Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

www.medien-gesellschaft.de


III
Medien
-Theorie

Augensinn Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:

Augensinn und
 Bild-Magie
ISBN 978-3-7418-5475-0

Schriftmagie Cover

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert
des Auges:

Virtuelle Realität
der Schrift
ISBN 978-3-7375-8922-2

GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle
Geschichte machen
ISBN 978-3-746756-36-3

POP55

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-752948-72-1
 

Das Sehen der Moderne 

Jahrhundert des Auges? Neue Bilder in der neuen Medienkultur 

2022n

Bis zur Erfindung des Holzstock-Druckes im frühen 15. Jahrhundert war es für die Menschen eine besondere Ausnahme-Situation, wenn sie das Abbild eines in Stein gehauenen Herrschers, eine Götter-Statue oder ein Wandgemälde betrachten konnten. Meist passierte das in festlichen Situationen. Frühere Herrscher hatten eine Ahnung von der Macht der Bilder, das zeigt die Pracht und Herrlichkeit ihrer Paläste und Tempel. Und für die Interpretation der sensationellen Bilder gab es kulturelle Muster. Die symbolische Ikonografie stellte in Schnitzbildern und Gemälden herrschaftliche und kirchliche „Wahrheiten“ bildlich dar. Das Volk hatte vor der Herrscherstatue niederzuknien und sich vor dem Bild des Gottessohnes zu bekreuzigen. 
Auch die Ölgemälde der Renaissance waren eine exklusive Augenweide des Klerus, des Adels und dann der reichen Bürger. Die Situation änderte sich erst im 19. Jahrhundert vor allem mit der Fotografie und der erschwinglichen Massenpresse. Ende des 19. Jahrhunderts waren Postkarten populär, Laien konnten die Rollfilm-Kamera „Kodak“ kaufen und Ladenkinos zeigten kurze Stummfilme. (siehe zur Geschichte des Sehens
M-G-Link)
Im Jahre 1926 hat der Wiener Ökonom und Philosoph Otto Neurath 1926 das „Jahrhundert des
Auges“ ausgerufen. Er stellte fest: „Häufige Änderungen der visuellen Umgebung gehören heute zu den Kennzeichen des modernen städtischen Lebens, das allmählich auch in die ländlichen Gebiete vordringt. Plakate rufen uns von den Wänden auf Straßen und in Korridoren zu; Ausstellungen laden uns ein; Millionen Menschen schauen Abend für Abend auf die Kinoleinwand; eine wachsende Zahl von Zeitschriften und Broschüren bringt neue Bilder ..." Die von ihm gegründeten „Zentralstelle für gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftliche Unterweisung durch vorwiegend optische Mittel, Graphica und Modelle“ sollte die Faszination der neuen visuellen Kommunikationsmittel – Bild und Film – für die alte Idee der Arbeiter- und Volksbildung nutzen. Denn, so Neurath, „die modernen Menschen empfangen einen großen Teil ihres Wissens und ihrer allgemeinen Bildung durch bildhafte Eindrücke, Illustrationen, Lichtbilder, Filme.“

Das 20.Jahrhundert als „Jahrhundert des Auges“

Ein neues Kapitel in der Geschichte des Seh-Sinnes war aufgeschlagen, als die Bilder-„show” mehrere Stunden des alltäglichen Sinnes-Erlebens füllt. Die Techniken der profanen visuellen Bild-Kommunikation erlaubten es, Dinge anschaulich zu zeigen, die das menschliche Auge allein nicht sehen konnte. Neurath erwähnt auch graphische Modelle, das heißt künstliche Visualisierungen, die keinen Bezug zu möglichen Abbildern haben, sondern konstruierte Zusammenhänge visualisieren. So lässt sich zum Beispiel die Sterblichkeitsrate von Säuglingen auf einer Zeitleiste darstellen, um den Fortschritt hygienischer und medizinischer Möglichkeiten zu visualisieren. Visuelle Präsentationen sind dabei immer schon das Ergebnis von Interpretationen. Sie ermöglichen eine Distanz des Beobachters, der nicht Teil der Situation ist, in der er etwas sieht, sondern die Bilder von einem „neutralen“ Standpunkt außerhalb der zu erkennenden Welt betrachten kann.

Die Bildkommunikation scheint leicht und so leicht eingängig, sie hat ein großes Emotionalisierungspotenzial und besitzt einen hohen subjektiven Wahrheitsgehalt. Da wir Bilder rascher als Text wahrnehmen und sie uns in eine bestimmte Stimmung versetzen, haben sie großen Einfluss darauf, wie wir den geschriebenen oder gesprochenen Text aufnehmen und verstehen. Es dauere nur einen Bruchteil einer Sekunde, um den Inhalt und die Aussage eines Bildes zu erfassen. Bilder können ohne bewusste „gedankliche Anstrengung“ aufgenommen werden, sie werden gewöhnlich nur mit knappen Bildunterschriften verbreitet.

Die gängige Auffassung, dass Bilder historisch den Text verdrängt haben, gilt aber nur für die kleine Schicht der Gebildeten. Neuraths pädagogische Initiative erinnert daran, dass  es bei dem Volk da wenig zu verdrängen gab. Eigentlich rufen die Bilder nur „Voici!“ – „Hier, schau her!“, wie der französische Philosoph Jacques Rancière feststellte. Aber schon die Fotografie hat eine große Faszination mit ihrer Suggestion von Authentizität ausgelöst. Das „Voici“ ist ein weitgehend leerer Signifikant, es kann ausgefüllt werden muss dem, was der Empfänger der Bildbotschaft sowieso weiß und im Hinterkopf hat. Vor allem richtet den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf etwas, das man weiß, und versieht es mit einem emotionalen Akzent. Das „Sehen“ der Schrift ist dagegen immer verbunden mit der Arbeit der Entzifferns der Zeichen und Entschlüsselns des gemeinten Inhaltes - Textverständnis erfordert bewusst-aktive Sinnkonstitution. Um Schriftbilder verstehen zu können, muss man in die Schule gehen.

Der kanadische Medien-Theoretiker Marshal McLuhan hat 1964 das Vordringen neuer Bild-Medien in der Mitte des 20. Jahrhunderts auf die eindrucksvolle Formel vom „Ende der Gutenberg-Galaxis” gebracht: „We return to the inclusive form of the icon". McLuhan prophezeite in einem ganz großen rhetorischen Wurf angesichts der Anfänge der Fernsehkultur (1953) eine „Kultur ohne Schrift". Der Katholik empfand dabei keine (protestantische) bildungsbürgerliche Trauer. Die Codes der Druckkultur, der die Reformatoren und die Aufklärer ganze Bedeutungswelten geopfert hatten, war für McLuhan „Betrug“ an der vielfältigen menschlichen Sinnlichkeit. Neue elektrische Medien bargen für ihn daher das Versprechen einer erneuerten Sinnlichkeit. Dass diese auf rein optische Sinnesfreuden beschränkt sein würde unter Ausklammerung des Leibes, das übersah McLuhan. Als bekennender und praktizierender Katholik sah er in den neuen Medientechnologien das Versprechen eines neuen Pfingstwunders – „pentecostal condition of universal understanding". (McLuhan 1964) Damit spielte er an auf den Traum von der „Entbabylonisierung" (Neurath), also einer natürlichen, für alle verständlichen Bild-Sprache, die unsere Welt so wiedergibt, wie sie (angeblich) ist.

Die katholische Kirche begrüßte die neue Bildlichkeit. Papst Pius XII feierte 1957 das Fernsehen in einer Enzyklika mit einer überraschenden Interpretation: „Wir erwarten vom Fernsehen Konsequenzen von größter Tragweite durch die immer großartigere Offenbarung der Wahrheit an all jene intelligenten Menschen, die uns zugetan sind. Der Welt wurde verkündet, die Religion sei im Verfall begriffen, aber dank dieses neuen Wunderwerks wird die Welt den großartigen Triumph der Eucharistie und Marias erleben." Bewegende Wunderbilder sollten offenbar den aufgeklärten Verstand unterlaufen und mit der neuen Naivität des Bildes die Religionskritik der Aufklärung unterspülen.    

Die Kommunikation über Bilder scheint den Menschen „sprachlos“ zu machen, nicht nur in der Kirche. Seit den 1960er Jahren sitzen Menschen mehrere Stunden jeden Tag weitgehend stumm vor dem Fernsehbildschirm und tauschen sich nur mit Floskeln wie „sieh mal“ oder „ganz schön spannend“ aus. Ähnlich reduziert scheint die Kommunikation auch, wenn Jugendliche zusammen sitzen, die Gemeinschaft aber durch das individuelle Spielen mit dem Smartphone dominiert ist und der Austausch von Sprachbotschaften sich im Rahmen der technischen Begrenzungen der 140 SMS-Zeichen abspielt.
An die Stelle des alten leiblichen Vergnügens und der „Lesesucht“ tritt im Zeitalter des Films die Augen-Weide als optische Selektion. Lust an optischen Illusionen wird zum treibenden Moment der Lust an Phantasie, Filmbilder prägen das kulturelle Wissen, in dessen Kontext die Menschen ihren Realitätseindruck wahr-nehmen.

Die Bild-Inflation der neuen Medien trifft auf ein altes Bedürfnis. Seit der Neuzeit gab es eine zunehmende Zahl von gebildeten Bürgern, die mehrere Stunden in ein Buch – oder eine Zeitung – schauten. Für sie trat die Dominanz der natürlichen Bild-Information zurück. Erst in der Massenpresse des 19. Jahrhundert konnten dann Bilder als Blickfang gedruckt werden. Das Fernsehen kehrte das Verhältnis von Text und Bild vollends um - es bietet primär Bild-Information und setzt (gesprochene) Text-Informationen in die dominante Bilderwelt ein.

Offenkundig ist: Die Menschen wollen dieses Geflimmer auf den Bildschirmen. Die Lust an phantastischen Phantasie-Bildern ist ein tief verankertes menschliches Bedürfnis. Das technisch produzierte Bild hat eine höhere Attraktivität als das gemeinhin Sichtbare, man geht eben lieber ins Kino als das herbstliche Farbenspiel im Park von einer Bank aus zu bewundern. Die Kinobilder sind besonders attraktiv, wenn sie Futter für die Phantasie liefern. Kulturelle visuelle Wahrnehmungen verfügen über unsere Aufmerksamkeit, weil sie auf unsere emotionale Erwartungsstruktur wirken.  (zur Aufmerksamkeit siehe M-G-Link) .

In seinem Buch „The Photoplay“ hat der deutsch-amerikanische Psychologe Hugo Münsterberg die Faszination des neuen Mediums bereits 1916 psychologisch analysiert. Der künstlerische Film, 1916 war das der Stummfilm, ist für Münsterberg weit mehr als die Aufzeichnung äußerer Realität. Für den Psychologen erschließt sich dies mit der Konstruktion von Wahrnehmung: Wahrnehmung erfordert eine „innere psychische Aktivität“, die getrennte sinnliche Eindrücke zur „Vorstellung einer verbundenen Aktion vereint" und mit Bedeutung versieht. „Psychologisch betrachtet ist aber die Bedeutung unser." Wesentlicher Teil der Bedeutung sind hervorgerufene Emotionen. Diesen wahrnehmungspsychologischen Gedanken bezieht Münsterberg auch auf die Sprache: „Mit dem Erlernen der Sprache haben wir gelernt, unsere eigenen Assoziationen und Reaktionen einem Klang, den wir wahrnehmen, hinzuzufügen. Nicht anders ist es mit den optischen Wahrnehmungen. Das Beste kommt nicht von außen."

Die wahr-genommene Bedeutung entnimmt der Mensch seinen Emotionen, seinem Gedächtnis und seinen Träumen. Dem Gedächtnis entsprechen im Film die Rückblenden, die phantasievolle Vorstellungskraft des Menschen kann durch fiktive Einblendungen angeregt werden, insbesondere durch die Technik der Großaufnahme kann die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Kamerabewegungen und Schnitt-Techniken können „abnormale visuelle Eindrücke" erzeugen, die starke emotionale Wirkungen haben. Der Film kann weit mehr als das Theater Mimik und Gestik präsentieren - in Großaufnahme und in überdehnter Länge. Damit kommt der Film, so Münsterberg, dem Bedürfnis des Menschen entgegen, jedes Erleben und jedes Stück Realität emotional zu besetzen und mit Enttäuschungen und Hoffnungen zu korrelieren. Das Mediums baut eine harmlose Wahrnehmungssphäre voll starker Phantasie-Erlebnisse auf, verspricht Genuss ohne Reue. Es biete „eine neue Form wahrer Schönheit in den Wirren eines technischen Zeitalters“. 

Die verbreitete Bilderwelt blendet das alltägliche Normale im menschlichen Alltag aus. Extrem schöne Gestalten, extrem erfolgreiche Menschen zeigt das digitale Netz – und hässliche: abgetrennte Köpfe, blutende Stümpfe, brennende Leiber, stürzende Körper. Keine Filmsequenz zeigt in annähernd realistischer Länge, wie Menschen schlafen, sich waschen, essen, oder wie sie sich langweilen. Die Bilder der globalen Medienkultur sind vereinnahmend, weil sie emotional bedeutsame Szenen in großer Dichte darstellen.

Die Illusionsmächtigkeit der technisch erzeugten Bilder verdrängt ältere Phantasie-Gestalten, die sich um Naturgewalten, um Todesdrohungen und um paradiesische Hoffnungen entspannen. Das eigene Leben erscheint im Vergleich mit diesen Bildern genauso grau und langweilig wie es im Vergleich mit dem „Garten der Lüste” erscheinen musste. Der Unterschied ist, dass der Anblick eines besonderen gemalten Bildes im 16. Jahrhundert ein außergewöhnliches Erlebnis war, während die elektronische Medienkultur jeden Menschen über das Fernsehen stundenlang im Wohnzimmer und über das Handy eigentlich permanent und überall mit ihrer Bilderflut konfrontiert.

Die digitale Bilderflut und die neue Kultur der Aufmerksamkeit

In der Kulturgeschichte ist oft fasziniert beschrieben oder angstbesetzt hinterfragt worden, dass die visuellen Reize, die das Gehirn zu verarbeiten hat, im kulturellen Entwicklungsprozess immer vielfältiger, umfangreicher und schneller werden. Die heutige Weltgesellschaft produziert täglich Milliarden von Bildern. Nie konnten Menschen sich so leicht und oft und massenhaft selbst im Bild inszenieren, soziale Kontakte mit Bildern aufbauen, sich über geteilte Bilder unterhalten oder Erinnerungen austauschen. Immer und überall hat fast jeder Weltbürger inzwischen in seinem Handy eine Digitalkamera dabei.

Digitale Bilder prägen unsere Bilder von Freundschaft, Ehe, Liebe, Vertrauen, Macht, Partnerfindung, Kinderbetreuung, Geschäftsbeziehungen, Altenpflege, Öffentliche Sicherheit, Identität, Shopping, Unterhaltung, Gaming. Für die Aufmerksamkeitsökonomie unserer Netzwerkgesellschaft spielt das digitale Bild eine zentrale Rolle.

Die mobilen Kommunikationstechnologien, die über das Smartphone sowohl öffentliche wie persönliche Kommunikation in jeder Lebenslage und in Echtzeit ermöglicht, verändert die Face-to-Face-Interaktionen – wo immer zwei oder drei Menschen körperlich zusammen sind, ist die virtuelle Welt mitten unter ihnen. Es gibt kaum noch eine soziale Situation der reinen Präsenz. In der Abbilder erzeugenden Gesellschaft verlieren Originale ihre Bedeutung. 

Die elektronische Welt interveniert permanent in die Strukturen der originalen „Anwesenheit“ und der Anwesenheitskommunikation und schafft einen Zugang zu den Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Aktivitätsinhalten der Kommunikationspartner. Das gilt im beruflichen wie im privaten Leben. Neue Medien verändern eben auch die Struktur alter sozialer Beziehungsformen. Der digitale visuelle „Liveticker“ über die sozialen Medien ersetzt das Fotoalbum, den Lebenslauf oder hin und wieder auch die Beichte. 

Die Möglichkeiten der digitalen Dokumentation persönlicher Erlebnisse simulieren eine kommunikative Präsenz bei gleichzeitiger körperlicher Abwesenheit. Damit prägen die neuen  Medien auch die Wahrnehmungsweise sozialer Wirklichkeit. Wobei die visuelle Dokumentation authentischer erscheint als schriftliche oder rein sprachliche Kommunikationsformen. Natürlich hatten Bilder auch vor dem sogenannten „pictorial“ bzw. „iconic turn“ entscheidende Bedeutung für die Welt-Wahrnehmung der Menschen, abgesehen vielleicht von einigen Buch-Gelehrten neigen die Menschen dazu, nur das zu glauben, was sie sehen. Neu ist also nicht die Dominanz des Visuellen, sondern die Dominanz des virtuellen Visuellen. Der Klatsch und Tratsch, der die Face-to-Face-Gemeinschaft des „Dorfes“ geprägt hat, beherrscht nun die Öffentlichkeit der Smartphone-Kommunikation.

Für die neuen Generation der „digital natives“ und ihre „eingefleischte“ Vertrautheit mit den neuen Medien erfährt so der mentale Alltag eine als unproblematisch wahrgenommene Ausweitung. 

Die Entwicklung steht erst am Anfang. Mit den technischen Möglichkeiten von der Art Google-Glass kann die virtuelle Verbreitung der sozialer Wirklichkeit „simultan“ passieren, ohne dass  der Sender noch auswählen kann und muss, welche Bilder er mit welchem „Voici“ versendet.

Die Medien-Bilder sind im 20. Jahrhundert bewegte Bilder geworden und haben an der Wende zum 21. Jahrhundert eine ungeheure Schnelligkeit bekommen, eine bis an die Grenze der Physiologie und des Flimmerns gehende Schnittfolge der Veränderung. Das entwaffnet die visuelle Kontrolle und steigert die Suggestivkraft der Bilderbewegung.
Die technisch erzeugten Bilder isolieren nicht nur den Körper des Betrachters, sie raffen die Zeit, jagen von Höhepunkt zu Höhepunkt, Phasen der emotionalen Entspannung werden herausgeschnitten, sie visualisieren phantastische übernatürliche Kräfte.

Offenkundig ist: Die Menschen wollen dieses Geflimmer auf den Bildschirmen. Die mentale Lust an der Phantasie ist ein tief verankertes menschliches Bedürfnis. Das technisch produzierte Bild hat eine höhere Attraktivität als das gemeinhin Sichtbare, man geht eben lieber ins Kino als das herbstliche Farbenspiel im Park von einer Bank aus zu bewundern. Die Kinobilder sind besonders attraktiv, wenn sie Futter für die Phantasie liefern. Kulturelle visuelle Wahrnehmungen verfügen über unsere Aufmerksamkeit, weil sie auf unsere emotionale Erwartungsstruktur wirken.  (zur Aufmerksamkeit siehe M-G-Link) 

Die Erfordernisse der modernen Aufmerksamkeit müssen mühsam antrainiert werden, das kann man in jeder Schule studieren. Lange wurde dazu der Rohrstock gebraucht – noch 1960 hat die Hamburger Schulbehörde eine Verfügung erlassen, nach der den Lehrern „amtlich genehmigte Rohrstöcke zur Verfügung stehen, gegen deren Verwendung auch Ärzte keine Bedenken erheben". Lernen die Menschen in der digitalen Gesellschaft noch, was Aufmerksamkeit ist? Das Erfordernis der Aufmerksamkeit ist überlebenswichtig in einer Welt potentieller Feinde, nicht nur auf der Autobahn, sondern auch schon im Urwald. Aufmerksamkeit ist ein wichtiger disziplinierender Mechanismus der Schriftkultur. Theodule Ribot hat 1888 in seinem Buch „La psychologie de l'attention“ (dt. „Psychologie der Aufmerksamkeit“, 1908) festgestellt, dass „die Aufmerksamkeit ein abnormer, ein Ausnahmezustand ist, der nicht lange dauern kann, weil er im Widerspruch mit der Grundbedingung des physischen Lebens steht: dem Wechsel“.

Auch moderne elektronische Medien müssen, wenn sie ohne Rohrstock die Aufmerksamkeit über längere Zeit gefangen nehmen wollen, mit einem subtilen Aufmerksamkeits-Management arbeiten: Phasen der Spannung und Konzentration müssen eingebettet sein in Phasen der diffusen Aufmerksamkeit und Entspannung, also bekannte Erlebnismuster vorführen, um es dem Geist zu erlauben, ziellos abzuschalten oder sich in eigenen Phantasiewelten zu zerstreuen.

Das Gehirn wird sich auf die Medien-Umgebung des 21. Jahrhunderts so einstellen müssen wie es sich auf die neuen Medien des 16. oder des 19. Jahrhunderts eingestellt hat. Erregender, um den Begriff von Christoph Türcke aufzugreifen, als das moderne Geflimmer waren  die antiken Opferkulte allemal. Wenn der homo sapiens durch die Reizüberflutung einer realen Hexenverbrennung nicht verrückt geworden ist, sollte er gewappnet sein, auch die moderne Reizüberflutung am kalten Bildschirm auszuhalten. Die Filtermechanismen in der Reizverarbeitung des menschlichen Gehirns haben sich - bisher jedenfalls - als äußerst flexibel erwiesen.

Sehen ist Fokussieren

Das physische Sehen beruht auf einer großen Zahl kleinster Augenbewegungen, die den sehr engen Schärfenbereich unserer optischen Wahrnehmung ständig über die Realerscheinungen wandern lassen, also den räumlichen Seheindruck aus einer Vielzahl von schnell aneinander gefügten Fokussierungen vornehmen. Heinz Buddemeier  beschreibt und problematisiert diesen Effekt in seiner Analyse der „Wirkung von Film und Fernsehen auf Individuum und Gesellschaft“ so: „Wenn wir in der Welt umherblicken, wird uns normalerweise nicht klar, dass wir die Gegenstände, die vor uns liegen, ständig neu fixieren. Der Grund hierfür liegt darin, dass wir immer nur einen kleinen Wirklichkeitsausschnitt scharf sehen können. [ ] Um einen Gegenstand scharf zu sehen, müssen wir mit den Augen zweierlei tun. Wir müssen zum einen die Augen so richten, dass sich die Augenachsen in dem Punkt kreuzen, der, wie man dann sagt, ins Auge gefasst werden soll. Zum anderen müssen die Augenlinsen so eingestellt werden (Akkommodation), dass die von dem Gegenstand ausgehenden Strahlen auf eine bestimmte Stelle der Netzhaut gelenkt werden, auf das Sehgrübchen. Da das Sehgrübchen sehr klein ist, besteht unser Sehen aus einer meist unbewusst bleibenden Folge von Fixierungen. Das Gegenteil des Fixierens ist das Starren. Wer starrt, bringt die Beweglichkeit und Lebendigkeit nicht auf, die das ständig neue Fixieren verlangt. Sieht man einmal von rein physiologischen Störungen ab, sind es vor allem zwei Neigungen, die das Starren begünstigen: Bequemlichkeit und Genusssucht. Hinter dem Starren steht der Wunsch, mit möglichst wenig Aufwand möglichst viel zu sehen“. 
Die mediale Konstruktion dieses Sehens auf den Bildschirm begünstigt für ihn eine Vernachlässigung der neurophysiologischen und psychologischen Formen „natürlichen“ Sehens. Genauso hätte man allerdings die Fixierung des Sehens auf Buchseiten, also das stille Lesen, kritisieren können. Diese Kritik überschätzt die äußerlichen körperlichen Aspekte der Wahrnehmung.

Von der Krise erfasst ist die elitäre Funktion der Schriftkultur

Religionskritik und Aufklärung, so sehr sie die Volksmassen verunsicherten – gehörten immer nur bei einer gebildeten Minderheit zur gelebten Kultur. Nur die bildungsbürgerliche Elite war im 17. und 18. Jahrhundert von der visuellen und plastischen Kultur abgerückt und hatte (mit Immanuel Kant) die wahre Aufklärung in eine Kontinuität zu dem alttestamentarischen Bilderverbot gerückt. Nur dieser bildungsbürgerlichen Tradition musste die neue Medienkultur des 20. Jahrhunderts mit ihrer Betonung bildhafter Kulturformen als Sünde erscheinen. Sie bedrohte den kulturellen Machtanspruch dieser Minderheit der Gesellschaft: Aus war der zutiefst elitäre Traum von rationaler Diskurs-Kommunikation, von Qualitätsjournalismus und bürgerlich dominierter Öffentlichkeit. 
Vielfältig sind die Klagen der Vertreter der gehobenen Schriftkultur über die elektronischen Zerstreuungen, die es schwer machen, den Blick zu konzentrieren. „Aufmerksamkeitsdefizitkultur“ nennt der Philosoph Christoph Türcke dieses Phänomen in großer Sorge. Aber mehr als zwei Drittel der Menschen des 19. Jahrhunderts lebten nicht in der Schriftkultur und konnten sich kaum eine Stunde lang auf ein „gutes Buch“ konzentrieren. Und selbst das Bildungsbürgertum füllte keinen seiner Kulturtempel so zuverlässig wie die Oper - auf der Suche nach Verzauberung in diesem Gefühlskraftwerk.

Erst Illustrierungen und die Illustrierten hatten die Schrift-Medien zu Massenmedien gemacht - in der Reformation wie im 19. Jahrhundert in den Zeitungen. Für die Mehrheit der Bevölkerung eröffneten Bild-Medien immer schon (neben der mündlichen Rede) den direkten Zugang zu Wissen, das wussten schon die christlichen Kirchenväter der Spätantike im Streit um das alte biblische Götterstatuen- und Bildnisverbot. Seit dem alttestamentarischen Bildnis-Verbot ist die Schrift eine Kulturtechnik, die Machtansprüche begründet. Auch die neuzeitliche Schrift-Kultur setzte sich von oben nach unten durch und deklassierte diejenigen, die nicht oder nicht so gut lesen konnten. Erst mit der Bilder-Kultur des Kinos und Fernsehens musste das Bildungsbürgertum - widerstrebend - die Erfahrung machen, dass eine neue Art, sich zu unterhalten und die Zeit zu verbringen, von unten nach oben wächst.

Was an der neuen Bildkultur im 20. Jahrhundert bedrohlich erschien, war im Kern die Annäherung von Populär-Kultur und der Kultur der Gebildeten. Undenkbar, dass der Professor dieselben Bücher liest wie seine Putzfrau - heute haben sie beide dasselbe Smartphone, Herr, Knecht und Frau amüsieren sich am Sonntagabend vor demselben „Tatort" - so viel herrschafts-kulturelle Distanzlosigkeit gab es über die Jahrhunderte der Aufklärung nicht.

Medien-Menschen

Was wird aus dem leiblich gelebten Beziehungsnetz räumlich organisierter Sozialkontakte? Wenn schon vor dem Frühstück das Handy klingelt oder der Fernseher angestellt wird, dann gibt es keine Phase des Alltags mehr, in der sich Menschen abschirmen können  oder wollen  gegen das Verfügbar-Halten der elektrischen Netz-Kommunikation. Wenn sich Menschen kaum noch von A nach B bewegen können ohne Kopfhörer, zeigt das, wie ihnen die reale leibliche Umgebung unwichtiger wird. Wer sie ansprechen will, erfährt: Sie sind woanders. Wenn sie abends vor dem Fernseher sitzen anstatt den Feierabend „wie früher“ in der Küche oder in der Kneipe zu verbringen, dann zeigt das aber auch: Die elektronische Bilderwelt ist anregender, interessanter, lebendiger. An der Wende zum 21. Jahrhundert scheint es geradezu normal geworden zu sein, dass ein durch seine Kopfhörer akustisch isolierter Mensch irgendwo in der Öffentlichkeit steht, seine Umgebung aber ignorieren kann, weil er mit einem anderen seiner Wahl kommuniziert – egal auf welchem Kontinent. Aufmerksamkeit ist nicht mehr nur ein Reflex der Umgebungsgeräusche, mit seiner Aufmerksamkeit kann das elektronisch vernetzte Gehirn das akustisch und visuell Wahr-genommene steuern.

Die Überfülle von mentalen Anknüpfungspunkten befreit von der einen, zwingenden Interpretation der Wahrnehmung, ist insofern die Vorbedingung für ein kreatives, freies Subjekt. Niemand kann mehr mit Macht regeln, wie Menschen – individuell und kollektiv – ihre Umwelt wahr-nehmen. Je örtlich ungebundener das Wirklichkeits-Bewusstsein, desto mehr Wahlmöglichkeiten hat es, desto freier ist es.

„Jahrhundert des Auges“? Die Macht der Scheingewissheiten

Das Bild verdrängt die Schrift nicht, so wenig wie die Schrift in den Jahrhunderten der Aufklärung das Bild verdrängt hat. Die gern aufgespannte ausschließende Alternative von „klassischer“ Schriftkultur und „moderner“ Bildkultur stimmt nicht. In den Köpfen der Menschen gibt es ein Kontinuum zwischen den Phantasiebildern der Schriftkultur und den visuell provozierten Bildwelten, die neuerdings elektrisch vor Augen geführt werden. 
Wir erfreuen uns im Kino an der Verfilmung von Romanen. Den Science Fiction-Verfilmungen liegt „Science“ zugrunde, die Film-Phantasie schwebt über den durch die letzten Jahrhunderte der Schriftkultur hindurch entwickelten Ansichten von Natur und Technik. Das moderne europäische Wirklichkeits-Bewusstsein des 20. Jahrhunderts, auf das die virtuelle Bilderwelt aufsetzt, ist tiefgreifend durch die Jahrhunderte der Schriftkultur geprägt.
 

Claude E. Shannon und Warren Weaver haben in 1940er Jahren als Mitarbeiter einer Telefongesellschaft die technische Kommunikation von Sender und Empfänger thematisiert und erklärt, dass Informationsaustausch nur dann gelingen kann, wenn beide einen gemeinsamen Kode für die Enkodierung  und Dekodierung der Nachricht haben. Schon für die menschliche Kommunikation kann dieses Modell nicht ausreichen, weil der Mensch über seine Sinne weit mehr sensorische „Informationen“ aus seinem natürlichen und sozialen Umfeld aufnimmt als nur die des jeweiligen „Senders“.  Jedes für den Sender noch so belanglose visuelle Detail seiner Erscheinung und seines Verhaltens kann für den Empfänger bedeutsamer sein als die gesamte Botschaft. Gestik, Mimik und Körperhaltung prägen für den Empfänger die Botschaft des Senders. Visuelle Wahrnehmungen können den Empfänger so sehr „ablenken“, dass er nichts mehr von dem aufnimmt, was der Sender meinte zu senden.  Der menschliche Empfänger kann eigenmächtig und ohne Rücksprache mit dem Sender Blick und Ohr abwenden, wenn eine Katze über die Straße läuft und er dies in dem Moment wichtiger oder emotional bedeutsamer findet. Um visuelle Ablenkung zu reduzieren, zeigt das Fernsehen oft nur den seriös und glaubwürdig dreinschauenden Nachrichten-Sprecher, reduziert also den visuellen Eindruck auf ein Minimum von Körpersprache.

Der Sender ist den Launen des Empfängers ausgeliefert, will er verstanden werden. Sichtbare „Sender“ betreiben nicht nur großen Aufwand für Kosmetik und modische Kleidung, um zu vermeiden, dass der Blick des Empfängers unnötig abschweift, Sender müssen die Quantität ihrer Botschaft auf das Aufnahmevermögen der Empfänger einstellen, sie müssen das Bedürfnis nach knapper sachlicher oder literarisch ausmalender Information respektieren und den Ansprüchen an Seriosität und suggerierter Nachprüfbarkeit genügen. Schließlich müssen sie respektvoll und höflich erscheinen, sonst schaltet der Empfänger sofort ab.

Die akustisch-sprachliche Kommunikation hat also immer damit zu kämpfen, dass die Menschen für visuelle Reize sehr viel empfänglicher sind als für Worte. Das erklärt den Siegeszug der Bebilderung der Printmedien und den Erfolg der bewegten Bilder - Film  und Fernsehen – im 20. Jahrhundert.

Visuelle Eindrücke leben von den vielen Scheingewissheiten, von scheinbar plausiblen und oft wenig bewussten Überzeugungen im Kopf der Betrachter. Diese Überzeugungen sind Teil einer durchaus plausiblen mentalen Welt, sie helfen uns, uns in der Welt pragmatisch zurechtzufinden. Die Sonne, so wusste schon Hermann von Helmholtz 1867 in seiner Abhandlung über die „Wahrnehmungen“ mitzuteilen, gehe bekanntlich „jeden Abend vor unseren Augen hinter dem feststehenden Horizonte scheinbar unter, obgleich wir sehr wohl wissen, dass jene feststeht und dieser sich bewegt“. 

 


Zum dem Themenkomplex Bildkultur gibt es auf www.medien-gesellschaft.de u.a. folgende Texte:

  • Bigger than life - Mammutjäger vor der Glotze M-G-Link
    Über die Realität der medialen Fiktion 
    M-G-Link

    Das Gehirn spinnt Sinn  - Gehirngespinste  
    M-G-Link
    Kraft der Bilder - Unser Gehirn liebt die virtuelle Realität: Herrschafts-Bilder, Bilder für Unsagbares  
    M-G-Link
    Bilder im Kopf - Über die neurologisch vermittelte Realitätswahrnehmung  
    M-G-Link 
    Bilddenken, Bildhandeln - Wort-Laute, Gebilde und Gebärden   
    M-G-Link
    Bild  gegen Schrift - Wortfetischismus und die Klagen der Schriftkultur über die Macht der Bilder   
    M-G-Link

    Geschichte des Sehens und Kulturgeschichte des Bildes  
    M-G-Link

    Bewegende Bilder – Geschichte des Films  im 19. Jahrhundert 
    M-G-Link
    Reizflut, Reizschutz, Inhibition, Neurasthenie   
    M-G-Link
    Aufmerksamkeit - über Neurologie und Soziologie einer knappen Ressource 
    M-G-Link
  •  

Literatur:

Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung: Faszinationstypen von der Antike bis heute (2005) 
Wolfgang Brückner, Bilddenken - Mensch und Magie oder Missverständnisse der Moderne (2013)
Heinz Buddemeier: Illusion und Manipulation. Die Wirkung von Film und Fernsehen auf Individuum und Gesellschaft  (1987)
Mark Changizi: Die Revolution des Sehens. Neue Einblicke in die Superkräfte unserer Augen (2012, engl. The Vision Revolution. How the lastest research overturns everything we thought we knew about human vision. 2010) 
Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert
(1996 - Original: Techniques of the Observer, 1990)
Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur (2002, Orig: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle and Modern Culture, 1999)
Antonio R.Damasio, Descartes Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn (1997)
Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder. 
        Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern (2004)
Ivan Illich: Askese des Blicks im Zeiten der show, in: Weltbilder – Bilderwelten, Hg. Klaus-Peter Dencker (1995)
Hans-Otto Karnath, Peter Thier (Hrsg.): Kognitive Neurowissenschaften (2012)
Eric Kandel, Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, 
        Geist und Gehirn von der Wieder Moderne bis heute (2012)