und mit roter Pigmentfarbe verziert. Aus derselben Zeit stammen Ockerstückchen, in die x-förmigen Gravuren eingeritzt wurden. Der Archäologe Christopher Stuart Henshilwood, der sie entdeckte, sieht darin die Fähigkeit zum symbolischen Denken. Der Homo sapiens demonstrierte schon mit der Verzierung der Faustkeile seinen ästhetischen Überschuss. (Steven Mithen)

Die hohe Kunst ist mehr als kultivierter Pfauen-Federschmuck und Angeberei. Auch Kunst produziert Lust und wirkt wie eine Droge durch ein körperinneres Belohnungssystem. Im kultivierten Spiel organisiert sich der Mensch eine Welt, die ihm ein Empfinden von Glück, Freude und Zuversicht beschert und bei der Stress-Bewältigung hilft. Mit Kunst und Kultur kann sich der Mensch entspannen, seine Kräfte regenerieren und sein Immunsystem stärken.

Universell scheint sich bei musikalischen Harmonien ein Lustgefühl einzustellen, das nicht in Worte zu übersetzen ist. Oktaven und Quinten werden als wohlklingend empfunden, Sekunden als dissonant und unwohl klingend. Das mag ein Grund dafür sein, dass man mit der modernen („ernsten“) Musik des 20. Jahrhunderts zwar seine besondere Bildung herausstellen kann, diese Musik erzeugt aber keine Wohlgefühle und kann damit die Masse der Menschen nicht erreichen.
In der Kunst gibt es übrigens dasselbe Phänomen: Moderne Kunst mag einen hohen Distinktionswert haben, aber sie ist nicht populär, wenn sie die spielerische Lust an reinen Formen ignoriert und nicht mehr die sinnlichen und emotionale Bedürfnissen der Menschen bedient.

Religionskultur

„Jede Religion baut auf den Prinzipien „nutzloser" Kostspieligkeit und mentaler Gegenwelt auf.“ (Volker Sommer) Die Lebendigkeit einer Religion zeigt sich in den Verhaltenszumutungen, mit denen sie ihre Mitglieder selektiert, und am Maß der Verschwendung. Religiöse Menschen spielen einander eine „Anderswelt“ vor, die Gemeinschaft bestätigt die Fiktion. Die religiösen Riten sind  multimediale Shows voller Dekor, Klang und Farbe, oft begleitet von eingeübten stereotypen Körperbewegungen, ostentativer Verschwendung und „self-handicapping“.
Ihr Sprachvermögen lässt die Menschen über Abwesendes nachdenken – ursprüngliche religiöse Riten lassen sich verstehen über ihre Funktion, den Gruppenzusammenhalt durch Rituale zu festigen. In einem zweiten evolutionären Schritt kam (seit der „Achsenzeit”) hinzu, dass gemeinschaftliche Weltbilder entwickelt wurden, die sich eigneten, intellektuelle Restprobleme zu „lösen“. Der Weltenschöpfer wurde als genialer Handwerker gedacht. Das Bewusstsein gibt eben auch das Wissen, dass es mehr gibt als man weiß.

Kultur der Gemeinschaft, Kultur der Gesellschaft

Von seiner Evolutionsgeschichte her ist der Mensch ein Herdentier, ausgestattet für ein Leben in kleiner Sippe, unter Verwandten und Freunden. (Gerhard Vowinckel) In einfachen Gesellschaften war der Einzelmensch außerhalb seiner (Dorf-)Gemeinschaft nicht lebensfähig, wurde als „Fremder“ nirgends aufgenommen. Die verwandtschaftliche Gemeinschaft war eine Überlebensgemeinschaft. „Eine Familie, die zulässt, dass einer der ihren stirbt, ohne ihn zu beweinen, bezeugt damit, dass sie keine moralische Einheit und keinen Zusammenhalt hat“, bemerkte  Emil Durkheim. Gegenüber Fremden durfte man im Mittelalter etwas so Unmoralisches tun wie Zinsen zu nehmen. Die Grenze beim Verhalten Gegenüber setzte nicht die eigene Moral, sondern die Angst, dass einer aus der Sippe des Betroffenen auftritt als Rächer. Die Kultur der Lebensgemeinschaft bezog sich nur auf die eigene Sippe. Außerhalb herrschte im Zweifelsfall rohe, „unkultivierte“ Gewalt.

Innerhalb der eigenen Sippe gilt die gemeinschaftliche Moral, nicht gegenüber Fremden. Sippen-Altruismus ist selbstverständlich. Das beruht allgemein auf Gegenseitigkeit, nicht aber in jeder konkreten Situation. Geschenke schaffen Bindung, Gegengeschenke werden natürlich erwartet. Beim gemeinsamen Essen mit Freunden geht es um mehr als um Nahrungsaufnahme, das ist der Urgedanke des „Abendmahls“. Der moralisch Handelnde ist des Lohnes seines Handelns umso würdiger, je weniger er es darauf abgesehen hat. Die soziale Verankerung in verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen bindet den Menschen.

In der vormodernen Gesellschaft existierte neben der alltäglichen Lebenskultur der bäuerlichen Gemeinschaften eine Kultur der Mächtigen (des Adels und der Höfe). Seit dem 4. Jahrhundert kannte die christliche Welt religiöse Einsiedlerkolonien und Klöster, die sich im Mittelalter zu Zentren einer besonderen Kultur entwickelten. Die verschiedenen Lebensgemeinschaften hatten kulturell nur wenige Berührungspunkte, was sich auch in der Trennung ihrer religiösen Praktiken zeigt. Das Leben in Städten erforderte wiederum eine eigene Regelung des Alltags – eine neue Bedeutungskultur.

Der Prozess der modernen Gesellschaft beginnt in der Umwertung des „Fremden“. Tauschgeschäfte konnte man anfangs nur mit Fremden machen, denen man vertraute. Dieses persönliche Vertrauen wird in komplexeren Gesellschaften ersetzt durch besondere Kulturmuster - eine Handels-Ordnung. Als Bindemittel, die die Verwandtschaftsbindung über die Dorfgemeinschaft hinaus ersetzen, fungieren Institutionen der Macht und das Geld.
Mit der Kulturtechnik der „doppelten Buchführung“ verselbständigte sich die Logik des Geschäftes gegenüber den Emotionen des Geschäftsmannes. Seine Wohltätigkeit gegenüber Verwandten und seine Schutzgelder tauchen da als „Kosten“ auf und belasten das Ergebnis. In der Geld-Gesellschaft dient der Beruf der Befriedigung des Geld-Egoismus, sein Ziel ist nicht Selbstverwirklichung im Arbeitsergebnis. Politik wird zum emotionslosen Rollenspiel (Machiavelli), der Staat als erfolgreicher Schutzgelderpresser monopolisiert die Gewalt und garantiert mit seinem strengen Regiment somit die Ordnung unter den wölfischen Egoisten (Hobbes). 

Diese Idee der Neuzeit, die mit dem entsprechenden Menschenbild ausgestattet wurde, theoretisierte die Gesellschaft von Fremden und löste die Familien-Metaphern ab, mit denen die gesellschaftlichen Kulturen des Mittelalters sich selbst beschrieben und interpretiert hatten. Aber diese neuzeitliche Idee der Gesellschaft stand immer unter dem kritischen Druck derer, die das als „Entfremdung“ auffassten und die „Natürlichkeit“ der Familienstrukturen erinnerten. So wandte sich Martin Luther gegen die Käuflichkeit des Seelenheiles mit der Feststellung, ein gütiger Vater-Gott gewähre in einer Selbstlosigkeit, wie dies eben nur ein echter Vater tut, die Erlösung des Einzelnen.

Seit der französischen Revolution soll der Zentralstaat nicht mehr nur Zweckverbandsein, sondern die Vereinigung des Volkes als eine „Nation“, der man durch Geburt angehört, also im Grunde eine große Familie. Ernst Moritz Arndt antwortete 1813 auf die Frage nach „des Teutschen Vaterland“ mit derselben Freundschafts-Metapher: Es ist das Land,  „wo jeder Teutsche heißet Freund“ und - die Idee der Freundschaft lebt von der Feindschaft zu den Fremden - „wo jeder Franzmann heißet Feind“. Wo der Staat nicht mehr nur ein akzeptiertes, aber notwendiges Übel ist, sondern geliebt werden will, da ist der Boden bereitet für modernen Nationalismus. Auch der Faschismus bedient sich der Familien-Metaphern.

Wo man heute von „Entwicklungsgesellschaften“ spricht, findet man den Kampf der (modernen) Zentralgewalt gegen alte Gemeinschaftsbindungen. Stabil ist die moderne Staatsherrschaft erst dann, wenn sich eine neue Kultur kommunikativ durchgesetzt hat, die die bestehenden gemeinschaftlichen Bindungen entwertet. Dazu gehören – mehr oder weniger ausgeprägt – immer die Rechte des Individuums wie der Schutz der Frau gegen das, was die traditionelle Stammeskultur für sie als normal und natürlich definiert hatte.

Biologisch verankerte soziale Bedürfnisse werden von einer Kultur immer eingepasst, überformt. Natürliche Antriebe werden institutionell geregelt, nach kulturellen Mustern organisiert, Verstöße werden sanktioniert. Die Bindungs- und Hilfsbereitschaft, die sich in einfachen Gemeinschaften auf den Kreis der Freunde und Verwandten bezieht, muss in der „anonymen“ modernen Gesellschaft staatlich ersetzt werden (Sozialsysteme). Aggressivität und Angst gegenüber Fremden muss, wenn Menschen alltäglich mit Fremden zu tun haben, unterdrückt, geordnet und sanktioniert werden. Der Egoismus gegenüber Fremden muss gezähmt werden durch allgemein gültige Regeln für die Austauschbeziehungen.

Auch nach mehreren Jahrhunderten im „Prozess der Zivilisation“ unterscheiden die Menschen emotional noch sehr deutlich zwischen Fremden, mit denen sie in kalkulierter Weise ihre Rollen-Beziehungen pflegen, und der „echten” emotionalen Verbundenheit mit Verwandten und Freunden. Betriebe stellen sich als „eine große Familie“ vor, um die Emotionen, die solche Metaphern wecken, in klingenden Erfolg umzumünzen. Fernseh-Anstalten nutzen alle Tricks, um ihre Zuschauer durch „parasoziale Beziehungen“ an die Glotze zu binden. Unpersönliche Kommunikations-Netzwerke unserer Mediengesellschaft (wie Facebook) spielen mit der Illusion, es handele sich um „Freundschafts“-Netzwerke.

Der Mensch hat sich bisher nicht adaptiert an die von ihm geschaffene Gesellschaft der Fremden, ihren kommunikativen Ersatz für Intimität, ihre unpersönlichen Bindemittel (Geld) und ihre komplizierten Verrechtlichungen der Macht-Verhältnisse. Erst seitdem die elektrischen Medien niemanden, nur weil er allein ist, in dem Gefühl lassen, allein zu sein, kann sich eine Kultur der „Single-Gesellschaft“ entwickeln - aber der Mensch scheint keineswegs so flexibel zu sein, wie der Markt seine Arbeitskräfte gern hätte: Singles, so frei sie scheinen, empfinden sich auch heute – noch – als unglücklicher als unglücklich Gebundene (Verheiratete).

Das kultivierte Selbstverständnis „Individuum“ kann nur eine Rolle sein, die Situationen markiert, in denen der Mensch sich von sozialen Bindungen befreit. Das Bedürfnis nach Bindung bleibt wie das Bedürfnis nach einem transzendierenden Sinn.
Man kann sich einen Fremden unter Fremden nicht als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Kultur ist offenbar nicht beliebig konstruierbar. Menschliche Gesellschaften können ihr „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“ nicht willkürlich neu erfinden.

    siehe auch die Texte zu
    Was ist Kommunikation?
    Das „kommunikative” Gedächtnis”
    Kultur der Erzählung (nach Albrecht Koschorke)

     

    Lit.:
    Karl Eibl: Kultur als Zwischenwelt: Eine evolutionsbiologische Perspektive (2009)
    Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (1987)
    Gerhard Vowinckel: Verwandtschaft, Freundschaft und die Gesellschaft der Fremden. Grundlagen menschlichen Zusammenlebens (1995)