Klaus Wolschner                         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

www.medien-gesellschaft.de


Links zu den Abschnitten

III
Medien-
Theorie

Martin Seel, Professor für Philosophie an der Uni Frankfurt
                                                 (Auszüge)                                              911

Medien der Realität und Realität der Medien

Medien sind eigentlich nichts Besonderes. Wir sehen im Medium des Lichts, wir hören im Medium von Geräuschen, wir kommunizieren im Medium der Sprache, wir tauschen im Medium des Geldes. Medien eröffnen jeweils ein Spektrum von Differenzen, denen im Wahrnehmen, Erkennen und Handeln eine bestimmte Gestalt zugewiesen werden kann.

Medien stellen eine offene Reihe von Unterschieden oder Abstufungen einer bestimmten Art bereit (unterschiedliche Helligkeit, unterschiedliche Laute, unterschiedliche Worte, unterschiedliche Geldmengen z. B.), innerhalb derer etwas als etwas Bestimmtes aufgefasst oder angestrebt werden kann (eine bestimmte visuelle Gestalt, ein bestimmter Klang, eine bestimmte sprachliche Äußerung, ein bestimmter Preis). So sehen wir im Medium des mehr oder weniger Hellen, hören im Medium des mehr oder weniger Lauten, tauschen im Medium des mehr oder weniger Teuren, kommunizieren wir im Medium weitläufiger phonetischer, syntaktischer, semantischer und pragmatischer Differenzen, die wir mit jeder bestimmten Äußerung in ein bestimmtes Verhältnis setzen.

Wir orientieren uns im Medium von Unterschieden, die einen Unterschied machen. Dies tun wir nicht nach Lust und Laune, dann und wann, sondern fast jederzeit und überall. Denn unser Verhältnis zu allem, wozu wir ein intentionales Verhältnis haben, ist durch und durch medial.

In der Hauptsache möchte ich klären, welche Rolle die neuen, elektronischen Medien in der menschlichen Welterschließung spielen.

1. Ein allgemeiner Begriff des Mediums

Ohne Licht hätten wir nichts zu sehen, ohne Sprache hätten wir nichts zu sagen. Medien, mit einem Wort, sind Elemente, ohne die es das in einem Medium Artikulierte nicht gibt.


Im Medium des Lichts lassen sich keine Gedanken formulieren, es sei denn unter Hinzunahme des Mediums schriftlicher Zeichen; im Medium des Alphabets lassen sich keine akustischen Schwingungen oder räumlichen Distanzen messen; im Medium des Geldes lassen sich keine Gegenstände ertasten ...

Diese ganz zufälligen Beispiele zeigen, wie sehr sich menschliche Kulturen immer schon in einer multimedialen Welt bewegen - in einer Lebenswelt, die aus spezifischen Beschränkungen der Wahrnehmungsleistung ihrer Bewohner entsteht, die mit Hilfe spezifischer anderer (beschränkter Medien) vielfach überwunden werden können. Durch Unterschiede (ihrer) bestimmten - immer begrenzten - Art eröffnen Medien spezifische Möglichkeiten der Fixierung von Unterschieden und damit des Wahrnehmens, Erkennens und Handelns. Durch Medien sind Spielräume des (in unterschiedlichen Verhältnissen) sinnlichen, kognitiven, instrumentellen, sozialen, politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Operierens gegeben, aus denen die kulturelle Wirklichkeit eines jeweiligen Lebensbereichs besteht. Medien sind Zugänge, die etwas gegeben sein lassen.

2. Medien der Realität


An diesem Punkt kommt die Realität ins Spiel. Denn dem intentional Gegebenen muss keinerlei Realität zukommen. Einhörner sind uns durch diverse Erzählungen »gegeben«, aber es gibt sie im Unterschied zu Nashörnern nicht wirklich. Was es gibt, sind Erzählungen, in denen Einhörner vorkommen. Das, was wir »Realität« nennen, ist folglich ein Modus des intentionalen Gegebenseins von etwas: diejenigen Objekte, von denen sich zutreffend sagen lässt, dass es sie tatsächlich gibt. An dem Verhältnis von Einhörnern und Erzählungen - es gibt keine Einhörner, aber es gibt Erzählungen über sie, und nur weil es diese Erzählungen gibt, kann es die Rede von Einhörnern geben - läßt sich aber deutlich sehen, dass das rein intentionale Gegebensein unabhängig von der Möglichkeit eines überdies realen Gegebenseins nicht zu denken oder zu erläutern ist. Es muß Wirklichkeit da sein, damit über sie hinaus fingiert und entworfen werden kann. Es muß Wirkliches gegeben sein, damit auch Nichtwirkliches thematisch werden kann.

Schmerzen und Lüste
beispielsweise (und andere Episoden der inneren Erfahrung) treten nicht notwendigerweise in der Vermittlung eines Mediums in Erscheinung. Sobald wir sie aber als Schmerzen oder Lüste zu bestimmen, zu bestehen oder zu beeinflussen suchen, nehmen wir sie im Licht von Unterschieden oder Unterscheidungen wahr, die für unsere Praxis - für unser Sich-zu-uns-verhalten - einen Unterschied machen. Wir treten in ein mediales Verhältnis zu unserem leiblichen Empfinden.
Keine dem intentionalen Bewusstsein zugängliche Realität ohne Medialität.

Alle Wahrnehmung ist medial in dem Sinn, dass sie auf bestimmten Unterschieden (Medien) basiert, die Unterscheidungen (Formbildungen) erlauben, die einer begrifflich erkennenden Verarbeitung offen stehen. Die prinzipielle mediale Zugänglichkeit der Realität
kann freilich zweierlei bedeuten. Sie kann eine Zugänglichkeit von Umständen bedeuten, die durch die Formen eines Mediums allererst hervorgebracht wurden, oder aber eine Aufdeckung von Umständen, die auch unabhängig von ihrer Zugänglichkeit bestehen. Im einen Fall erschließt das Medium einen Bereich, der allein durch diese Erschließung gegeben ist. Im andern Fall erschließt das Medium einen Bereich, der durch diese Erschließung auf eine bestimmte Weise gegeben ist, aber auch unabhängig vom Zeitpunkt und der Art seiner Erschließung besteht.

Ein Stück “absoluter” Musik etwa macht nichts weiter zugänglich als seine im Medium von Klängen oder Geräuschen gebildeten Formen; auch das Medium Geld macht unbegrenzte Märkte nicht bloß zugänglich, es
schafft sie so, dass sie allen, die Geld haben, zugänglich sind. Hingegen werden im Medium des Lichts Gegenstände sichtbar, deren Gegebensein gleichwohl nicht an ihre Sichtbarkeit gebunden ist: dieselben Gegenstände können auch ertastet oder akustisch geortet werden.

Der Gedanke, dass Schnee weiß ist, lässt sich nur im Medium einer Sprache formulieren - anders gibt es ihn nicht; dennoch bezieht er sich auf etwas, das nicht von der Art der Sprache ist. Sobald der Gebrauch der entsprechenden Medien etabliert ist, werden vielfältige soziale Tatsachen geschaffen, die erkannt oder verkannt werden können.

Ohne das Medium Licht
gibt es zwar keinen sichtbaren Gegenstand, wohl aber den Gegenstand, auf den unser Sehen gerichtet wäre, wenn wir denn Licht zum Sehen hätten. Ohne das Medium Sprache gäbe es nicht den Gedanken, dass die Erde eine Kugel ist, wohl aber die Erde mitsamt der an ihr erkennbaren Gestalten. Der Witz eines Mediums wie der Fotografie, um ein anderes Beispiel zu geben, besteht ja nicht zuletzt darin, Dingkonstellationen anschaulich zu halten, die in zeitlich und oft auch räumlich unerreichbarer Ferne liegen. Fotografien etablieren die Möglichkeit, Szenen anzuschauen, die nicht mehr wirklich sind, aber dennoch wirklich waren. Gleichgültig aber, ob Medien eine Wirklichkeit zugänglich machen, die mit ihnen steht und fällt (die es nur gibt, wo diese Medien in Gebrauch sind), oder eine, die mit ihnen nur in Erscheinung tritt (die nur bekannt ist, wo diese Medien in Gebrauch sind), stets wird ein Bereich des Wahrnehmens, Erkennens und Handelns eröffnet, der im Gebrauch der betreffenden Medien als Wirklichkeit zählt.

III: Ein spezielles Medium: der "umfassende" Computer.

Auf dem heutigen Stand der Entwicklung können wir uns auf ein überschaubares Modell beschränken. Ich möchte es den »umfassenden Computer
« nennen. Es ist dies ein Computer, der auch die Funktion eines komfortablen Radio-, Fernseh- und Videogeräts erfüllt, mehrere CD-Laufwerke hat, an das Internet angeschlossen ist, mit dem man auch E-Mail versenden, faxen und telefonieren kann, wenn man will so, dass man den oder die Partner am Bildschirm sehen kann.
Der umfassende Computer hingegen ist (…) ein Artefakt, also ein nichtnatürliches Medium. Auch wenn sich heute und wohl auch morgen noch einzelne Individuen sinnvoll gegen den Gebrauch von Computern entscheiden können, die moderne Gesellschaft kann es längst nicht mehr. In diesem Sinn sind die Vorstufen des umfassenden Computers bereits heute zu weitgehend unverzichtbaren Medien geworden. Er ist Medium der Wahrnehmung nicht weniger als Handlungsmedium und ein Darstellungsmedium allemal. In seinem Gebrauch können wir lesen und schreiben, verbal kommunizieren, Bilder und Filme herstellen oder wahrnehmen, Musik herstellen und wahrnehmen und vieles weitere mehr. Er aktualisiert und transformiert die Formen der visuellen, bildlichen, akustischen und sprachlichen Wahrnehmung der Welt so stark, dass bei Benutzern und zumal Theoretikern dieses Mediums gelegentlich der Eindruck entsteht, es handele sich hier um eine ganz andere (oder um einen völligen Verlust der) Welt.

Wir haben hier ein Multimedium, das ganz unterschiedliche Medien in einen Gebrauch zusammenführt und dadurch eine durchaus neuartige Form der Weltbegegnung schafft. Was für eine Begegnung aber ist das? Wie sieht die Wirklichkeit aus, die uns der umfassende Computer eröffnet?

Die Begegnung mit Situationen, in denen sie nie waren und nie sein werden, ist für die heutigen Menschen dank der Massenmedien zu einem ganz alltäglichen Ereignis geworden. Die Situation, die erfahren wird, ist bei der Verfolgung einer Kriegsberichterstattung oder eines Fußballspiels im Fernsehen eine gänzlich andere als die, in der erfahren wird. Die »Situation der Erfahrung« ist hier nicht länger deckungsgleich mit der »erfahrenen Situation«, wie dies in früheren Zeiten weitgehend der Fall war. Wir können Konzerte hören, die ganz woanders gegeben werden, Kriege verfolgen, die uns gänzlich unbehelligt lassen, mit Leuten reden, die wir nie gesehen haben, Texte lesen, die (so) nie geschrieben wurden usw. - und dies alles von einem einzigen Schauplatz aus. Der integrierte Computer also eröffnet uns in großem Maßstab Zugang zu Situationen, in denen wir nicht sind. Wir sind in Wahrnehmung und Kommunikation nicht länger an die Situation unseres leiblichen Aufenthaltes gebunden. Die mediale Erfahrung wird hier zu der Erfahrung einer (momentan oder dauerhaft, de facto oder prinzipiell) leiblich unerreichbaren Welt innerhalb der leiblich erreichbaren Welt. Es wird zu einer alltäglichen Grundsituation des Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts, über die Situation seiner leiblichen Anwesenheit hinaus zu sein.

Der umfassende Computer ist ein Medium, das sich (wie bereits die Sprache) der oben getroffenen Einteilung zwischen Medien, die handfeste oder simulierte Wirklichkeiten erzeugen und solchen, die überdies eine externe Wirklichkeit erschließen, entzieht. Beides kann der Fall sein und oft ist beides der Fall - ohne dass wir immer genau wüssten und wissen könnten, in welchem Maß und Verhältnis es so ist.

"Verschwinden der Realität“?

Aus dieser konstitutiven Instabilität und Variabilität der medialen Präsentationen ist geschlossen worden, die vom Gebrauch der Neuen Medien geprägte Welt habe nur noch wenig mit der alten Realität einer verlässlichen Eigenständigkeit von Dingen und Ereignissen zu tun. Die so genannte reale Situation verliere mehr und mehr an Gewicht gegenüber der virtuellen medialen Situation. Außerdem würden die vermeintlich realen Situationen diesseits der Medien mehr und mehr in medialen Schemata wahrgenommen, so dass alles in allem der Befund eines »Verschwindens der Wirklichkeit« unausweichlich sei - jener Wirklichkeit, der ein Bestehen unabhängig von ihrer faktischen medialen Erschlossenheit zugesprochen werden könne. Realität sei daher nicht länger als Widerpart, sondern allein noch als Produkt medialer Weltgewinnung denkbar.
Demgegenüber möchte ich die These verteidigen, dass die Neuen Medien zwar eine radikale Erweiterung des bisherigen Mediengebrauchs darstellen, aber mehr auch nicht. Es handelt sich lediglich um die exponentiale Fortführung einer langen historischen Entwicklung - einer mit dem ersten Bild und dem ersten Satz begonnenen Bewegung des medialen Ausgreifens in immer entferntere Bereiche.

IV. Zur Realität der Neuen Medien

Bis heute zumindest ist die Differenz zwischen Wahrnehmungssituation und wahrgenommener Situation angesichts der elektronischen Medien noch recht intakt. Die Fähigkeiten des Sehens, Hörens, Lesens sowie der verbalen Kommunikation müssen vorausgesetzt werden, bevor überhaupt ein massenmediales Ereignis stattfinden kann, das sie einzeln oder zusammen in Anspruch nimmt. Würden die Adressaten über die entsprechenden Fähigkeiten nicht bereits verfügen, wäre ihnen nicht mehr als ein Irrlichtern auf der Fläche des Bildschirms zugänglich, begleitet von bedeutungslosen Geräuschen. Die Interaktion mit virtuellen Gegenübern setzt ein »Interface« mit einem realen Gegenüber und damit die Kenntnis des grundsätzlichen Unterschieds zwischen realen und virtuellen Gegenübern auch dann voraus, wenn es im Einzelfall zu Verwechslungen der unterschiedlichen Positionen kommen mag.
Dass die Differenz zwischen leiblich erschlossener und digital eröffneter Wirklichkeit durch den integrierten Computer nicht getilgt werden kann, liegt unter anderem daran, dass er wesentlich auch ein Bildmedium ist. Denn Bilder können als Bilder nur wahrgenommen werden, wo das, was in oder auf ihnen zu sehen ist, nicht gleichgesetzt wird mit dem, was die Bildfläche ist. Ein Bild von einer Pfeife ist eben keine Pfeife, wie sehr die Gestalt auf dem Bild (im Verhältnis ihrer Partien) auch der Gestalt einer Pfeife ähnlich sein mag.
Insofern haben die Neuen Medien Realität und schaffen sie neue Realitäten - nicht freilich durch eine Abschaffung der Wirklichkeit, sondern durch deren Veränderung: durch die Eröffnung der Möglichkeit, uns nahezu andauernd auf Situationen zu beziehen, in denen wir nicht sind.
Diese Beobachtung führt am Ende zu einer positiven Beschreibung jener verwirrenden Stufung unseres medialen Weltverhältnisses, das uns zu Beginn in einen gewissen Schwindel versetzte. Jedes Medium stellt seinen Benutzern ein bestimmtes Spektrum von möglichen Formen bereit. Durch diese Formen bildet sich ein Bereich des für sie Wirklichen, der in der Perspektive eines anderen Mediums (oder, wie im Fall der Sprache oder des künstlerischen Bildes, in reflexiver Selbst-Distanzierung) als ein Zusammenhang von Formen des Wirklichen beschrieben werden kann. Dies bedeutet, dass wir das Wirkliche nicht allein im Brennpunkt jeweiliger Medien, sondern auch in ihrem Rücken antreffen können, freilich nur, wenn wir ein anderes Medium oder eine andere Perspektive aktivieren. Die Wirklichkeit erweist sich hier als reicher als alles, dem wir im Medium eines Mediums begegnen können, auch wenn wir das Wirkliche selbst nur aus Möglichkeiten seiner medialen Zugänglichkeit zu denken vermögen. So verstanden, führen uns gerade die Neuen Medien einen Reichtum des Wirklichen vor Augen, den auch alle künftigen neuen Medien nicht werden beherrschen können.
 
Aufsatz aus: Sybille Kraemer, Medien Computer Realität, Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien Suhrkamp 1998
Langfassung im Netz:
http://www.uboeschenstein.ch/texte/kraemer-medien244-seel.html