Klaus Wolschner                         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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III
Medien-
Theorie

Was ist Gedächtnis?

Das menschliche Gedächtnis ist kein Wissens-Speicher,
sondern ein aktiver Kommunikations-Prozess,
der weitgehend unbewusst und „implizit“ funktioniert.
Im Gedächtnis organisiert sich das Wechselspiel von Individualität und Gemeinschaft

4-2013

Das menschliche Gedächtnis funktioniert kommunikativ, es ist ein „soziales Organ“. Das Gedächtnis ist keine Festplatte, Erinnerungs-Bilder sind nicht als fertige Datensätze an einer bestimmten Stelle des Gehirns abgespeichert. Visuelle Eindrücke können bis zu 30 Speicher-Orte haben.  Die Speicherorte für den Klang von Worten und der Wortbedeutung liegen so weit auseinander, dass Patienten mit einer „Wortbedeutungstaubheit“ zwar Wörter nachsprechen und auch Vorgesprochenes Material aufschreiben können, aber die Bedeutung nicht verstehen.

Das Gehirn muss daher, wenn es Erinnerung aktivieren will, aus verschiedenen Arealen Elemente rekonstruieren. (1) Bei jedem Abrufen einer Erinnerung werden assoziativ neue Netzwerke gebildet. Jeder „Zugriff", jede Erinnerung ist eine Rekonstruktion, bei der ein neuronales Netzwerk aktiviert werden muss, um die Erinnerungs-Bruchstücke neu zu kombinieren. Die „Erinnerung“ wird beeinflusst durch den emotionalen Kontext der Erinnerungs-Situation, in der Bedeutung zugeschrieben wird. Jedes Abrufen überschreibt und verändert das ursprüngliche neuronale Muster. Die Erinnerungsfragmente von Medien-Erlebnissen werden grundsätzlich genauso behandelt wie die Fragmente „erlebter“ Erinnerung. Bei der Rekonstruktion von Erinnerung vermischen sich Quellen. 

Autobiografische Erinnerung ist also ein lebenslanges und unbewusstes Nachdichten und Ausschmücken. Das Gehirn konstruiert eine der jeweiligen aktuellen Lebenssituation entsprechende „Montage lebensgeschichtlicher Erinnerung". Das autobiographische Gedächtnis ist wesentlich kommunikativ, es stellt sich über „Interaktionssituationen“ her (Harald Welzer). Das ist dem Menschen natürlich nicht bewusst, die kreative Re-Kombination der Erinnerungs-Bruchstücke passiert unbewusst.

Implizites Gedächtnis

Das Unbewusste beansprucht 90 Prozent des Gehirns, sagt der Gehirnforscher Gerhard Roth. Der menschliche Wahrnehmungsmechanismus hat eine begrenzte Kapazität, insbesondere sein bewusster Teil, das Bewusstsein, ist träge. Nach 60 Millisekunden hat das Gehirn zum Beispiel einen visuellen Reiz aufgenommen. Weitere 40 Millisekunden später hat das Gehirn eine Bewertung des Reizes vorgenommen, die das Verhalten beeinflussen kann - lange bevor die Teile des Gehirns, die Bewusstsein herstellen, „anspringen".  Es dauert mindestens 300 Millisekunden, bis ein Reiz bewusst wahrgenommen wird.

Das Gehirn identifiziert unbewusst bereits bekannte Muster: Etwas, das so ähnlich aussieht wie ein Apfel, wird als Apfel identifiziert. Eigentlich gibt es nur „Äpfel“, jeder ist unterschiedlich, niemand kann alle jemals gesehenen Äpfel im Gedächtnis abspeichern. Das Gehirn selektiert Merkmale nach optischen, aber auch handlungsorientierten Merkmalen, und generiert (implizit, unbewusst) daraus eine Regel, die einen Gegenstand unverkennbar zu einem Apfel machen (perzeptuelles Gedächtnis). Ähnliche Regel-Muster gelten für die Gesichtererkennung – in einem auf dem Kopf stehenden Gesicht werden z.B. Anomalitäten nicht wahrgenommen, weil das Gehirn keine implizit abgespeicherten Muster zur Verfügung hat.

Mit nicht-bewussten Erinnerungen lassen sich verschiedene Phänomene von „Bauchgefühl", von spontanen Reaktionen und unerklärlicher Voreingenommenheit erklären. Implizite Erinnerung bezieht vor allem Wahrnehmungsmerkmale wie Farben, Kanten, Größe ein. Gefühle können vollständig auf impliziter Erinnerung basieren.  In dem Bereich des intuitiven  Handelns haben Emotionen wie Furcht, Glück oder Ekel eine wesentliche Steuerungsfunktion: Emotionale Reaktionen sind eng mit dem impliziten Gedächtnis verknüpft. Die erinnernden Empfindungen von Menschen gegenüber Worten oder Bildern auf emotionaler Ebene sind unabhängig von einer Erinnerung im konventionellen Sinne. Von Emotionen und den Signalen der nonverbalen Kommunikation „weiß" mein Gehirn deutlich mehr als mir bewusst ist.

Im Jahre 1911 berichtete der Schweizer Psychiater Claparede von einer Patientin, die über kein Kurzeitgedächtnis verfügte. Eines Morgens gab er ihr die Hand, in der er eine Reißzwecke versteckt hatte. Am nächsten Tag konnte sich die Patientin wie üblich nicht daran erinnern, ihm schon einmal begegnet zu sein. Aber sie weigerte sich, ihm die Hand zu geben. Das war ein früher experimenteller Nachweis für das, was heute „implizites Gedächtnis“ genannt wird: Es gibt Erinnerungs-Strukturen, die jenen Gehirnarealen, die dem Mensch Bewusstsein konstituieren, nicht gemeldet werden.

Nicht nur Atmung und Blutdruck werden vom Gehirn gesteuert, ohne dass uns das bewusst ist. Die Bewegungsabläufe beim Gehen oder Radfahren und andere automatisierten Handlungsabläufe sind nicht bewusst, sondern im „prozeduralen Gedächtnis“ gespeichert. Menschen, die mit zehn Fingern Schreibmaschine schreiben, können oft nur mit der entsprechenden Handbewegung sagen, welcher Buchstabe neben dem „t“ liegt. Klavierspieler sprechen vom Gedächtnis „in den Fingern“, wenn Bewegungsfolgen automatisiert sind. Was ist Gedächtnis?

Das implizite Gedächtnis ist unabhängig von der bewussten Erinnerung, aber es kann verknüpft sein. Darauf basieren alte Mnemotechniken: Ich verknüpfe beim Auswendiglernen die einzelnen Episoden mit den bildhaften Eindrücken der Ecken eines Raumes; wenn ich dann den Raum im Geiste oder real „abgehe", fallen mir die Episoden wieder ein. Jeder kennt das Phänomen, wenn er eine Stadt das zweite Mal besucht: An einer bestimmten Straßenecke kommt eine bestimmte Erinnerung hoch. Die Griechen bauten auf dieses Phänomen ihre Gedächtniskunst auf.

Die kognitive Psychologie beschäftigt sich mit dem Phänomen, dass ein „implizites“ Gedächtnis einen späteren Lernvorgang erleichtern kann: Wenn es („implizite“) Gedächtnis-Spuren der Verarbeitung eines Reizes gibt, können die bei einem späteren vergleichbaren Reiz die Verarbeitung erleichtern, auch wenn die alten Gedächtnisspuren vollkommen unbewusst geblieben sind.

Gedächtnisleistungen bei Babys erweisen sich in nonverbalen Reaktionen wie Blick-  oder Körper-Bewegungen. Babys blicken länger auf neue als auf alte Bilder, d.h. sie erkennen das bereits gezeigte Bild wieder. Babys saugen bereits 12 Stunden nach ihrer Geburt vermehrt, wenn sie vom Tonband die Stimme ihrer Mutter hören, als wenn die Stimme einer unbekannten Frau dargeboten wird. Gestillte Babys können im Alter von 15 Tagen den Geruch der Mutter wieder erkennen -  sie wenden den Kopf einem kleinen Kissen mit dem Geruch der Mutter zu. 
Drei Monate alte Babys strampeln normalerweise 5-10 Mal pro Minute. Haben sie an einem Band am Knöchel ein für sie sichtbares Mobile, strampeln sie doppelt so oft. Ein drei Monate altes Babys „erinnert“ sich etwa eine Woche an die Ursache der vergnüglichen Mobile-Bewegung. Der Austausch von Objekten an dem Mobile führt zu einer deutlichen Strampel-Reduktion. Wenn es einem drei Monate alten Baby nicht mehr gelingt, die Erinnerung abzurufen, lässt sich das Gedächtnis leicht auffrischen - die Erfahrung scheint „implizit“ gespeichert. Ab dem 18. Lebensmonat kann ein Kleinkind sich auf einem Foto selbst identifizieren, wenn es nonverbal antworten darf: Es erkennt sich in seinem Spiegelbild.
Babys zeigen sehr früh Erinnerungs-Funktionen, die dem „impliziten“ Gedächtnis zugeordnet werden, die Funktionen des expliziten Gedächtnisses werden später erlernt und sind stark an Sprach- und Benennungs-Leistungen gekoppelt.

Erst mit der Speicherfunktion von Sprache kann sich ein autobiographisches Gedächtnis entwickeln, „das die Gesamtheit der Erfahrungen und Erinnerungen auf ein [...] Selbst zu beziehen beginnt" (Welzer). Das Gedächtnis von Kleinkindern und auch Babys wächst durch Erfahrungen und durch Kommunikation, dem sogenannten „memory talk“ durch Bezugspersonen. Es ist ein komplexer Prozess von psychologischen und soziologischen, kulturellen und biologischen Schnittmengen, der zur Entwicklung der Sprache, des Ich-Bewusstseins und des Gedächtnis führt.

Kommunikatives Gedächtnis

Das Gedächtnis ist ein sich ständig neu formendes Konstrukt, das medial erlebte Geschichten aus Büchern oder Filmen in die eigenen Erlebnis-Erinnerungen mischt, ohne dass dieser Vorgang dem Sich-Erinnernden immer bewusst wird. In sein Wahrnehmen, Deuten und Handeln bezieht der Mensch Faktoren ein, die ihm nicht bewusst zugänglich sind. Dieses unbewusste Element des Gedächtnisses ist kommunikativ, es ist sozial eingebunden und lenkt unser Wahrnehmen und Handeln im Kontext der Kultur der Gemeinschaft.

Eine Erinnerung kann sich so als Montage entpuppen: „Es sind sozial gebildete bedeutungsvolle Erfahrungen und Verständigungen, die unser Gehirn unter Vollbeschäftigung halten und sowohl unser Gedächtnis wie unser Bewusstsein entwickeln und aufrechterhalten" (Welzer).

Kulturelle Schemata beeinflussen unsere Erinnerung und bestimmen mit, was wir überhaupt wahrnehmen. Wir neigen dazu, Fremdes auszusortieren und Bekanntes einzuflechten, Erinnerung verstärkt vertraute Schemata und passt unsere Wahrnehmung der Erinnerungsgemeinschaft ein. Das kommunikative Gedächtnis ist ein lebendiges Gedächtnis, es organisiert das komplexe Wechselspiel von Individualität und Sozialität. Das Selbstbild „Individuum" ist in der japanischen Kultur eben ein anderes als das „Individuum" in der europäischen Kultur.

Kommunikative Erfahrungen speichert das implizite Gedächtnis als soziale Urteilsbilder ab, die die Muster bilden, mit denen neue Informationen verglichen und bewertet werden können. Solche sozialen Marker werden uns als Intuition oder „innere Haltung“ bewusst, sie helfen bei der schnellen Bewertung neuer Situationen und begründen die Möglichkeit einer unbewussten Entscheidungsfindung.

Soziale Marker Helfen dem Individuum, die Verständnislücken auf seine Weise zu füllen, und Sinnfragmente so zusammenzufügen, dass sich die Zuhörer der Illusion hingeben können, trotz je individueller Sinngebung die „richtige“, authentische Geschichte zu verstehen. Genauso beeinflusse mediale „soziale Austauschprozesse“, also Filme, Geschichten und Mythen, die Bildung des kollektiven Gedächtnisses.

Nur weil diese Muster kommunikativ entstehen und fortentwickelt werden, können sie zu einem individuellen Verstehen führen, das in ein soziales Verstehen eingebettet ist. Ich- und Wir-Identität entsteht als Suggestion, die sich in einem permanenten Veränderungsprozess fortentwickelt und fortlaufend anpasst.

Geschichten werden in der Familie oder in anderen (religiösen) Gemeinschaften deswegen erzählt, weil sie schon jeder kennt. Die kommunikative Vergegenwärtigung von Vergangenem „ist kein bloßer Vorgang der Weitergabe von Erlebnissen und Ereignissen, sondern immer auch eine gemeinsame Praxis“, mit der die Gemeinschaft sich als eine Gruppe definiert, „die eine besondere Geschichte hat, an der die einzelnen Mitglieder teilhaben und die sich nicht zu verändern scheint“ (Welzer) – als eine Erinnerungsgemeinschaft.

Kognitive Lernprozesse werden unter Einbeziehung des impliziten Gedächtnisses verstärkt durch
- die lebendige und assoziationsreiche Visualiserung der Information,
- durch Verwendung leicht visualisierbarer Begriffe und die
- Verknüpfung von Information mit emotionaler Empfindung,
- durch Verknüpfung mit bereits gespeicherten Informationen, und
- durch wiederholte, intensive Auseinandersetzung mit der Information.

Wirksam wird das implizite Gedächtnisses unter anderem beim Priming: Wenn ein neuer Reiz implizit abgespeicherte Gedächtnisinhalte aktiviert, kann dadurch die Verarbeitung des neuen Reizes beeinflusst und verstärkt werden.

Wenn Menschen etwas nach einer kurzen Wahrnehmung - für Dritte unbegründet - positiv bewerten, kann dies darauf beruhen, dass der Abgleich mit dem impliziten Gedächtnis diese besondere Bewertung verursacht: Man wertet einen Sinneseindruck nur deshalb positiv (oder negativ), weil man ihn schon öfter gehört oder in einem besonderen Kontext implizit  abgespeichert hat. (Mere-Exposure-Effekt) 

Lernen durch Konditionierung verbleibt in aller Regel im impliziten Gedächtnis. Die Werbung nutzt seit langem verschiedene „implizite“ Botschaften, ansteckende Melodien, Humor, also Identifikationsmarker, um ihren Werbemitteln eine gute Resonanz zu sichern.

 

    Lit.:
    Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert Roth (2’2003)
    Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung (2002)

 

(1) Ein kleiner Exkurs aus Neurologie und kognitiver Psychologie: Verschiedene Gedächtnisleistungen basieren auf unterschiedlichen Gehirnmechanismen und können unabhängig von anderen Leistungen funktionieren. Deutlich getrennt scheinen etwa die neuronalen Bereiche von „deklarativen“ und eines „prozeduralen“ Gedächtnisfunktionen: Bei einer Amnesie ist meist nur das deklarative System gestört, nicht das prozedurale Gedächtnis.
Das deklarative Wissensgedächtnis speichert Fakten, Episoden und Daten, die in einem Durchgang erlernt werden können. Die Wiedergabe erfolgt nach einer Konsolidierung und die Information ist nur zugänglich über einen aktiven und intentionalen Suchprozeß.
Das prozedurale Gedächtnis beinhaltet Verhaltensakte, Fertigkeiten und Regeln. Eine elaborierte Verarbeitung ist nicht notwendig, ebensowenig eine Konsolidierung. Der Abruf ist der bewussten Erinnerung nur schwer zugänglich, es wird davon ausgegangen, dass diese Form von Gedächtnis phylogenetisch alt ist und auch ontogenetisch früh entsteht.
Die Amygdala ist an der emotionalen Färbung von Gedächtnisinhalten beteiligt und an der Konditionierung von Ängsten. Eine Läsion der Amygdala bewirkt Veränderung des emotionalen Verhaltens.
Der Begriff „implizites Gedächtnis“ fasst verschiedene Phänomene zusammen, denen unterschiedliche neuroanatomische Mechanismen zugrunde liegen. Dass bei Funktionen des impliziten Gedächtnisses verschiedene Gehirnsysteme aktiv sind, erweist sich bei entsprechenden Verletzungen.