Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

aus: Roger Chartier und Guglielmo Cavallo: Die Welt des Lesens, Seiten 16-25

Die Kultur des Lesens
in der griechisch-hellenistischen Welt

„Ist sie aber einmal geschrieben, so treibt sich eine jede Rede (logos) überall umher (kylindettai), bei denen, die sie verstehen, ganz ebenso wie bei denen, für die sie sich nicht ziemt, und sie weiß nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht.“

In dieser Überlegung, die Platon im Phaidros dem Sokrates in den Mund legt, dreht sich alles um das Verb kylindo („rollen“), das sich wirkungsvoll auf das Buch in Rollenform bezieht, welches sich auf seinem Weg zu den Lesern metaphorisch in alle Richtungen „rollt“, während sein „Reden“ (legein) sich nur auf die mündliche, laute Lektüre beziehen kann (die daher von jetzt an besser als „stimmliches Lesen“ bezeichnet wird). Platon fährt fort: „Wird sie aber beleidigt (plemmeloumenos) oder ungerecht geschmäht, so bedarf sie stets der Hilfe ihres Vaters. Denn allein vermag sie sich nicht zu wehren noch sich zu helfen.“ Das Verb plemmeleo (wörtlich: „bei der Aufführung von Musik falsch klingen“), das Platon in diesem Satz verwendet, deutet seinerseits eine Lektüre an, bei der das stimmliche Lesen, wenn es „falsch klingt“, das heißt nicht mit der Absicht des Autors übereinstimmt, die schriftliche Rede entstellen und deshalb beleidigen kann.

Direkt oder indirekt wirft die Platonstelle noch weitere wesentliche Fragen für die Geschichte des Lesens in der klassischen griechischen Welt auf. Vor allem sollte man über die Beziehung zwischen den  Kommunikationssystemen nicht nur in Begriffen von Mündlichkeit/Schriftlichkeit nachdenken, sondern auch innerhalb der Mündlichkeit selbst differenzieren, da diese sich verschieden darstellt, je nachdem, ob es sich um eine bloß gesprochene Rede oder um die stimmliche Wiedergabe von etwas Schriftlichem durch einen einzelnen Leser handelt. Die gesprochene Rede - die Platon als dem  Erkenntnisprozess dienliche „Rede der Wahrheit“ versteht - wählt sich ihre Dialogpartner aus, deren Reaktionen sie beobachten, deren Fragen sie klären, deren Angriffe sie parieren kann. Die geschriebene Rede hingegen ist wie ein Bild: Wenn man eine Frage an es richtet, antwortet es nicht, es wiederholt sich nur ad infinitum selbst. Auf einem stofflich greifbaren, leblosen Träger verbreitet, weiß das Geschriebene nicht, an wen es sich wenden soll, wo es verstanden wird und wen es nicht ansprechen darf, wo es nur auf Unverständnis stoßen kann, kurz, es weiß nicht, wer ihm bei seiner unkontrollierten Verbreitung das Instrument der Stimme zur Verfügung stellen und wer ihm durch die Lektüre einen Sinn abgewinnen wird. Jede Lektüre stellt also eine andere Interpretation des Textes dar, die direkt vom Leser bestimmt wird. Positiv ausgedrückt, genießt das Buch - trotz Platons Vorbehalten - die Freiheit, sich in jede Richtung zu „rollen“, und erlaubt eine freie Lektüre, eine freie Interpretation und einen freien Gebrauch des Textes.

Diese Neuheit des Buches, das einen geschriebenen, zum Lesen bestimmten logos transportiert, hat noch andere Folgen. Zu dieser Zeit nämlich beginnt sich die Kluft - deren Entstehung in Griechenland zwischen dem 6. und späten 5. Jahrhundert v. Chr. angesetzt wird - zwischen einer schwachen Präsenz des Buches und einer im Gegensatz dazu recht weit verbreiteten Lese- und Schreibfähigkeit (vielleicht waren sogar die unteren urbanen Schichten in der Lage, öffentliche oder private Inschriften zu lesen) allmählich zu schließen. In einem tieferen Sinn rührte diese Kluft an die Funktion, die die Schrift in dieser Zeit hatte, stellten doch für die öffentliche Lektüre bestimmte Inschriften und vor allem die formelle Art ihrer Veröffentlichung und die Typenvielfalt ihrer Botschaften seit der Errichtung der athenischen Demokratie (508/507 v. Chr.) eines von deren charakteristischen Kennzeichen dar. Wenn die Schrift, wie Jesper Svenbro schreibt, in den Dienst der mündlichen Kultur gestellt wird, um zur Produktion von Klang, von wirkungsvollen Worten und hallendem Ruhm beizutragen, betrifft diese Funktion die Schriftproduktion in der Phase der „Auralität“ (mündlichen Veröffentlichung) der griechischen Literatur: Es handelt sich vor allem um Epik oder im weiteren Sinn um Werke in Versen; und zu dieser Kategorie dürfen auch Inschriften oder auf Gegenstände geschriebene Kleinsttexte gezählt werden. Doch die Funktion der Schrift und insbesondere des Buches war noch eine andere, und zwar die der Aufbewahrung des Textes. Das alte Griechenland hatte ein klares Bewusstsein davon, dass die Schrift „erfunden“ worden war, um Texte festzuhalten und sie so wieder in Erinnerung zu rufen, sie praktisch zu konservieren.  In dieser Hinsicht erweisen sich antike Zeugnisse zu dichterischen oder philosophisch-wissenschaftlichen Werken, die in Tempeln geweiht und aufbewahrt wurden, als zuverlässig. Gleiches gilt für den Gebrauch der sphregis („Autorensiegel“), die die Authentizität des Textes eines Werks beglaubigen sollte und sich deshalb nur in 'der Perspektive eines Buches rechtfertigt, das den geschriebenen Text eher konservieren denn zum Klingen bringen soll (auch wenn Formen des lauten öffentlichen Vorlesens, möglicherweise durch den Autor selbst, nicht ausgeschlossen sind).

Das späte 5. Jahrhundert v. Chr. markiert offenbar die Grenzlinie zwischen einem Buch, das fast nur der Festlegung und Konservierung von Texten dient, und einem Buch, das für die Lektüre bestimmt ist. Die attische Vasenmalerei dieser Zeit dokumentiert den Übergang von Szenen, die Bücher als Schulbücher, auf einer gewissen Ebene also zu Ausbildungszwecken, zeigen, zu regelrechten Leseszenen, in denen zunächst ausschließlich männliche, bald aber auch weibliche Figuren von Lesern auftauchen. Diese Figuren treten nicht isoliert auf, sondern erscheinen in repräsentativen Unterhaltungs- und  Konversationszusammenhängen - ein Zeichen dafür, dass die Lesepraxis vor allem als Gelegenheit zum sozialen (oder geselligen) Leben begriffen wurde. Die ganz individuelle Lektüre ist zwar nicht unbekannt, erweist sich aber doch als selten, zumindest, wenn man nach den wenigen - ja äußerst seltenen - überlieferten Bild- oder Schriftzeugnissen urteilt.

Eine weitere Frage ist mit den Arten des lauten Lesens verbunden, das in der Antike durchgängig am stärksten verbreitet war. Man hat hervorgehoben, dass es auf der Notwendigkeit beruhte, dem Leser den Sinn einer ohne den Stimmklang gleichförmigen und leblosen scriptio continua verständlich zu machen. Dennoch ist seit sehr alter Zeit auch ein stilles Lesen bezeugt. 9 Einerseits muß man sich fragen, inwieweit sich die beiden Praktiken zum Zweck der Lektüre einer scriptio continua unterscheiden, und andererseits, ob es die beiden Praktiken nicht immer schon gleichzeitig gab und sie vielleicht nur von der jeweiligen Lesesituation abhingen.
(…)
In der Antike scheint ein Übergang stattzufinden von einer Lektürepraxis im Sinne der „Verbreitung eines Textes“ durch wenige Schreib- und Lesekundige an viele Analphabeten zu einer breiteren Lektüre im „inne eines direkten, auf einem gewissen Niveau sich bewegenden „Wiedererkennens“ der Buchstaben bis hin - zwischen dem 5. und 6. Jahrhundert v. Chr. - zu einem Lesen, das den Text aufmerksam „durch geht“, also betrachtet, untersucht, auslotet. Ein Zeugnis von Isokrates (Panathenaikos 246) läßt keinen Zweifel an der semantischen Unterscheidung anagignoskein/diexeimi: Dort stellt der Redner denjenigen, die eine Rede „oberflächlich lesen“, diejenigen gegenüber, „die sie hingegen ganz und aufmerksam durchgehen“. Im selben Kontext taucht mit dem Gebrauch des Verbums pateo im Medium erstmals das Bild des ständig „benutzten“ (wörtlich: „zertretenen“), also mehrmals gelesenen Buches auf. Handelt es sich dabei um eine Form intensiver Lektüre?  Auf jeden Fall zeigt all dies, dass das alte Griechenland verschiedene Lektürepraktiken kannte, die mit unterschiedlichen Kompetenzen und Funktionen verbunden waren, wie dem breiten Spektrum der in der Sprache dokumentierten Ausdrucksmöglichkeiten zu entnehmen ist, auch wenn in späterer Zeit manche ursprünglich unterschiedlichen Verbbedeutungen synonym benutzt wurden oder nicht immer wahrnehmbare Bedeutungsnuancen erhielten.

Es ist schwer zu sagen, ob der neue und vermehrte Umgang mit der Schriftkultur in hellenistischer Zeit - erkennbar vor allem an der Hervorbringung und Benutzung großer Mengen von Dokumenten – über eine umfassendere Bildung und also einen ausgedehnteren schulischen Unterricht hinaus auch zu einer stärkeren Verbreitung von  Lesegewohnheiten beigetragen hat. Man kann beobachten - ohne dem jedoch allzu viel Bedeutung beizumessen -, dass in den Schriftstücken des einen oder anderen Verwaltungsbeamten gelehrte Lektüren – Kallimachos oder Poseidippos - ihre Spuren hinterlassen haben. Zu unterstreichen ist jedoch, dass das Buch in hellenistischer Zeit bereits eine wesentliche Rolle spielt, auch wenn Formen der Oralität weiterbestehen. Die Literatur jener Zeit hängt bereits ganz von Schrift und Lektüre ab: Komposition, Verbreitung und Erhaltung der Werke sind diesen Instrumenten anvertraut. Die alexandrinische Philologie überführt sogar, indem sie Texte zuschreibt, überprüft, transkribiert und kommentiert, eine ganze, ursprünglich nicht für das Buch bestimmte Literatur einer früheren Zeit in Buchform, wenn auch lediglich für ein gelehrtes Lesepublikum. Mit der alexandrinischen Philologie setzt sich also die Auffassung durch, dass der Text ein geschriebener Text ist und dass dieser Text rezipiert werden kann mit Hilfe von Lektüren, die dank dem Buch erhalten bleiben. Die Bibliothek von Alexandria der Archetyp der großen hellenistischen Bibliotheken, ist eine zugleich „universelle“ und „rationale“ Bibliothek: universell, weil sie die Bücher aller Zeiten und der ganzen bekannten Welt aufbewahren sollte, und rational, weil in ihr die Bücher in eine Ordnung gebracht werden mussten, in ein Klassifikationssystem (man denke an die Pinakes des Kallimachos), das es erlauben sollte, sie nach Verfassern, Werken und Inhalten zu ordnen. Doch „Universalität“ wie auch „Rationalität“ konnten nur direkt aus einer Schrift erwachsen, die man kritisch bewerten, abschreiben, in ein Buch fassen, zusammen mit anderen Büchern klassifizieren und ordnen konnte.
(…)
Die großen hellenistischen Bibliotheken waren jedoch keine Bibliotheken für die Lektüre. Einerseits waren sie Machtbekundung der herrschenden Dynastien (Ptolemäer, Attaliden), andererseits Arbeitsfeld und -mittel für einen Kreis von Gelehrten und Literaten. Auch wenn sie technisch also für die Lektüre prädestiniert waren, wurden die Bücher doch eher angehäuft als gelesen. Für die hellenistischen Bibliotheken bleiben weiterhin die Buchsammlungen der wissenschaftlich-philosophischen Schulen, die einer sehr begrenzten Anzahl von Lehrern, Schülern und Anhängern vorbehalten waren, als Bezugsmodell wirksam.
(…)
Es ist kein Zufall, dass in hellenistischer Zeit - auf Spuren, die bis zu den Sophisten und Aristoteles zurückgehen - vor allem durch Dionysios Thrax eine regelrechte Theorie des Lesens definiert wird, vermittelt durch Rhetoriklehrbücher und Grammatikabhandlungen mit sehr detaillierten Vorschriften, welche der Gestaltung des stimmlichen Ausdrucks beim Lesen dienen sollen.

Ohne die Kunst des Lesens ist das Geschriebene dazu verurteilt, eine Reihe unverständlicher Spuren auf dem Papyrus zu bleiben. Jede individuelle oder im Beisein von Hörern vorgenommene anagnosis - „Lektüre“ - muß eine hypokrisis sein, eine stimmliche und gestische „Interpretation“, die sich weitmöglichst darum bemüht, die literarische Gattung und die Absichten des Autors zu vermitteln; andernfalls kann sich der Leser nur lächerlich machen. Die Theorie der Lektüre leitete sich tatsächlich aus der actio der Redekunst ab, die ihrerseits mit der Theaterpraxis zusammenhing.

    Auszug aus: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm
    Herausgegeben von Roger Chartier und Guglielmo Cavallo (dt. Frankfurt, 1999)
    In dem Band findet sich der Aufsatz von
    Jesper Svenbro: Archaisches und klassisches Griechenland: Die Erfindung des stillen Lesens