Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

www.medien-gesellschaft.de


III
Medien
-Theorie

Cover WI

Neue Medien,
neue Techniken des Selbst:
 Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

Cover VR

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert
des Auges:
Virtuelle Realität
der Schrift

ISBN 978-3-7375-8922-2

COVER AS

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:

Augensinn und
 Bild-Magie

ISBN 978-3-7418-5475-0

Cover GG

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle
Geschichte machen

ISBN 978-3-746756-36-3

Cover POP2

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-756511-58-7

 

 

 

Alles Gehirngespinste?
Gehirne schaffen artgerecht Sinn

Wie die Gehirne ein gemeinsames, praktisches Wirklichkeits-Bewusstsein schaffen

 2023 ASx

„Sehen“ bedeutet nicht einfach Wahrnehmen des Sichtbaren, „Hören“ nicht direkte Wahrnehmung von Tönen oder Worten. Das Gehirn verfügt weder über ein Bilderbuch noch über ein Wörterbuch, genauso wenig wie die Festplatte eines Computers. Wirklichkeits-Bilder entstehen im Kopf. Hinter den Schädelknochen gibt es kein Licht, keinen Ton, keinen Schmerz. Kein Gefühl. Im Gehirn gibt es auch keine symbolischen Repräsentationen.
Wenn Menschen in einen geöffneten Schädel hineinschauen, sehen sie nichts als eine glitschige weisse Masse. Neurobiologen „sehen“ mit ihren Modellen
kurzzeitig gebildete und sich sofort wieder auflösende komplexe Aktivierungsmuster im Netzwerk der Synapsen. Bevor Sinneseindrücke der äußeren materiellen Umwelt in den Kopf hinein gelangen und dort zu Bewusstsein von Wirklichkeit verarbeitet werden können, müssen sie
, so die Neurobiologen, in neuronale Impulse umgewandelt werden. Wenn vor unserem „geistigen Auge“ Wirklichkeits-Bilder entstehen, können das nur Konstruktionen aus den neuronalen Impulsen sein. Wie das funktioniert, können selbst die Neurobiologen nicht erklären. Die Philosophie hat für das Nicht-Wissen das schöne Wort „Emergenz“. Die Welt in unserem Kopf ist nichts als eine „Vorstellung”, hat Arthur Schopenhauer 1818 formuliert. Den Verdacht hatte schon Platon.

SchädelknochenHinter den Schädelknochen gibt es kein Licht,
keinen Ton, keinen Schmerz. Kein Gefühl.
Patienten empfinden bei Gehirnoperationen keinen Schmerz.
Das bedeutet: Die physikalischen Reize der Außenwelt werden ungestört von direkten leiblichen Rückkopplungen verarbeitet.
Das Gehirn enthält rund 86 Milliarden Nervenzellen, die über extrem dicht gepackte Netzwerke aus membranumhüllten Kabeln untereinander kommunizieren. Jede Nervenzellen interagiert mit rund 1.000 anderen, und die Kommunikationsstellen zwischen den Nervenzellen, die Synapsen, sind entlang der Kabel platziert, die sich oft über das gesamte Gehirn erstrecken. Macht schätzungsweise fünf Millionen Kilometer Nervenzellkabel. Das macht das Gehirn zu einem effizienten Computer, zwar nicht schneller, aber viel  intelligenter als alle heutige KI.
Irgendwie entsteht darin das Bewusstsein eines Selbst, der menschliche Geist. Abgeschirmt wie in einem Bunker. Woher weiß das Gehirn, was wir bewusst wissen sollen?

Das Gehirn ist kein Computer, sondern ein kompliziertes Netz aus Milliarden von Nerven, das lernfähig ist, viele Arbeitsschritte gleichzeitig vollziehen kann und eine Basis für intuitive Interpretationen und intuitives Verhalten ist. Es ist ein Ergebnis „evolutionären Flickschusterei“. Unser Gehirn entscheidet nach Erfahrungen und Wahrscheinlichkeiten und spielt dem Bewusstsein gleichzeitig Eindeutigkeiten vor.

Zusammengefasst:

1. Die Wirklichkeit ist eine mentale Konstruktion

Im Gehirn kommen periodische elektrische Entladungen an, wenn wir sehen oder hören, schmecken oder tasten. In der Neurophysiologie der Großhirnrinde haben Hirnforscher keine grundsätzlichen Unterschiede bei der Verarbeitung akustischer, visueller oder taktiler Sinnesreize gefunden. 
Unser Gehirn deutet Nervenimpulse nach dem Ort ihres Eintreffens: Es weiß nur, auf welcher Nervenbahn ein Impuls eingetroffen ist und konstruiert daraus Farben und Formen, Bäume und Häuser, Landschaften und Gesichter, Wörter, Sätze und Gedanken. 
Viele Einzelheiten der Umwelt bleiben dabei unbemerkt, weil der Mensch über keine entsprechenden Sinnesorgane für sie verfügt oder die Sinnesorgane nicht für alle Frequenzen sensibel sind. 
Das Gehirn verarbeitet die Reize, die es empfängt, vergleicht sie mit seinem Gedächtnis für ähnliche Reize und setzt daraus in einem komplizierten Prozess unser Bewusstsein von Wirklichkeit zusammen – es entsteht ein „inneres“ Wirklichkeitsbild, das etwas anderes ist als die Summe der neurophysiologischen Impulse (Emergenz).

Hilfreich zum Verständnis ist der Vergleich mit der Welt der Fledermäuse. Ihre Welt ist identisch mit unserer Welt, die neuro-biologischen Prozesse im Gehirn von Fledermäusen sind ganz ähnlich - aber sie konstruieren ihre Wirklichkeit ganz ohne visuelle Reize. Und sie können sich in ihrer Wirklichkeit gut orientieren  (MG-Link)

2. Unsere „Wirklichkeit“ ist eine praktische Konstruktion

Die Vorstellung, die Welt sei durch unsere Sinne ganz unmittelbar und selbstverständlich wahrnehmbar, ist eine Illusion, die das Gehirn dem Bewusstsein vorspielt. „Wahrnehmungsglauben“ (foi perceptive) hat der französische Anthropologe Maurice Merleau-Ponty die Überzeugung genannt, dass wir die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind.
Aber diese Illusion ist sehr pragmatisch im Sinne von lebensdienlich konstruiert. Wenn ich eine Wand sehe und nicht davon ausgehen könnte, dass sie real ist, würde ich mir den Kopf stoßen. Kinder experimentieren mit ihrem Wahrnehmungsglauben, um zu erproben, was real ist und was nicht. Wenn wir mit der Hand auf den Tisch schlagen, erfahren wir praktisch-leiblich, ob der Tisch real ist oder eine virtuelle Projektion.

Die menschliche Wahrnehmung ist normalerweise nicht so naiv, etwas für wahr zu halten, das von einem passiven, gefesselten Körper nur gesehen werden kann. Das ist der Konstruktionsfehler von Platons Höhlengleichnis. Wirklichkeit ist das, was wir aktiv und handlungsorientiert erfahren und darauf aufbauend als Lebenswelt konstruieren. Für gefesselte Menschen gibt es kurzzeitig erzeugte Illusionen - im Kino. Wir lieben das Spiel mit Fiktionen, weil sie die Grenzen des Wirklichen markieren.

3. Die Wirklichkeit ist eine kongruente, gemeinsame Konstruktion

Wenn ich unterstellen müsste, dass Andere eine andere Wahrnehmung von Wirklichkeit haben als ich, könnte ich mit ihnen nicht gemeinsam handeln. Die Bedingung für soziales Leben ist, dass die wahrgenommene Wirklichkeit keine individuelle willkürliche Konstruktion ist, kein „Ego-Tunnel”, sondern eine gemeinsam wahrgenommene kognitive Konstruktion. Sie macht die Menschen lebensfähig in ihrer Gemeinschaft. Auch alles Reden, alle Kommunikation wäre illusorisch, überflüssig, wenn es nicht eine gemeinsame Sprache gäbe, mit der geteilte Wahrnehmungen sortiert und interpretiert werden.
Wobei die wahrgenommene Wirklichkeit art-typisch ist. Fledermäuse kommunizieren in ihrer Art. Menschen leben in einer schlichten Welt der mittleren Dimensionen mit geringer Komplexität - „Mesokosmos“ nennen das Evolutionsbiologen. Menschen nehmen nicht die Wirklichkeit der Mikrobiologie und der Quantenphysik mit ihren Sinnen wahr.

Mutter mit babyZu Punkt 1: 
Erst im Gehirn werden Reize zu Bewusstsein von Realität

Sehen, Hören, Tasten und Riechen sind kulturelle Aktivitäten. Die Vorstellungs-Bilder in unserem Bewusstsein sind mental konstruierte Bilder. Als symbolische Formen sind sie Modelle unserer Wirklichkeits-Wahrnehmung und Repräsentationen unserer geistigen Tätigkeit. Die Verarbeitung der Sinneseindrücke zu „Vorstellungen“ fügt hinzu, interpretiert, ordnet ein in einen räumlichen und zeitlichen Kontext, integriert individuelle und kollektive Erfahrungen. 

Dass die Welt anders sein könnte als der Mesokosmos, den wir wahrnehmen, ahnen wir zum Beispiel angesichts der Konstruktionen der Physik. Physiker „begreifen“ die Welt als nur mathematisch beschreibbare Teilchen, Wellen und Energiefelder. Da sie mit ihren abstrakten Modellen sinnlich in unserem Mesokosmos wahrnehmbare Effekte voraussagen oder hervorrufen können, gelten sie nicht als „geistes-gestört“, sondern eben als Wissenschaftler, die eine andere, eine physikalische Wirklichkeit beschreiben.

Ein mentales Bild ist immer Real-Abbild und emotionales Affektbild gleichzeitig. So versucht die Vorstellung dem Abbild eines Gesichtes beinahe selbstverständlich die Erfassung eines seelischen Zustands hinzuzufügen. Vorstellungs-Bilder sind Ergebnisse kreativer Handlungen.
Vorstellungs-Bilder sind von den Strukturen unserer Sinneswahrnehmungen geprägt und von dem kulturellen Gedächtnis, in dem auch die Sprache die kommunizierbaren Erfahrungen festigt. 

Unser Wortschatz für mentale Vorstellungs-Bilder stammt aus dem Gebiet des Sehens, aber es geht keineswegs nur um visuelle Vorstellungen. Es gibt auch Gehörbilder, Geschmacksbilder, Geruchsbilder und Tastbilder, also Vorstellungen und Gedächtnis-Eindrücke, die zunächst ohne visuelle „Bilder“ entstehen. Es gibt auch emotionale „Bilder“ - ich habe eine intuitive, unbewusste Vorstellung von „Ärger“, das Bild von Menschen, die sich ärgern, kommt hinzu. 

Die Frage, wie Reize im Gehirn zu Bewusstsein von Realität werden, betrifft die Medienwissenschaft fundamental. Die über die Sinnesorgane einströmenden und unbewusst verarbeiteten Reize selbst geben meist keine Auskunft darüber, aus welcher Quelle sie kommen. Reize verarbeitet das Gehirn unbewusst. Menschen im 17. Jahrhundert haben fasziniert berichtet, dass sie durch das Sehrohr, das den Bilderrahmen ausblendet, die Realität selbst in dem Bild sehen. Viele Sinneseindrücke werden ausgefiltert - wie das Rauschen der Wirklichkeit stören kann, wissen die Träger von Hörgeräten. Insbesondere beim Hören sind die von außen aufgenommenen Sinneseindrücke eher schlicht. Die „hörbaren“ Frequenzen sind begrenzt. Schallwellen mit einer Frequenz um die 100 Hertz vibrieren am Anfang der Membran, Frequenzen bis zu 4.000 Hertz am Ende. Für die Bio-Physiker ist da nicht mehr. Den komplexen Klangeindruck einer Symphonie, alles, was wir sonst hören, erfindet das Gehirn.

Optische und akustische Täuschungen geben Hinweise auf die Verarbeitungsregeln des Gehirns. Wer zum ersten Mal in einen Spiegel sieht, baut die Interpretationsmöglichkeit „Spiegelbild“ in sein geistiges Inventar ein. Schädigungen spezieller Bereiche des Gehirns erlauben den Neurologen Rückschlüsse auf die Verarbeitungsweise von Signalen: Patienten mit winzigen Läsionen bieten Einblick in das hochkomplexe Konstruktions- und Repräsentationssystems des Gehirns. Unterschiedliche Wahrnehmungen eines identischen Vorgangs erlauben schließlich Hinweise auf (z.B. geschlechtsspezifische) Selektionsstrukturen der Wahrnehmung.

Aus der Fülle der im neuronalen Netzwerk des Gehirns parallel ablaufenden Verarbeitungsprozesse kann zu einem Zeitpunkt nur ein Vorgang zur Meldung an das Bewusstsein ausgewählt werden. Besonders nehmen wir das wahr, was überraschend ist oder neu erscheint, was uns in tieferen Gehirnschichten emotional berührt oder bedrohlich ist und eine Handlung zu erfordern scheint. Das Bewusstsein ist ein kleiner, seriell arbeitender Mechanismus des Gehirns, während die unbewussten Gehirnfunktionen parallel verschiedene Prozesse bearbeiten können. 

Das Gehirn versucht die Ungereimtheiten zwischen den „Teilwirklichkeiten" der einzelnen Sinne sowie zwischen der gegenwärtigen und der im Gedächtnis gespeicherten „Wirklichkeit" auszugleichen. Für die Wirklichkeits-Konstruktion ist Konsistenzprüfung der Sinneseindrücke und ihr Abgleich mit den im Gedächtnis abgespeicherten alten Sinneseindrücken und Wirklichkeits-Konstruktionen entscheidend. 

Sinnes-Eindrücke „an sich“ sind vieldeutig

Das Sehsystem mobilisiert im Gehirn weit mehr neuronale Datenmuster als eine reine „Speicherung“ der Netzhaut-Bildes benötigen würde. Bild-Wahrnehmung ist mehr als das neurophysiologische Sehen. Akustische und optische Sinnes-Reize sind meist vieldeutig, erst die Reizverarbeitung filtert Formen und Farben und verwandelt das zweidimensionale Netzhautbild in eine dreidimensionale, bedeutungsvolle Welt.  
Egal ob eine Tomate grün ist oder rot, ob sie oval kugelrund geformt ist oder irgendwie unförmig, ob sie riecht oder ob noch unreif ist – ich „begreife“ die unterschiedlichen Dinge, die ich wahrnehme (= für wahr nehme), kraft meines aufmerksamen Verstandes als Exemplar der Gattung Tomate. Der Realitätseindruck, die spontane Wirkung von visuellen Sinnesreizungen, ist abhängig vom kulturellen Wissen der Sehenden.

Das Gehirn produziert genauso auch das Muster eines Abbildes des Körpers als Selbst-Bild. Und da kann einiges schief gehen: Berühmt ist das Beispiel von dem Patienten des Neurologen Oliver Sacks, der in seinem Bett ein „fremdes“ Bein entdeckt, es raus warf – und selbst hinterherstürzte. Er erkannte das Bein als Bein – aber nicht als sein Bein. Das sind offenbar zwei verschiedene Prozesse, die an unterschiedlichen Orten im Gehirn lokalisiert sind. Hirnverletzungen können dazu führen, dass bei der Abbildung der Realität im Wirklichkeits-Bewusstsein systematische „Fehler“ unterlaufen. Aus den Fehlfunktionen von Hirngeschädigten haben die Neurologen viele Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns gewonnen.

Erstaunlich ist, dass der Mensch kaum Bewusstsein hat von den vielfältigen Sensoren, die seine eigene körperliche Realität überwachen und steuern. Insbesondere von den Verarbeitungsprozessen im Gehirn spürt der Mensch nichts. Verletzungen im Gehirn verursachen nicht einmal einen diffusen Schmerz, wie das bei anderen inneren Körperorganen der Fall ist. Das Selbst-Empfinden des Leibes ist dagegen intuitiv und sehr ausgeprägt. Für unseren modernen Verstand ist es vor allem von den Modellen und dem Vokabular der Naturwissenschaften geprägt. Wie ein empfindendes Verständnis des Leibes ohne diesen mentalen Ballast möglich wäre, ist das Thema der Leib-Phänomenologie des Philosophen  Hermann Schmitz.

kinder-spielenZu Punkt 2:
Wir nehmen unsere Wirklichkeit handlungsorientiert wahr

Wahrnehmung ist keine Wiederspiegelung, sondern eine durch die Interessen der Lebewesen motivierte gemeinsame Erschließung der Umwelt. Kinder lernen die Dinge zu benennen und zu erkennen nach der Art, wie ihre Bezugspersonen benennen und erkennen. Sie beginnen den „Raum“ erst wahrzunehmen, wenn sie sich in ihm bewegen können. Wir nehmen einen „Stuhl“ nicht als Holzgerüst, sondern als „Stuhl“ wahr, wenn wir in als Stuhl benutzen können. Ein Metallstück kann als „Zange“ nur von einem wahrgenommen werden, der mit ihr umgehen kann. Wahrnehmung setzt also sensomotorische Aktivität voraus, aber auch Interaktion.

Die biologischen Sinnesorgane selektieren die wahrnehmbaren Signale der Außenwelt. Jedes Erkennen setzt die Selektion und Strukturierung der Reiz-Fülle voraus, mit der sich der Geist vor einer Überschwemmung mit mutmaßlich unnützen Informationen schützt (Inhibition, MG-Link): Schlichte Abbilder der Realität wären voller „Rauschen“. Ein Fledermaus-Gehirn selektiert die Fülle der realen Sinnesreize anders als ein Ratten-Gehirn, als ein Frosch oder ein Schwarm Honig-Bienen. Tiere, die lernfähig sind in dem Sinne, dass Erfolg und Misserfolg ihres Verhaltens Folgen hat für ihr zukünftiges Verhalten, müssen eine Erinnerung an eigenes Verhalten haben und diese Erinnerung mit einer gewissen Repräsentation ihres leiblichen Selbst verbinden. Solche Tiere verfügen somit über einfache Vorstufe von Selbstbewusstsein, selbst wenn sie sich in einem Spiegel nicht selbst erkennen würden. Die Ausdeutung der Impulse aus den menschlichen Sinnesorganen zu einer Wirklichkeits-Wahrnehmung ist kulturell komplexer und nicht so sehr auf die Reproduktionsgesetze von Fressen, gefressen werden und Fortpflanzung reduziert wie die „niederer“ Lebewesen, aber natürlich nicht frei davon. „Der Übergang vom Affen zum Menschen sind wir“, sagte Konrad Lorenz.

Das geschulte Menschen-Gehirn hat kaum noch ein Problem damit, aus zweidimensionalen Netzhaut-Abbildern dreidimensionale visuelle Wirklichkeitsbilder zu konstruieren. Weder Geschmack noch Geruch sind stoffliche Eigenschaften. Vielmehr kommt es bei Kontakt mit bestimmten Stoffen zu Interpretationen des sensorisch-kognitiven Systems. Ins Bewusstsein gelangt nicht eine chemische Substanz, sondern ein mit dieser in regelhafter Weise verbundenes Repräsentat.
Das Gehirn konstruiert auch ein Zeitempfinden, unser Bewusstsein erschließt uns „Zeit” mit räumlichen Sprach-Metaphern: Zeit fließt, vergeht „wie ein Fluss”. Seit der Erfindung des Uhrwerkes versucht unsere Kultur, das Zeitempfinden einem mechanischen Takt zu unterwerfen. Die Filmtechnik macht Dehnungen und Stauchungen der mechanisch-gleichförmigen Zeit wieder zu einer alltäglichen Erfahrung des Zeitempfindens.
Die abstrakte Zeit hat für ein Lebewesen keine Realität. Für die  menschliche Wahrnehmung seiner Umwelt sagen Worte wie Jahrmillionen genauso wenig wie Millionstel Sekunden. Sehr lange Zyklen liegen außerhalb der Wahrnehmbarkeit ebenso wie sehr schnelle. Die alten Kulturen „rechneten“ in Einheiten von Ereignissen, also in der Brenndauer einer Kerze, Tagesmärschen, in Sonnen- oder Mondzyklen oder in menschlichen Lebenszyklen, also in Generationen
.

Hirnforscher haben in Experimenten untersucht, wie selektiv das, was unsere Sinnesorgane aufnehmen, auch dem Bewusstsein präsentiert wird. Zum Beispiel beim „Blindsehen“: Patienten, die aufgrund einer Gehirnschädigung auf einem Auge „blind“ sind, deren Gehirn also trotz intakter Linse die Sehimpulse eines Auges nicht zu bewussten visuellen Bildern verarbeitet, können doch, wenn man ihnen das „gesunde” Auge zuhält, recht zuverlässig auf einen hellen Fleck an der Wand vor ihnen zeigen. Die visuellen Impulse werden vom Gehirn verarbeitet, aber nicht an das Bewusstsein gemeldet. Ähnlich ist es bei der „Konfabulation“: Gehirn-Patienten, bei denen die Verbindung beider Hirnhälften gekappt ist, steuern mit der rechten Gehirnhälfte eine Reaktion – während die linke Gehirnhälfte dafür Gründe regelrecht erfindet (Konfabulation, Split-Brain-Experimente). Hirnverletzungen können dazu führen, dass bei der Abbildung der Realität im Wirklichkeits-Bewusstsein systematische „Fehler“ unterlaufen. Auch bei der Ausformung der sensorischen Integration im Kleinkindalter kann einiges schief gehen, was dann als Verhaltensdefizit die Pädagogen und Psychologen beschäftigt.

Das Handeln ist ein wichtiger Korrektur-Mechanismus der Wahrnehmung. Wer sich an der rot glühenden Herdplatte die Finger verbrannt hat, findet sie nicht mehr schön, sondern gefährlich. Das virtuelle Bild, das sich das Bewusstsein aus den Sinnesreizen zusammendichtet, muss plausibel, d.h. vor allem handlungsrelevant sein (und es muss zu dem passen, was unsere Mitmenschen wahr-nehmen, These 3).

Und: Um wirklichkeitsanalog zu wirken müssen Medien keine vollständige Repräsentation der Realität bieten. Auch Zeichen und Symbole können enorm handlungsmächtig wirken. Insbesondere Kinder können vor Trickfilmen genauso „mitfiebern“. Sie sehen oft lieber Trickfilme, weil die filmische Darstellung sich da aufs Wesentliche konzentriert. Erwachsene brauchen meist die komplexere bildliche Darstellung der Realität, um innere Emotionen zu mobilisieren.

Das Bewusstsein funktioniert modular, bei bestimmten Verletzungen im Gehirn fallen spezifische Wahrnehmungsmuster des Bewusstseins aus. Die alte philosophische Vorstellung, dass es ein Bewusstsein als Ganzes gäbe, bestätigt sich in der Neurobiologie nicht - es handelt sich dabei um eine von der verdinglichenden Sprache geprägte Illusion.

Unser Bewusstsein liebt keine Zweideutigkeiten, es entnimmt dem Geflimmer der Synapsen eindeutige Interpretationen. Die Wahrnehmung dient der Orientierung, um ein sinnvolle Reaktion vorzubereiten. Es ist biologisch zweckmäßiger für Lebewesen,  sich intuitiv und schnell für eine spezielle Interpretation zu entscheiden – auch wenn sie nur 50 Prozent  Erfolgsaussicht bringt, so interpretiert der Evolutionsbiologe Gerhard Vollmer diese Neigung zu spontanen Zufalls-Reaktionen. Der größere Anteil des handlungs-steuernden Prozesses ist dabei unbewusst.

Pascal Boyer hat zwei unterschiedliche Farbpunkte auf einen Bildschirm gebracht. Das Bild ruft, solange sie sich nicht bewegen, keine weiterführenden Interpretationen hervor. Werden diese Punkte so in Bewegung versetzt, dass einer von ihnen sich unregelmäßig über die gegebene Fläche bewegt und der andere diesem in seiner Bahn irgendwie zu folgen scheint, dann interpretieren die meisten Beobachter das so, als würde der eine Punkt den anderen gezielt „verfolgen”. Die Art und Weise, wie zwei Lichtpunkte auf einem Bildschirm bewegt werden, vermittelt spontan das Gefühl, dass es sich um zwei sich intentional verhaltende Objekte handelt. Erklärliche Vorgänge werden hingenommen, unerklärliche Vorgänge werden personalisiert und „intentional“ interpretiert.

Die Fähigkeit, Zeichen zu deuten, ist überlebenswichtig. Menschen neigen dazu, zufällige Ereignisse in Verbindung miteinander zu bringen. Wenn es spukt, dann nicht in der Welt, sondern im Gehirn, sagt der Züricher Neurologopsychologe Peter Brugger. Unser Gehirn sei geradezu „gläubig“ aus neuropsychologischer Sicht  - mit Zufall kann es nicht umgehen. Ausgehend von den Handlungsoptionen konstruiert es Zusammenhänge nach dem Muster: Wenn das Unwetter von Göttern gemacht wird, dann kann man diesen Göttern opfern, ist also nicht handlungsunfähig. Menschen neigen dazu, in diffusen Mustern ein Gesicht zu „sehen“ und in einem Buchstabensalat  Wörter zu erkennen. Brugger hat dazu Experimente gemacht und festgestellt: Nach mehrmaliger Gabe von L-Dopa, einer Dopaminvorstufe, nimmt die Bereitschaft zu, zufälligen Mustern eine sinnvolle Interpretation zu geben. Der Mensch sei zum Beispiel nicht in der Lage, eine zufällige Zahlenfolge aufzusagen, unbewusst produziere er immer irgendwelche Muster.
In einem Experiment mussten die Versuchsteilnehmer eine Figur mit den Pfeil-Tasten einer Tastatur aus der unteren linken Ecke des Bildschirms in die obere rechte Ecke führen. Das quadratische Spielfeld bestand aus drei mal drei Feldern. Oben rechts gab es eine Belohnung. Die absurde heimliche Regel des Spiels – wer in weniger als vier Sekunden oben rechts eintrifft, wird bestraft, nur wer länger braucht wird belohnt, erkannten von 40 Teilnehmern nur zwei. Die meisten Teilnehmer produzierten komplizierte Regeln, welche Zugfolgen zum Erfolg führen würden und gaben ihrem wirren Handeln so einen Sinn. Menschen mit großer Bereitschaft,  sinnvolle Erklärungen zu phantasieren,  sind oft die größeren Genießer und meist auch kreativer, stellte Brugger fest.

Gefühl und Verstand - Reptiliengehirn und Cortex konkurrieren

Die kognitiven Fähigkeiten des homo sapiens sind Ergebnisse eines evolutionären Entwicklungsprozesses. 
Die Sozial- und Kulturgeschichte der Menschheit in den letzten 10.000 Jahren hat keine neuen neurobiologischen  Strukturen hervorgebracht, sondern die vorhandenen kognitiven Potentiale im Rahmen einer kulturellen Entwicklung differenziert und verfeinert.

Das menschliche Großhirn ist eine neue Entwicklung der Evolution. Der Schädel des affenähnlichen Australopithecus  hatte vor drei Millionen Jahren einen Rauminhalt von 450 Kubikzentimetern, in seiner Entwicklung zum Homo sapiens hat das Volumen sich verdreifacht – durch Anbauten. Der Neuropsychologe Robert Ornstein hat für das Gehirn das Bild von einem alten, baufälligen Haus benutzt, das mehrfach durch Anbauten erweitert wurde und in dem alte Zimmer neu genutzt werden.  Das menschliche Gehirn umfasst das evolutionsgeschichtlich alte, kleine Reptilienhirn (Hirnstamm), mit dem primitive Wirbeltiere auskommen müssen. Das steuert noch beim Menschen grundlegende Körperfunktionen wie Atmung, Gleichgewicht, Bewegung im Raum. Das später entwickelte Säugetierhirn (Zwischenhirn) steuert insbesondere die überlebenswichtigen Emotionen. Darüber hat sich in der Evolutionsgeschichte die dünne Schicht des Großhirns gelegt, der Cortex.

Die Funktionen der drei arbeiten gelegentlich Hand in Hand und meist in fröhlicher Konkurrenz. Das merken wir immer wieder, wenn unser Verhalten stärker durch emotionale Antriebe und Gefühle gesteuert wird als durch alle vernünftigen „Gesichtspunkte“. Für die Konkurrenz der verschiedenen Bereiche des Gehirns ist die Gewohnheit des Tabakrauchens ein schönes Beispiel. Selbst drastische Appelle an den Verstand - „Rauchen kann tödlich sein“ – dringen oft nicht in die tieferen Schichten des Gehirns durch.

Die emotionalen Programme im Gehirn sind der bewussten Kontrolle weitgehend entzogen. Die instinkthaften Verhaltensimpulse des Reptiliengehirns sind durch Lernen kaum beeinflussbar oder beherrschbar. Duftende Speisen oder verlockende Signale, die ein sexuelles Abenteuer zu versprechen scheinen, schalten den oben aufsetzenden menschlichen Verstand aus. Gefühle haben Auswirkungen auf Wahrnehmungen und Entscheidungen. Wir können Dinge umso leichter im Gedächtnis behalten, je mehr wir Gefühle mit ihnen verbinden.

Kindergruppe1Zu Punkt 3:
Unsere Vorstellungs-Bilder sind gemeinsam geteilte Wirklichkeit

Unser Wirklichkeits-Bewusstsein entsteht nicht einsam, sondern gemeinsam. Was wir sehen und hören und ertasten nehmen wir wahr im Ausgleich mit dem, was andere mit den Augen, Ohren und Händen wahrnehmen. Wer eine subjektive Welt wahrnimmt, die nur individuell ist und vollkommen anders als die seines sozialen Umfeldes, gilt als wahrnehmungs-gestört, psychisch krank oder „geistes-gestört“. Unsere mentale Innenwelt ist das Ergebnis eines sozialen Prozesses, der unsere Wahrnehmung mit der unserer Gemeinschaft synchronisiert. Wir nehmen ein Naturgebilde nur als „Baum” wahr, wenn andere es auch als Baum wahrnehmen. Die mentale Konstruktion „Baum” ist daher nicht willkürlich - wenn jemand den Baum als Strauch wahrnehmen würde, würden wir sagen, dass er irgendwie spinnt. Und wenn jemand den Baum nicht sieht, sondern nur einen Haufen von Molekülen oder Nano-Partikeln, würden wir sagen, dass mit seiner sinnlichen Wahrnehmung etwas nicht stimmt, dass er in einer anderen Welt lebt.

Menschen können sich in sozialen Gemeinschaften bewegen, weil sie jedes nonverbal ausgedrückte äußere Anzeichen nutzen, um auf innere Gemütszustände zu schließen. Eine Geste oder ein Gesichtsausdruck, also eine Bewegung von Körperregionen, wird mit dem Erfahrungs-Schatz vergleichen und als Ausdruck von Wollen, Fühlen und Befinden interpretiert. Diese Konstruktionen sind wesentlich, das wird an Autisten deutlich, denen die Fähigkeit fehlt, nicht-verbale kommunikative Signale zu interpretieren.

Wir produzieren sogar Modelle vom Geist anderer Menschen, die uns deren Motive abschätzen lassen. Instinktgesteuerte Lebewesen haben es da einfacher. Menschliche Kommunikation ist in weiten Bereichen motiviert von dem Versuch, ein klares Bild der Motive und emotionalen Befindlichkeit des Anderen zu erlangen. Ohne den anderen zu verstehen können wir nicht wirklich „zusammenleben“. Wir machen uns ein Bild über die Empfindungen und Absichten der Kommunikationspartner, wir werten Körperbewegungen aus, Gesichtsausdruck, Mundbewegungen und vor allem Blicke - oft ohne dass uns das bewusst wird.
Bekannt ist die Metapher: Wenn zwei miteinander schlafen, sind mindestens vier beteiligt. Denn jeder der beiden leiblich Beteiligten hat ein „inneres Bild“ des anderen im Kopf, die Bilder nehmen nicht unerheblich Einfluss auf das Geschehen. In vielen Fällen sind auch eine Mutter und/oder ein früherer Freund „dabei“, biografisch abgespeicherte innere Bilder.

Menschen können sich nicht begegnen, ohne ihre komplex konstruierte und widersprüchlich gewachsene biografische Persönlichkeit („Ich”) zur Interpretation der Situation heranzuziehen. Da spielen Emotionen die entscheidende Rolle und die Fähigkeit, zu unterscheiden zwischen den leiblichen sozialen Beziehungen und „parasozialen” virtuellen Beziehungen - aus Medien, Träumen, Erinnerungen, aber auch aus religiösen Phantasien.

Sprache des Verstandes

Unser Säugetierhirn lernt in der Regel durch schlichte Konditionierung und unmittelbar erfolgende Belohnung. Nur das Menschenhirn kann mit Hilfe der Sprache intelligent Lernen, ist offen für Argumente und kann komplizierte und langfristige Verhaltensfolgen bedenken.
Wie das Menschenhirn das, was im Gehirn über die Umwelt und das eigene Verhalten als Zusammenhang konstruiert wird, zu Bewusstsein bringt, ist kulturell bedingt. Ein ersehnter Regenguss, ein Blitz kann für einen Bauern früherer Kulturen eine „göttliche Fügung“ sein, für einen modernen Stadtmenschen ein meteorologischer Vorgang. Worte können „Wirklichkeiten“ erzeugen, Fritz Mautner hat das „Wortrealismus“ genannt. Worte wie „Seele“, „ewiges Leben“ oder „Nation“ benennen durch Sprache konstruierte Wirklichkeiten, die nur real erscheinen, wenn die jeweilige Gemeinschaft daran glaubt.

Menschen, die muttersprachlich verschiedene Worte für die Töne der Farbe „blau“ lernen, haben weniger Mühe unterschiedliches Blau wahrzunehmen. Die Sprache ist ein soziales Medium – wir lernen so zu sprechen, wie die Menschen der geteilten Lebenswelt sprechen und können uns nur sprachlich verständigen, wenn wir „dieselbe Sprache“ sprechen. Das sprachliche Zeichensystem ist so stark, dass Christen einen an einem Kreuz hängenden Leichnam nicht als grausames Bild einer Folterung wahrnehmen, sondern mit dem Wort und der gesellschaftlich geteilten Erzählung von „Christus“ verbinden. So wird der grausam geschundene Körper zum schönen, anbetbaren Sinnbild von Gnade und Erlösung.

In das menschliche Bewusstsein drängen sich die rationalen Figuren von Sprache und Vernunft – und neigen dazu, die emotionalen und intuitiven Prozesse im Gehirn entweder zu verdrängen oder zu überformen und im Sinne der kulturgeschichtlich entwickelten Vernunft zu interpretieren. Aber das Gehirn ist nicht in erster Linie ein Organ des bewussten und vernünftigen, sprachlogischen Denkens. Das betrifft nur einen speziellen Bereich, den wir gewöhnlich überbewerten, weil er unser Bewusstsein dominiert. Das Gehirn hat sich zur Interpretation und Kontrolle von Körperfunktionen entwickelt, formuliert Ornstein trocken: „Sprache, Denken, Wahrnehmung, Intelligenz, Bewusstsein sind nur ein kleiner Bruchteil der Hirnfunktionen.“

Kinder lernen von anderen, was Wirklichkeit ist

Auch die Sprache als verbalisierte Zeichenwelt erlernt das Kind, indem es beobachtet und mit „geteilter Intentionalität“ (Michael Tomasello) nachahmt, wie seine Bezugspersonen dieses Zeichensystem benutzen. Wenn Kleinkinder in den ersten Lebensmonaten sehen regelrecht erlernen müssen, zeigt das, wie das neuronale Gehirn arbeitet. Auf die Netzhaut kommen nur flüchtige, zweidimensionale Lichtmuster. Die Sinneseindrücke werden im Gehirn zu „Vorstellungen“ interpretiert und geordnet. Säuglinge müssen das dreidimensionale Sehen mühsam erlernen. Sehen lernen bedeutet immer aktives Herumtasten und Abgleichen der sprachlichen Begleitlaute mit der Art und Weise, wie diejenigen, unter deren Aufsicht ein Kind sehen lernt, die Objekte bezeichnen. Wem als Kind von dem Weihnachtsmann erzählt wurde, findet noch als Erwachsener die damit verbundenen visuellen, akustischen und emotionalen Vorstellungen dank seiner Erinnerungen als vertraut und positiv besetzt.

Wirklichkeit aus dem Netz

Wie unterscheidet das Gehirn, ob ankommende Reize von sekundären Medien kommen oder „direkt“ aus der äußeren Realität? Ton vom Menschen, Ton vom Tonband – macht das einen Unterschied? 
Die Frage führt in die Mediengeschichte des Menschen. Im Unterschied zu dem direkten Kontakt der Haut kommt auch die akustische Kommunikation der Stimme aus einer „äußeren” Realität und wird vom menschlichen Gehirn doch mühelos integriert. Körpernahe Laut-Sprache und Schrift-Schriftsprache sind mediale Kulturen wie die künstliche, auf Grundlage der technischen Reproduktionsmöglichkeiten entwickelte Bilderflut. Das sind Medienkulturen, an die die menschlichen Gehirne sich gewöhnt haben. Warum sollten sie sich an die elektronische Medienwelt nicht auch gewöhnen?  (vgl. dazu meinen Text „Selbst im Netz”, 
MG-Link)

Gähnen ist nicht nur bei Menschen ansteckend, sondern auch bei Schimpansen. Und dieser Effekt tritt auch auf, wenn einem isolierten Schimpansen-Individuum Videosequenzen von gähnenden Tieren vorgeführt werden. Die Medialität stellt für die Konstruktion des Wirklichkeits-Bewusstseins im menschlichen Gehirn meist kein Problem dar.

Das Kino ist so beliebt, weil unser Gehirn offenbar gern mit dem Unterschied zwischen Fiktion und Realität im Sinne eines „emotionale Probehandelns” spielt. Menschen können über das Schauspiel, über Filme, Romane oder Computerspiele in fiktive Welten eintauchen und dabei den Bezug zur leiblichen Realität situationsbezogen und auf Zeit spielerisch verlieren. 
Entscheidend ist, dass die weitaus überwiegende Menge der von außen wahrgenommenen sinnlichen Eindrücke unbewusst verarbeitet werden. Diese abgespeicherten inneren Bilder gehören zu dem unbewussten Hintergrund, auf dessen Folien bewusstes „Wahr-nehmen” stattfindet.

Das Gedächtnis speichert nicht äußere Realität. Ohne die wertende Instanz unbewusster Gefühle gibt es kaum Erkenntnis und Wahrnehmung. Das Bewusstsein ist ein „Modellierungsapparat“, es konstruiert virtuelle Realitäten - Simulationen, an denen wir unser Handeln ausrichten (können).
Die - mit der Gemeinschaft geteilte - Vorstellung, dass es „ewiges Leben“ wirklich gibt, kann nur dann helfen, die Angst vor dem Tod zu verdrängen, wenn sie nicht als „Wortrealismus” und Gehirngespinst bewusst ist. Der unbewusste Urgrund unserer Vorstellung der Welt speist sich aus virtuellen Bildern und medialen Phantasien - das war schon immer so
.

 

    siehe auch:
    Bewusst sein - Wie der Mensch zu Bewusstsein kommt    MG-Link
    Bewusstsein des Selbst - Wie das ICH-Erleben in der Evolution des Bewusstseins entstand
      MG-Link

    Unser Gehirn liebt die virtuelle Realität: Wir produzieren mentale innere Vorstellungs-Muster, Herzensbilder
      und die Idee von Schönheit. Bilder sind Herrschafts-Bilder und Medien für Unsagbares.  siehe dazu auch
    Kraft der Bilder    MG-Link
    Selbst im Netz  MG-Link

    Zum dem Themenkomplex Bildkultur gibt es auf www.medien-gesellschaft.de u.a. folgende Texte:

    Bigger than life - Mammutjäger vor der Glotze   MGLink
    Über die Realität der medialen Fiktion  MGLink

    Bilder im Kopf - Über die neurologisch vermittelte Realitätswahrnehmung  MGLink 
    Bilddenken, Bildhandeln - Wort-Laute, Gebilde und Gebärden   MGLink
    Bild  gegen Schrift - Wortfetischismus und die Klagen der Schriftkultur über die Macht der Bilder   MG-Link

    Geschichte des Sehens und Kulturgeschichte des Bildes   MG-Link
    Sehen der Moderne - Neue Bilder in der neuen Medienkultur  MG-Link

    Bewegende Bilder – Geschichte des Films  im 19. Jahrhundert   MG-Link
    Reizflut, Reizschutz, Inhibition, Neurasthenie   MG-Link
    Aufmerksamkeit - über Neurologie und Soziologie einer knappen Ressource   MG-Link

     

    Literatur

    Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung: Faszinationstypen von der Antike bis heute (2005)
    A.Jean Ayres, Bausteine der kindlichen Entwicklung (1984)
    Wolfgang Brückner, Bilddenken - Mensch und Magie oder Missverständnisse der Moderne (2013)
    Heinz Buddemeier: Illusion und Manipulation. Die Wirkung von Film und Fernsehen auf Individuum und Gesellschaft  (1987)
    Mark Changizi: Die Revolution des Sehens. Neue Einblicke in die Superkräfte unserer Augen (2012, engl. The Vision Revolution. How the lastest research overturns everything we thought we knew about human vision. 2010) 
    Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert (1996)
       (Original: Techniques of the Observer, 1990)
    Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur (2002)
       (Orig: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle and Modern Culture, 1999)
    Antonio R.Damasio, Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn (1997)
    Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder. 
            Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern (2004)
    Ivan Illich: Askese des Blicks im Zeiten der show, in: Weltbilder – Bilderwelten, Hg. Klaus-Peter Dencker, (1995)
    Hans-Otto Karnath, Peter Thier (Hrsg.): Kognitive Neurowissenschaften (2012)
    Eric Kandel, Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, 
            Geist und Gehirn von der Wieder Moderne bis heute (2012)
    Thomas Meyer: Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik. (1992)
    Robert Ornstein, Richard F. Thompson, Unser Gehirn - das lebendige Labyrinth (1986, engl. The Amasing Brain, 1984)
    Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert (2003)
    Wolf Singer, Vom Gehirn zum Bewusstsein, aus: Der Beobachter im Gehirn (2002)   Link