Klaus Wolschner 

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Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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II
Politik
und Medien

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

POP 55

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Über die
Mediengeschichte der
Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert des Auges

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Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

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Totalitäres Denken gegen die Idee des Pluralismus
oder:
Wie Johannes Agnoli  Ernst Fraenkel zu Grabe trug

Über den Traum von einer totalen Macht, die das Schlechte radikal aus der Welt verdrängt
und die daher total gut sein muss - oder:
Die Seelenverwandtschaft von rechtem und linkem totalitären politischen Denken
bei Johannes Agnoli

2019

Es muss für den jüdischen Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel, einen prominenten Denker der Voraussetzungen und Bedingungen von Demokratie, furchtbar gewesen sein (1): An „seinem“ Otto-Suhr-Institut (OSI) wurde er in den 1960er Jahren an den Rand gedrängt  von den Anhängern des Johannes Agnoli, einem antidemokratischen Demagogen, der in seiner Jugend glühender Anhänger Mussolinis und Hitlers war und seinen Weg vom faschistischen zum linksradikalen Denken in den 1960er Jahren nie selbst problematisiert hat.(2) An dem Institut, an dem die jungen Politikwissenschaftler ausgebildet wurden, interessierte sich niemand mehr für das, was der konservative Professor über die Grundlagen der Demokratie zu sagen hatte – und die Wände des OSI demonstrierten genauso grell wie die Parolen der Studierenden, wer hier die Macht und das Sagen hatte. Agnolis methodisch und argumentativ wirrer Essay „Transformation der Demokratie“ wurde bezeichnenderweise „Bibel der außerparlamentarischen Bewegung“ genannt und niemand erschreckte darüber, wie mit dieser Metapher das kritische, aufklärerische Denken fröhlich über Bord geworfen wurde. Fraenkel erwog, zum zweiten Male zu emigrieren.

Ernst Fraenkel, geboren 1898 in Köln, war in der Weimarer Republik Anwalt des Metallarbeiterverbandes gewesen, geriet aufgrund seiner Beratung und anwaltlichen Vertretung von Verfolgten des NS-Regimes ins Visier der Gestapo. Er flüchtete 1938 nach London und wurde mit einem Stipendium an die University of Chicago Law School geholt. Dort überarbeitete er sein Manuskript über den NS-Staat, auf Deutsch erst 1974 erschienen unter dem Titel „Doppelstaat“. Obwohl er von seinem langjährigen Freund Otto Suhr darum gebeten wurde, kehrte er zunächst nicht nach Deutschland zurück, sondern engagierte sich in Korea für die Schaffung der rechtlichen Grundlage einer Demokratie. Im April 1951 kam er auf Einladung von Otto Suhr zurück nach Berlin und bekam er einen Lehrstuhl an der „Deutschen Hochschule für Politik“ in Berlin, die seit 1959/60 unter dem Namen „Otto-Suhr-Institut“ (OSI) bekannt ist. In den Folgejahren beschäftigte er sich mit der Frage nach den Grundlagen der Demokratie.

Sein Thema war der Unterschied zwischen der englischen pragmatischen und der französischen Auffassung von Demokratie. Gegen das an Rousseau anknüpfende Denken betonte Fraenkel, dass es keine „volonté générale“ geben kann, keine „Wahrheit“ und keine absolute Idee vom richtigen oder guten Handeln, sondern nur einen veränderlichen Konsens über das „Gemeinwohl“, der sich im demokratischen Prozess bildet und verändert. Wichtig waren für den Arbeitsrechtler Fraenkel dabei die Aushandlungsprozesse zwischen Kapital und Arbeit. Demokratie lebt von der Interessenvielfalt und einem geregelten Austragen der in der Gesellschaft bestehenden Interessenkonflikte. Der Staat müsse dafür Sorge tragen, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sich artikulieren können und dass Minderheiten geschützt werden. Die gedankliche Voraussetzung dieser normativen Beschreibung einer pluralistischen Demokratie  ist, dass die verschiedenen Konflikte nicht auf einen unlösbaren „Klassenantagonismus“ zurückgeführt werden und dass romantische Vorstellungen einer Endlösung aller Konflikte, die er u.a. als „Rätemythos“ kritisierte, als Ideen einer totalitären Politik verworfen werden. 

Fraenkel über linke und rechte „Parlamentsverdrossenheit“

Ernst Fraenkel hat sich in den Jahren 1964 bis 1966 in Vorträgen und publizierten Texten mit der Parlamentskritik beschäftigt und das Konzept einer „pluralistischen Demokratie“ zum Beispiel unter dem Titel „Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung“ (1964) oder  „Ursprung und politische Bedeutung der Parlamentsverdrossenheit“ (1966) auf Tagungen vorgetragen und in Fachzeitschriften veröffentlicht. Beide Texte sind nachzulesen in dem Sammelband „Deutschland und die westlichen Demokratien“ (erstmals 1964 erschienenen, 2011 in der 9. erweiterten Auflage)

Da kritisierte Fraenkel als „demokratische Vulgärideologie“ eine auf Rousseau und die jakobinische Phase der Französischen Revolution zurückgehende Idee, „dass das Parlament lediglich das  Exekutivorgan eines vorgegebenen einheitlichen Gemeinwillens sei“ und dass die „Identität von Regierenden und Regierten“ das Ideal der Demokratie sei. Diesem „französischen“ Demokratieverständnis liege die Idee einer „existentiell homogenen demokratisch strukturierten Gemeinschaft“ zugrunde, die authentisch repräsentiert werden müsse. Jedes Parlament, so Fraenkel,  müsse an diesem Anspruch scheitern.

Fraenkel bezieht sich auf die Politikwissenschaftler Harold Laski und auf Robert A. Dahl, der diese „Vorstellung eines einheitlichen Volkswillens“ kritisiert hatte. Es gebe in Wirklichkeit, so Dahl, eine Vielzahl von Minderheitenwillen, und wenn sich einer der Minderheitenwillen durchsetzt, könne das nur undemokratisch sein. Demokratie bedeute, dass die verschiedenen Minoritätenwillen sich zusammenfinden, um durch Diskussion und Kompromisse eine - für den Moment tragbare - Lösung zu finden. Die Heterogenität der Gesellschaft mit der Vielzahl ihrer Partikularinteressen müsse, so Fraenkel, als Herausforderung angenommen werden und dürfe nicht als Attentat auf ein „Gemeinwohl“ oder wie bei Carl Schmitt – auf „das Homogene“ diskreditiert werden. Eine „pluralistische Demokratie“ müsse diese Akzeptanz von Partikularinteressen in ihren „Wertekodex“ aufnehmen, auf dieser Basis könnten dann alle Fragen der Sozialordnung wie Steuer-, Budget-, Zoll-, Subventionsfragen als Felder von Interessenkonflikten behandelt werden, „über die man abstimmen muß“. Kompromisse auf diesen Feldern seien nicht „Kuhhandel“. Zum Wertekanon einer pluralistischen Demokratie gehöre es, dass Interessenkonflikte als etwas Normales und Wertvolles anerkannt werden und dass das Verfahren der Konsensfindung nicht als „Parteigezänk“ diskreditiert wird. Das Parlament ist nicht „Schwatzbude“ und kein Tummelplatz von „Interessenhaufen“, sondern der repräsentative Ort der Kompromissfindung, schreibt Fraenkel: „Solange in der deutschen Umgangssprache bei der Verwendung des Substantivs ‚Kompromiss‘ sich automatisch die Assoziation mit dem Adjektiv ‚faul‘ einstellt, ist etwas faul im Staate Bundesrepublik.“

Die Kritik dieser Form der Parlamentarismus mit dem Maßstab eines unterstellten normativen „Gemeinwillens“ findet Fraenkel auf der Seite der Linken wie auf der Rechten: „Rechts“ habe sie ihren Ursprung in der deutschen Parlamentsverdrossenheit unter Bismarck, der die Monarchie als Verkörperung des Gemeinwohls und als Hüterin des Nationalinteresses den angeblich selbstsüchtigen Bestrebungen der Bürger im Parlament entgegensetzte. Im obrigkeitlichen Bismarck-Staat konnte der Reichstag nicht zu einer Ausgleichsstelle für die Konflikte der divergierenden Gruppenwillen werden, das anti-parlamentarische Ressentiment verfestigte sich. Vor dem Ersten Weltkrieg, so Fraenkel, war „auf der Rechten ein Gefühl der Parlamentsaversion“ verbreitet und spiegelbildlich bildete sich „auf der Linken ein Gefühl der Parlamentsskepsis“. Wörtlich: „Bereits vor 1914 bemerkbare Anzeichen einer linksradikalen Parlamentsverdrossenheit verdichten sich unter dem Eindruck der russischen Revolution zu einer Verachtung des Parlaments, das Lenin ebenso als ‚Schwatzbude‘ geschmäht hat wie seine Widersacher in feudalen Offizierskasinos und an spießbürgerlichen Stammtischen.“ (in: Parlamentsverdrossenheit, 1966)

Zwischen Mussolini und Marx - Giovanni und Johannes Agnoli

Neben Fraenkel machte am Otto-Suhr-Institut Giovanni (Johannes) Agnoli Karriere, der 1925 in Italien geboren war. Er hatte sich dort als Schüler in der faschistischen Bewegung für Mussolini engagiert und in seinen Texten seine Bewunderung für das Deutsche und Adolf Hitler deutlich gemacht. Auch 1948 im Kriegsgefangenenlager hat er in dem Manuskript Frühjahrswind” (MG-Link) kein Bedauern seiner Kriegshandlungen und keine Kritik an der Massenvernichtung der Nazis erkennen lassen, sondern sein Verlangen, dass der deutsche Wind wieder weht”, besungen.

1962 war er als Assistent bei Ossip K. Flechtheim ans OSI gekommen. Dort schrieb er seinen Essay „Transformation der Demokratie“, der 1967 erschien. Das Buch wurde von Zeitgenossen wie U.K. Preuss und anderen als „Bibel der außerparlamentarischen Bewegung“ hochgelobt -  in sprachlicher Analogie zu der „Bibel der Arbeiterbewegung“, wie das ‘Kapital’ von Karl Marx gern in gläubigen Kreisen bezeichnet wurde. In seinen antidemokratischen Gedankengängen knüpfte der nun linksradikal gewendete Agnoli an seine Jugend-Gedanken an, Agnoli verzichtete bezeichnenderweise auf eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seiner eigenen faschistischen Denktradition. Agnolis biografische Verwurzelung in der faschistischen Bewegung kannte Fraenkel offenbar nicht, Agnoli selbst tat sie im geselligen Kreise als jugendliche Eskapaden ab. Erst nach seinem Tode ist durch ein posthum veröffentlichtes Interview und dann durch die von seiner Frau veröffentlichte „Biografie“ bekannt geworden, dass Agnoli sich noch direkt nach dem Abitur 1943 freiwillig bei der Waffen-SS für ausländische Kriegsteilnehmer gemeldet hatte. 
Da wurde er „rund 15 Monate bei der Partisanenbekämpfung in Jugoslawien eingesetzt. Vergeltungsaktionen, Geiselerschießungen und Morde an Zivilisten geschahen dort täglich”, schreibt sein damaliger Student Götz Aly, und fügt bitter hinzu: „Das hat er nie erzählt.“ (zu Agnolis Vergangenheitsbewältigung siehe Fußnote 3)

Noch 1948, nach Kriegsgefangenschaft und Re-education, formulierte Agnoli schon unter dem eingedeutschten Vornamen „Johannes”, er sehne sich danach, dass „der deutsche Wind wieder weht, dass das deutsche Volk wieder die Möglichkeit der Durchdringung und Eindringung gewinnt“, so nachzulesen in seinem Manuskript Frühjahrswind. In diesem Geist zog es Agnoli nach Deutschland.

Am OSI veredelte Agnoli sein antidemokratisches Denken mit Carl Schmitts Parlamentarismuskritik und verband sie mit marxistischem Gedankengut. „Marxistische Klassenparteien streben keine Kooperation gesellschaftlich entgegenstehender Gruppen und keinen sozialen Ausgleich an. Vielmehr fordern sie die Anerkennung des Totalitätsanspruchs der Proletarierklasse durch die anderen oder sie zielen auf die gewaltsame Durchsetzung dieses Anspruchs im Klassenkampf“, so apodiktisch erklärt er in Transformation der Demokratie. In der Tradition von Carl Schmitt wird bei ihm die Idee einer Einheitlichkeit im Willen von Staat und Bevölkerung zum Bezugspunkt des Denkens. In den Worten von Agnoli: Es stelle sich die Frage,  „ob die Gesellschaft sich die öffentliche Verfügung über sich selbst zurückholte, die sie vor langer Zeit der Politik und der Form Staat übereignet hatte.“ (Agnoli 1986 in „Zwanzig Jahre danach“) Er fordert nichts weniger als die „Autonomie der Gesellschaft gegenüber dem Staat des Kapitals“. In seinem 1978 erstmals erschienenen Text „Staat des Kapitals“ führt Agnoli die „Involution“ des Staates direkt auf die „sich erhöhende organische Zusammensetzung des Kapitals“ und die „Aufkündigung des ‚sozialen Friedens‘ durch die Arbeiterklasse“ zurück. Es brauche, „nicht weiter erörtert zu werden“, so Agnoli wörtlich, dass die „Negierung der Profitfinalität in der Zirkulation die kapitalistische Gesellschaft zum autoritären Staat zwingt. Ein systemimmanenter Widerstand kann diese Involution nicht umkehren…“ Für Agnoli ist „Involution“ der „korrekte Gegenbegriff zu Evolution. Der Terminus …  bezeichnet sehr genau den komplexen politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Prozess der Rückbildung demokratischer Staaten, Parteien, Theorien in vor- oder antidemokratische Formen.“  Der idealisierte historische Bezugspunkt dieser „Rückbildung“ bleibt offen.

Demokratie, das hatte Agnoli schon bei Vilfredo Pareto gelernt, den er auch 1967 noch fleißig zitierte, ist nichts als ein großangelegtes Täuschungsmanöver des Kapitals. Der Essay über die Transformation der Demokratie endet mit einem langen Pareto-Zitat – Pareto warnt den faschistischen Führer vor der „Brüchigkeit der faschistischen Repression“ und empfiehlt die Täuschungsformen der parlamentarischen Demokratie nach dem Motto „Lasst die Krähen krächzen“.

In seinem Unbehagen an der bundesdeutschen Parlamentsverdrossenheit war sich Agnoli mit Fraenkel einig (4), in der Analyse aber denunziert Agnoli die repräsentative Demokratie als Schein, Oberfläche, solange das Verhältnis von Arbeit und Kapital der gesellschaftlichen Verfügungsgewalt nicht unterworfen sei. Sein unausgesprochener Bezugspunkt auch im reifen Alter bleibt der Jugendtraum einer total guten Gesellschaft, wie er ihn in der faschistischen Ideologie von Mussolini gefunden hatte.

Vor dieser absoluten Folie entlarvt er so ziemlich alles als Kalkül der herrschenden Klasse, dazu gehört der Parteienpluralismus, die Pressefreiheit, der Überfluss an Vergnügungs- und Konsumangeboten. Auch die Freiheiten, die Marxisten in den akademischen Sandkästen ausleben dürfen, sind Teil der Täuschung. Selbst Pressefreiheit sei eine Herrschaftstechnik, erklärt Agnoli – mit Hinweis auf ein Pareto-Zitat, der dies so den italienischen Faschisten erklärt habe.
Agnoli mystifiziert den bürgerlichen Staat zu einem perfiden totalen Staat. Widerstand und die große Alternative finden sich bei ihm nur abstrakt und voluntaristisch beschrieben: „Befreiung der Arbeit“, „konkrete Emanzipation“ und „konkret verstandene Demokratie“. Subversion sei, so Agnoli in seiner Abschiedsvorlesung 1989/1990 „wenn die Vernunft auf der Straße in Permanenz tagt." („Subversiven Theorie“).

Agnolis „Theorie“ bagatellisiert den Unterschied zwischen dem demokratisch verfassten „Spätkapitalismus“ und dem Faschismus – was letzterer mit Gewalt und Terror durchsetze, erreiche ersterer mit Kulturindustrie und universaler Bewusstseinsmanipulation. Eine Analyse der Konfliktgeschichte der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft findet sich bei Agnoli nicht, ihren weitreichenden Konsens denunziert er mit dem Rückgriff auf holzschnittartige „Klassenanalysen“. Dass die Wirklichkeit sich gegen diese Analyse sperrt, interpretiert er weg - als Verblendung und freundliche Variante des Faschismus.

Ausdrücklich will Agnoli das liberale Oppositionsschauspiel mitsamt der „Einhaltung der Spielregeln“ beenden. Das, was im Parlament passiert, ist ihm nichts als „Verschleierung kapitalistischer Klassenherrschaft“. Jede Form innerparlamentarischer Opposition ist ein Beitrag zu dieser Verschleierung. Das, was für Fraenkel der Kern der Demokratie war, denunzierte Agnoli als „Einbau der Opposition in die Herrschaft“ und also in den „Imperialismus“. Nicht Opposition, sondern Widerstand war damit angesagt. Aber wie sollen die verblendeten Massen zum Widerstand finden? Sein Text „Transformation der Demokratie“ beginnt mit dem Hinweis, dass Georg Wilhelm Friederich Hegel bemerkt habe, „das Volk ist nicht in der Lage, sich selbst zu regieren. Regierungsfähig ist nur jeweils eine kleine, elitäre Minderheit.“ Die naheliegende Frage, ob das für die Klassenherrschaft des Proletariats auch gilt, stellt Agnoli nicht. „Der Vorwurf, wer sich an Rousseau orientiere, tendiere zum autoritären Staat, zur Diktatur, war in der konservativen Kritik der 68-er-Bewegung gang und gäbe“, erklärte Agnoli 1989/90 rückblickend – und wischt ihn weg mit dem Hinweis, die Studenten hätten Rousseau gar nicht gelesen. („Subversive Theorie“)

Der Mythos totaler Macht als Gefahr für die Demokratie

Agnoli reproduzierte das, was Fraenkel als linke Parlamentarismuskritik bezeichnet hatte. Agnoli bezog sich in seiner Schrift dabei aber nicht auf Lenin, sondern auf die profaschistische Diskussion in Italien. Pareto hatte 1920 in der Rivista di Milano einen Artikel unter der Überschrift „Trasformazione della democrazia“ veröffentlicht, ein Jahr später wurde das zum Buchtitel einer Aufsatzsammlung. Wie der Politikwissenschaftler Gaetano Mosca hatte der Soziologe Vilfredo Pareto den liberalen italienischen Politiker Giovanni Giolitti erlebt, der in der Phase der Industrialisierung Norditaliens und der Ausweitung des Wahlrechtes erklärt hatte, die oppositionellen Kräfte müssten in die „classe di governanti“ integriert werden. Parlamentsmehrheiten müssten pragmatisch gebildet werden. Giolitti nannte das „trasformismo“. Pareto hatte dem italienischen Duce Mussolini empfohlen, das Parlament zum Zwecke der Verschleierung der absoluten Herrschaft bestehen zu lassen.

Agnolis Beschreibung der Realität des westdeutschen Parlamentarismus bezieht sich auf diese italienische Diskussion, selten unterbrochen durch empirische Einwürfe. Agnoli kritisiert diesen Transformationsprozess als Involution“ – eine Metapher, die sich sprachlich auf „Evolution“ bezieht und mit der er eine historische Rückentwicklung der Demokratie bezeichnet. Von welchem konkret—historischen Ausgangspunkt aus dieser Rückschritt passiert, bleibt bei Agnoli offen. Unter den  Rahmenbedingungen der Großen Koalition und in dem Konflikt um die Einführung der Notstandsgesetze hatte die „Theorie“ von Agnoli „eine suggestive Qualität“, wie Wolfgang Kraushaar anmerkt. Praktisch werden konnte die Theorie bei Agnoli selbst aber nicht – er sah sich „in der schwierigen Zeit des Überwinterns“, was da bleibt, ist „mühselige Maulwurfsarbeit“ der Verbreitung subversiver Gedanken. („Subversiven Theorie“, 1999). Die Wirklichkeit ist blöderweise nicht bereit für die Theorie zur Überwindung aller Herrschaftsverhältnisse.

Der theoretische Maßstab des faschistischen wie des linksradikalen Agnoli blieb eine Idee von totaler Macht, die er direkt auf den Gegensatz von Arbeit und Kapital bezieht. Es gehört zum Voluntarismus solcher „Theorien“, dass sie von hinten formuliert sind, also von der durch den Theoretiker aufgeworfenen Frage, wem diese Machtfülle anvertraut werden sollte. Selbstverständlich nur einer besonders reinen Gestalt, einem notwendigerweise unfehlbaren Subjekt. Dafür hatte sich dem jugendlichen Agnoli die Kultfigur Mussolini angeboten, der reife Agnoli findet die Lösung in der abstrakten Idee der Basis- oder Rätedemokratie. Kein Blick auf die konkrete Realität der Rätedemokratie zum Beispiel von 1918/19 darf diese Idee trüben, Agnoli beschäftigt sich damit nicht besonders, auch nicht mit der Entwicklung der Fabrikräte in der russischen Revolution, die gezeigt hatte, wie schnell hinter der Chimäre der totalen Volksherrschaft das Gesicht einer mit aller Weisheit geadelten Elite hervorlugt.

Ein Blick auf die realsozialistischen Menschenexperimente hätte ihn lehren können, wie schnell solche weisen Eliten ihrem Machtrausch verfallen und, von ihrer Verantwortung maßlos überfordert, dabei grausam, korrupt und zynisch werden. Der Versuch, die Dynamik von „Arbeit und Kapital“ in den politischen Griff zu bekommen, hat nicht nur deren ökonomisches Fortschrittspotential gebremst, sondern auch menschliche Verheerungen produziert, die den frühkapitalistischen Verheerungen kaum nachstehen. Nach rein machtpolitischen Kriterien „erfolgreich“ war der Versuch, ein Utopia unter Berufung auf Marx zu errichten, nur in China, wo die Staatsmacht vor der Produktivität kapitalistischer Eigenlogik kapitulierte und den Tiger selbst ritt. Auch diese Form der „Überwindung“ des Gegensatzes von Arbeit und Kapital ist mindestens so despotisch wie der absolute Herrschaft in der Phase des Frühkapitalismus.

Angesichts dieser realen Erfahrungen der Menschheit erscheint Fraenkels Lob der repräsentativen Demokratie, der Gewaltenteilung und machtpolitischen Bescheidenheit, der Kultur der Kompromisse und der Einhegung von Machtgelüsten in das Spiel der demokratischen Kräfte geradezu human. Den biografischen Hintergrund von Fraenkels theoretischer Bescheidenheit hat Michael Hewener wunderbar beschrieben: „Wer gerade den Faschismus knapp überlebt hat, braucht sicherlich keine Massen in Bewegung und schon gar nicht die deutschen. Auch die Frage, wie man eine radikaldemokratische, das heißt kommunistische Gesellschaft aufbauen kann, stellt sich so nicht, wenn man hauptsächlich von Nazi-TäterInnen umgeben ist.“

Noch vor dem Ausbruch der Bewegung, in seinem Vortrag auf den „Universitätstagen“ im Januar 1967, warnte Fraenkel: „Verhehlen wir uns nicht, dass die Errichtung einer autonom legitimierten, heterogen strukturierten Demokratie ein ungemein gewagtes Experiment darstellt. Sie ist gegen keine Todesursache anfälliger als gegen den Selbstmord ... Nirgendwo steht in den Sternen geschrieben, dass dieses Experiment stets gelingen muss; es steht vielmehr in der Geschichte geschrieben, dass es zumeist misslingt. In Deutschland ist es anno 1919 bis 1933 misslungen. Dies bedeutet gewiss nicht, dass das gebrannte Kind das Feuer scheuen und das Experiment nicht noch einmal wagen sollte; es bedeutet jedoch, dass mit dem Feuer nicht gespielt werden sollte." (in: Universitas litterarum und pluralistische Demokratie)

 

    Anmerkungen:

    (1) In der AStA-Zeitschrift
    FU-Spiegel sollte 1967 eine anonyme studentische Rezension zu einem Seminar des renommierten Politologie-Professors Ernst Fraenkel erscheinen. Dieser versuchte, dies mit allen Mitteln zu verhindern, und erwirkte einen Beschluss des akademischen Senats. Aus Protest dagegen organisieren die Studierenden Ende April 1967 ein großes Sit-In im Henry-Ford-Bau mit über 2000 Leuten, woraufhin der FU-Rektor Joachim Lieber die Polizei mit der Räumung beauftragte, die diese allerdings mittendrin abbrach, da sie diese Maßnahme für überzogen hielt.
    Die Rezension erschien dann trotz Verbot im Mai 1967, zusammen mit einer Stellungnahme Fraenkels, der sich grundsätzlich dagegen verwahrte, dass aus einem „Forschungsseminar” etwas nach außen getragen wurde. Die Seminar-Rezension trug aber keine (inneruniversitäre) Äußerung Fraenkels in die Öffentlichkeit, sondern kritisierte, dass Fraenkel seine „Theorie der Demokratie” nicht mit der empirischen Demokratieforschung konfrontierte. (L)

    Fraenkel wehrte sich im Stile der alten Ordinarienherrlichkeit grundsätzlich gegen eine Seminarkritik - letztlich gegen den Anspruch einer Demokratiesierung der Universität. Der Konflikt führt schließlich zu einem großen Teach-In an der Universität, das der Rektor verboten hatte, dann aber letztlich angesichts der Menge der versammelten Studenten auf eine polizeiliche Räumung verzichtete. Der linke Autor Michael Hewener hat rückblickend 2018 sein Verständnis für Fraenkel so formuliert: „Wer gerade den Faschismus knapp überlebt hat, braucht sicherlich keine Massen in Bewegung und schon gar nicht die deutschen. Auch die Frage, wie man eine radikaldemokratische, das heißt kommunistische Gesellschaft auf bauen kann, stellt sich so nicht, wenn man hauptsächlich von Nazi-TäterInnen umgeben ist.“

    Auch Claudia Pinl, die Autorin der Vorlesungsrezension von 1967, hat im Jahre 2019 in einem Interview über die alte OSI-Geschichte ihr neues Verständnis für Fraenkel erklärt:

    Frage FU70: Fraenkel hat sich einerseits dagegen gesperrt, dass man ihn überhaupt rezensiert oder aus seinem Seminar erzählt, aber es war ja schon auch eine inhaltliche Kritik, die du geschrieben hast.
      
    Claudia Pinl: Inhaltlich ging es vor allem um Kritik an seiner Pluralismustheorie, checks and balances, Gewerkschaften hier und Unternehmerverbände dort und alles schön im Gleichgewicht und das Parlament als die Institution, die in der parlamentarischen Demokratie die Regeln vorgibt. Da waren wir damals eigentlich alle kritisch genug, um das hinterfragen zu wollen und zu können. Bei ihm in der Veranstaltung fehlte die wissenschaftstheoretische Reflektion komplett und die Darstellung der Entwicklung von politischen Theorien war nicht gesellschaftskritisch fundiert.
    Ich fand die Rezension, auch als ich sie jetzt nochmal gelesen habe, nicht besonders bösartig formuliert. Nachträglich hat er das dann als Forschungsseminar deklariert, dessen Ergebnisse nicht an die Öffentlichkeit getragen werden dürften. Das war so ein nachträglicher Versuch, seine Intervention gegen die Veröffentlichung zu legitimieren. So war es aber überhaupt nicht, das Seminar war einfach als ideengeschichtliche Abhandlung konzipiert, von Aristoteles bis weiß ich nicht, Hannah Arendt vielleicht, wenn er die auf dem Schirm hatte. Dann hat er noch behauptet, die Rezension sei ein Plagiat aus der Zeitschrift „Das Argument“. Das wurde dann aber in einer Ausgabe des Arguments vom Juli 67 zurückgewiesen, da die zeitliche Veröffentlichungsreihenfolge andersherum war.
    FU70: Fraenkel hat sich also offensichtlich sehr angestrengt, die Rezension irgendwie zu diskreditieren.
       C. P.: Ja, das hat er. Für mich war das damals die alte Ordinarienherrlichkeit, der Muff von 1000 Jahren, der es nicht mag, wenn er mal ausgelüftet wird, obwohl die FU ja, von ihrer Entstehungsgeschichte her, angetreten war, um mehr Liberalität in das Verhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden zu bringen. Vor diesem Hintergrund habe ich seine Reaktion auf meine Rezension gelesen, aber dass Fraenkels persönlicher biographischer Hintergrund da vielleicht auch eine Rolle gespielt hat, hab ich damals nicht gesehen. Damals hatte ich nicht so in meinem Bewusstsein, dass Fraenkel in der Nazizeit emigriert und danach wieder zurückgekehrt war, wie auch Ossip K. Flechtheim oder Löwenthal. Das heißt, ich wusste das schon, aber ich hatte dafür wenig Empathie und konnte mich nicht gut hineinversetzen in die Situation von Menschen, die rassistisch verfolgt worden waren und sich jetzt wieder angegriffen fühlen, wenn auch aus ganz anderen Gründen.
    Mein Vater hat beispielweise auch sehr ablehnend auf die 68er reagiert, weil es für ihn da Überschneidungen in der äußeren Form gab zu dem, was er mit den sudetendeutschen NSDAP-nahen Studenten an der deutschsprachigen Prager Uni erlebt hat. Die haben zum Boykott der Vorlesungen und Übungen meines Vaters aufgerufen und ihn unter Druck gesetzt, mit der „jüdischen Physik“ aufzuhören, was nach seiner Weigerung schließlich zu seiner Gestapo-Haft führte. Und diese äußeren Dinge, wie Boykott Aufrufe, oder auch Teach-ins und Sit-ins, das hat ihn an seine eigene Biographie und an seine damaligen Erfahrungen mit den faschistischen Studenten erinnert und das löste dann eben auch emotionale Reaktionen aus, die so rein rational vielleicht nicht nachvollziehbar sind.
    Konkret ist mir das dann im Zusammenhang mit Fraenkel erst vor ein paar Jahren bewusst geworden, als ich in Schöneberg einen Stolperstein für den Arbeitgeber meiner Mutter verlegen ließ, die vor 1933 Haushälterin bei einem Arzt war, der alsbald rassistisch verfolgt wurde und am Vorabend seiner Deportation 1942 Selbstmord beging. Damals bin ich in einer Ausstellung über die früheren jüdischen Bewohner des Viertels auch auf den Namen Fraenkel gestoßen, der wohnte auch in der Gegend da um den Bayerischen Platz.
    Und erst da ist mir klar geworden, dass ich damals für diesen Aspekt der Geschichte keine Sensibilität hatte. Jedenfalls hat mir die Christel Dietze dann erzählt, dass Fraenkel sich danach wochen- oder monatelang krankschreiben hat lassen wegen Gürtelrose, einer Krankheit, die oft psychische Hintergründe hat.
    FU70: Fraenkel hat dann tatsächlich ja auch im Tagesspiegel-Interview von SA-Methoden gesprochen. Und dafür dann auch sehr viel Kritik bekommen.

             
    Quelle: https://www.astafu.de/sites/default/files/2020-01/FU70_komplett_neu.pdf (S. 45)

    (2) Der Bielefelder Soziologe Jürgen Frese hat in einem Leserbrief an die FAZ berichtet, wie er 1958 auf einer Tagung in Vlotho den Referenten Agnoli erlebt hat: „Beim abendlichen Rotwein hat er mit uns Achtzehnjährigen nicht nur Kampflieder der Roten im Spanischen Bürgerkrieg eingeübt, sondern auch sehr freimütig über die Ambivalenzen seiner Südtiroler Herkunft, seine Aktivitäten in faschistischen Organisationen und seine immer noch nicht ganz erloschenen Sympathien für Mussolinis radikalfaschistische Repubblica Sociale Italiana erzählt. Agnoli beschrieb auf unsere erstaunten Rückfragen plastisch, wie es (wenigstens noch 1958) in Italien möglich war, daß er und seine sozialistischen Genossen zusammen mit Intellektuellen aller Richtungen, die sich in ihren Zeitungen vehemente Verbalkämpfe lieferten, gleichwohl abends in römischen Cafés friedlich streitend um einen Tisch beieinandersitzen konnten. Der ideologische Antiliberalismus koexistierte mit praktisch geübter Liberalität. Seine Botschaft war evident: In Deutschland ist dergleichen undenkbar, weil deutsche linke Intellektuelle als totalitäre Moralisten niemals mit Faschisten kommunizieren könnten. Und das sei schlimm.“ (FAZ 12. Dezember 2006)
    (3) Der Journalist Johannes Wendt hat Agnoli öffentlich zu einer Stellungnahme zu den
    Gerüchten über seine Jugendzeit aufgefordert. (FR 4.7.1985) Agnoli reagierte darauf im März 1986 im Heft 62 der Zeitschrift Probleme des Klassenkampfs (Prokla, online pdf-Link) in einem Text, den er „Kommemorativabhandlung“ überschrieb. „Irgendwann muss Kraushaar gehört oder gelesen haben, dass ich im hohen Alter von 17 Jahren Linksfaschist gewesen sei oder - wie Krippendorff freundlicherweise in der taz schrieb - ein revolutionärer Faschist. Ich wüsste nicht, warum ich dies leugnen sollte - auch wenn die Verbindung zur TdD mir sehr geheimnisvoll bleibt.“ Agnoli führt dann zwei Zitate aus seiner Jugendzeit an, die den Terminus „Linksfaschismus“ erläutern sollen: Geschrieben habe er: „Der gegenwärtige Krieg ist der Krieg zwischen dem Prinzip Arbeit und dem Prinzip Kapital“, und weiter: „Nach dem Krieg wird es unsere Aufgabe sein, die von den Bolschewiki mit der Neuen Ökonomischen Politik verratene Oktoberrevolution fortzuführen.“ Dies, so Agnoli 1986, sei „Originalton Agnoli 1942 und 1943“. Mit Ugo Spirito habe er geglaubt, dass „der Faschismus die Fortsetzung des Bolschewismus sei“ (so in einem Interview im Jahre 2000, abgedruckt im Freitag, pdf-Link) Der Terminus „Linksfaschismus“ treffe zu, erklärt er, denn – Agnoli über Agnoli  – „denn er verstand sich als solcher“. Punkt. Ende der Erinnerungsverarbeitung.
    In den Texten aus seiner Jugendzeit, die er zeitlebens aufbewahrt hat und die seine Frau nach seinem Tod dem Institut für Sozialforschung übergeben hat, finden sich solche Hinweise auf eine „linke” Interpretation von Mussoli nicht - im Gegenteil. Er war begeistert vom Krieg, von Deutschland, noch im Kriegsgefangenenlager 1948 tippte er auf einer Schreibmaschine der britischen Armee in einem persönlichen Manuskript, er träume von einer deutschen „Durchdringung und Eindringung” Europa:  „€ž.. und doch ist der Deutsche anständig, gerade als Soldat”.
    Noch diesem Text „Frühjahrswind” aus dem Kriegsgefangenenlager, verfasst 1948 - fünf Jahre nach dem Abtreten von Mussolini und drei Jahre nach Ende des Nationalsozialismus und des Weltkrieges, formulierte Agnoli ganz und gar un-„linkshegelianisch“: „Was braucht man die Freiheit, wozu, die Gleichheit, wozu? Wir brauchen eine Ordnung ..Die unbedingte, alles bedingende. Unterdrückung? Sie entsteht dort, wo du dich nicht zu ordnen und unterzuordnen weisst ... Wir wollen eine Führungsschicht bilden, ganz Europa durchdringen, erfrischen, Menschen und Nationen erfassen - eine neue Menschheit schaffen. Menschen formen...”
    (siehe hier mehr dazu MG-Link)
    Über seine freiwillige Meldung zur Wehrmacht nach dem Ausscheiden Italiens aus dem Krieg und die zwei Jahre im Partisanenkrieg schwieg Agnoli auch in der „Kommemorativabhandlung“ 1986. 
    Warum Agnoli damit kokettierte, er sei „Linksfaschist“ gewesen, bleibt verwunderlich - der Terminus war sicherlich auch für Agnoli seit 1967 von der konkreten Erinnerung geprägt, dass Jürgen Habermas auf dem Kongress „Bedingungen und Organisation des Widerstands“ nach den Trauerfeierlichkeiten für Benno Ohnesorg in Hannover den Studentenführer Rudi Dutschke damit angegriffen hatte: „Ich bin der Meinung, er hat eine voluntaristische Ideologie hier entwickelt, die man im Jahre 1848 utopischen Sozialismus genannt hat, und (die man) unter heutigen Umständen, jedenfalls ich glaube, Gründe zu haben, diese Terminologie vorzuschlagen, linken Faschismus nennen muss.“
    (4) In dem 1963 entstandenen Text beschreibt Fraenkel das „Unbehagen an der Bonner Demokratie“ im Volke so: „Man braucht sich nur als steinerner Gast an dem Stammtisch missvergnügter Spießbürger niederzulassen, um die hämische Frage zu vernehmen, ob wir nicht, da der Kanzler ja doch mache, was er wolle, in Wirklichkeit unter einem autoritären Regime leben; um zu hören, dass unsere Parlamentarier zu Marionetten degradiert seien, die – auf Vordermann ausgerichtet – auf Order parieren und zu allem ‚ja und amen‘ sagen, was die Parteileitung befiehlt. Bis dann fast unvermeindlicherweise das Stichwort
    pressure groups‘ fällt und die Unterhaltung in der allgemein gebilligten Feststellung ausmündet, dass in Wirklichkeit alles heimlich und hinter den Kulissen entschieden werde und das Volk eh nichts zu sagen habe. ‚Und so frage ich Sie allen Ernstes Herr Nachbar, ob das Theater, das in unserem Bundesdorf aufgeführt wird, noch irgend etwas mit Demokratie zu tun hat?‘“

  siehe auch den Text zum Scheitern des Marxismus   MG-Link
 

    Lit.:
    Johannes Agnoli, Thesen zur Transformation der Demokratie (1967) http://copyriot.com/sinistra/reading/agnado/agnoli06.html
    Johannes Agnoli/ Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie, Berlin: Voltaire-Verlag, 1967
    Johannes Agnoli,  Zwanzig Jahre danach. Kommemorativabhandlung zur „Transformation der Demokratie“
       (Aufsatz in Prokla 62, März 1986)
    Johannes Agnoli, Subversive Theorie: „Die Sache selbst“ und ihre Geschichte (Vorlesung 1989/90, als Buch erschienen1999)
    Barbara Görres Agnoli, Johannes Agnoli. Eine biografische Skizze (2004)

    Ernst Fraenkel, Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung“ (Vortrag 1964)
    Ernst Fraenkel, Ursprung und politische Bedeutung der Parlamentsverdrossenheit“ (Vortrag 1966)
       nachgedruckt in dem Sammelband „Deutschland und die westlichen Demokratien“ (9. erweiterte Auflage, 2011)

    Götz Aly, Unser Kampf. 1968. Ein irritierter Blick zurück (2008),   (Auszug zu Fraenkel S. 131ff)
    Wolfgang Kraushaar, Die blinden Flecken der 68er-Bewegung (2018)
    Jürgen Frese  Agnolis Botschaft, Leserbrief in der
    FAZ  21.12.2006
    Barbara Görres Agnoli,  Antwort auf Wolfgang Kraushaars Vortrag in der Villa Vigoni, Leserbrief in FAZ vom 17.1.2007,
      online
    https://www.isioma.net/sds070105.html
    Rudolf Walther, Agnoli, Faschismus etc: Dahinter steckt ein sturer Kopf taz 15.12.2006 https://taz.de/!340510/
    Michael Hewener, Der Revolte assistiert - Die Entwicklung rund ums Otto-Suhr-Institut 1966/67  in: Gegendarstellungen70, Magazin des Asta der FU (2018), online https://www.astafu.de/sites/default/files/2020-01/FU70_komplett_neu.pdf