Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

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Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen: Augensinn, Bildmagie
 

ISBN 978-3-7418-5475-0

Cover VR

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges


ISBN 978-3-7375-8922-2

Cover POP1

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN
: 978-3-756511-58-7

Cover GG

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

ISBN 978-3-746756-36-3

 

Cover WI

Neue Medien,
neue Techniken des
Selbst:
Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

 

Am Anfang war Musik -
über die Ursprünge der Laut-Kommunikation

 2009/21

Auch in den Frühzeiten des Lebens war unsere Erde kein stiller Planet. Es gab das Rauschen des Wassers und des Windes, aber die ersten Lebewesen waren taub und stumm. Manche der heute lebenden Tierarten, auch die aus dem Wasser an Land gekrochenen Insekten und Wirbellosen, kommen ohne Gehör und Stimme aus. Ihre  Verständigung erfolgt durch optische Signale, Berührungen, Duftstoffe – Trommelsignale werden mit den Beinen „gehört“.
Der Homo sapiens erträgt die absolute Stille schlecht - wenn es um uns herum einmal ganz still wird, neigen wir dazu, diese Stille sofort akustisch zu füllen - singend, summend, pfeifend. Manchmal passiert das auch nur in unseren Köpfen. Warum tun wir das?

Das Lautrepertoire der Menschenaffen – Gorillas wie Schimpansen, weist ein hohes Maß an Sensibilität gegenüber Lauten auf. „Giobbons sind hochmusikalisch“, sagt der Primatologe Thomas Geissmann. Er hat untersucht, wie neue Gibbon-Paare ihre Gesänge während einer etwa zweimonatigen Lernphase zu einem „Duett“ anpassen – das „Singen“ scheint für sie ein Kommunikationsmittel zu sein, das Bindung fördert und Gebundenheit nach außen signalisiert.

Stimmliche Kommunikation gibt es auch anderswo im Tierreich: bei Vögeln, Walen, Elefanten. „Stellen Sie sich vor, Sie leben als Urmensch in der afrikanischen Savanne und gehören einer großen sozialen Gruppe an. Da gab es Spannungen, Rivalität, Kämpfe. Und man kann sich vorstellen, dass es Leute gab, die gesungen haben, um die Gruppe zu beruhigen, für Entspannung zu sorgen – oder die das Gegenteil taten, die Mithilfe ihrer Stimme die anderen anstachelten oder zur gemeinsamen Jagd antrieben. Man kann mit Musik Stimmungen beeinflussen“, sagt der Archäologe und Professor für Vor- und Frühgeschichte Steven Mithen. „Singing Neanderthals“ heißt sein Buch, in dem er beschreibt, dass schon das Gruppenleben der Tierwelt eine soziale Kommunikation erfordert, erst recht die größeren Gruppen, in denen die Frühmenschen zusammen lebten. Die Neandertaler scheinen sich mit einem Singsang verständigt zu haben. 

Stimmlicher Singsesang verbindet auch menschliche Mütter und ihre Säuglinge – neben zu dem entscheidenden Hautkontakt. Für vorsprachliche Kinder sind die musikalischen Aspekte der Sprache entscheidend. Kleine Kindern lassen sich mit Musik beruhigen. Babys zeigen von Anfang an ein Interesse und eine Hinwendung zu Rhythmen, Harmonien und Melodien. 

Musik stimuliert das Belohnungszentrum und löst Glücksgefühle aus, und Musik ist immer auch etwas Gemeinschaftliches und stärkt den Zusammenhalt einer Gruppe so als würde es Lebewesen emotional synchronisieren. Unser Gehirn ist offenbar darauf angelegt, Musik hervorzubringen und zu genießen. Musik scheint ein Teil unserer Biologie zu sein. Doch wozu?
Und wie ist die Verständigung über akustische Signale entstanden?

Die Singstimme und die Evolution

Der Homo sapiens verfügt über zwei lautliche Kommunikationssysteme, die „Musikstimme“ und die „Sprachstimme“. Die beiden Kommunikationssysteme sind völlig autonom. Es ist unmöglich, Musik in Worten zu beschreiben oder die Botschaft der Worte in Musik zu übersetzen. Für das, was Musik vermittelt, gibt es keine Worte. Und während man eine Sprache in eine andere übersetzen kann, ist es unmöglich, eine Musik in eine andere zu übertragen. Im Unterschied zur Sprache transportiert Musik nicht symbolische, sondern überwiegend emotionale Botschaften, die nicht in Einzelelementen, sondern als Ganzes wahrgenommen werden. Während für die Sprache ein Tonumfang von einer Quinte ausreichen würde, verfügt die  Musikstimme über fast drei Oktaven. Auch die Fähigkeit, Töne lange zu halten, wird nur zum Singen benötigt. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Sprache evolutionsgeschichtlich jünger ist - die Sprache nutzt offenbar nur einen kleinen Teil des Potentials der Singstimme.

„Erst durch die soziale Organisationsform der Gruppe konnte sich die Spezies Homo sapiens gegenüber Tierspezies sowohl bei der Jagd als auch beim Schutz der Gruppenmitglieder durchsetzen“, erklärt der Musikwissenschaftler Eckart Altenmüller. „Diese Fähigkeit zur sozialen Organisation wäre evolutionär mindestens genauso bedeutsam wie der Werkzeuggebrauch, und Musik hätte aus dieser Sicht eine zentrale Bedeutung.“

Bei Grabungsfunden in den Höhlen der Schwäbischen Alb sind Bruchstücke einer aus Geierknochen geschnitzten Flöte gefunden worden – ihr Alter wurde mit rund 40.000 Jahre, geschätzt. Das ist ein Hinweis auf frühe Kulturtechniken der Ton-Sprache. Musik dient der Kommunikation - vielen alte Kulturen bezeichnen Sprache und Musik mit dem dasselbe Wort. Ohne die Sprachmelodie, so die Gehirnforscherin Angela Friederici, wäre Sprachwahrnehmung kaum vorstellbar.
Lautmalerei gehört zu allen rituellen Aktivitäten. Charles Darwin hatte beobachtet, wie das Zwitschern der Vögel der Brautwerbung dient und daraus auf die Funktion von Musik für den Menschen geschlossen.
Musik festigt durch ihr Unisono den Gruppenzusammenhalt
. S
chon bei den Wiesenheuschrecken synchronisieren sich die Männchen, um von den Weibchen besser gehört zu werden. Gänse stimmen sich durch ihr Schnattern aufeinander ein, bevor sie im Schwarm gleichzeitig abheben. Ameisenschwärme in Sumatra zischen bei Bedrohung im Chor wie ein einziges großes Tier. Baumfrösche synchronisieren ihre Rufe, um es den räuberischen Fledermäusen zu erschweren, einzelne Frösche zu orten. Sicherlich haben auch die Menschen beim gemeinsamen Jagen Tierstimmen imitiert. 

Arbeitsgesänge, Kriegs- und Marschlieder gehören in der Menschheits-Geschichte zu den elementaren Mitteln, um sich als Gruppe einzustimmen. Lieder gehören zu geselligen Festen wie zur Fankultur beim Fußball. Zu der Musik gehört das Gleichschwingen des Körpers - gemeinsames Mitwippen, Mitklatschen, Mittanzen.

Der Vorrang der Musik zeigt sich auch bei Säuglingen – sie achten mehr auf den Singsang der Sprachmelodie als auf die Konsonanten der Worte. Die hohen Töne des „Mutterisch“ ziehen erhöhte Aufmerksamkeit auf sich. Zwei bis drei Monate alte Säuglinge beginnen dann, rhythmische Unterscheidungen zu erkennen. Die Sprachmelodie verkündet dem Kleinkind emotionale Botschaften: Es kann atemlose, hektische Schmerzens- und Hungerschreie durchaus unterscheiden von den ruhigen, harmonischen Melodien, mit denen sich Geborgenheit und Glück kommuniziert.

Das Gehirn hat in der linken Hemisphäre zwei Sprachzentren ausgebildet hat – aber kein lokalisierbares Musikzentrum: Wenn wir Musik hören oder spielen, sind etliche weitverzweigte Areale aktiv – auch solche, die sich normalerweise mit anderen geistigen Aufgaben befassen. Manfred Spitzer: „Zu den faszinierendsten Ergebnissen der Hirnforschung ... zählt die Entdeckung, dass das Gehirn auf spezifische und häufige Aufgaben, wie sie beim Musizieren vorkommen, sogar mit strukturellen Änderungen reagiert“. Insbesondere ist bei allen Musikern der „Vordere Balken” vergrößert, der die Großhirnhälften verbindet und u. a. für die Koordination beider Hände zuständig ist. 

Auch Sprache ist eine Hochleistung, an der das ganze Gehirn mit parallelen Netzwerken arbeitet. Innerhalb von weniger als 200 Millisekunden werden dann Aspekte der Sprachmelodie in der rechten Hirnhemisphäre verarbeitet. Parallel dazu wird die Syntax, also die Grammatik des Satzes, in der linken Hirnhemisphäre, im Broca-Areal analysiert. Richtig kompliziert wird es jedoch, wenn es darum geht, den Sinn der Worte zu erfassen. Denn ihre Semantik setzt sich aus vielen Bedeutungsebenen, Erinnerungen und Emotionen zusammen. 

Das Broca-Areal reagiert mit einer gesteigerten Aktivität, wenn ein grammatischer Fehler auftaucht. Die Reaktion erfolgt so schnell, dass es scheint, als würde das Gehirn eine Erwartungshaltung haben. Das geschieht auch, wenn die Testpersonen aufgefordert wurden, nicht auf die Grammatik zu achten. 

Italienische Wissenschaftler haben neugeborenen Kindern Sprache von einem Tonband vorgespielt. Daraufhin stieg die Durchblutung ihrer linken Hirnareale. Spielte man das Tonband rückwärts, passierte nichts. Der gleiche Effekt war auch bei Erwachsenen zu beobachten, wenn sie eine unbekannte Sprache hörten. Fazit: Das Gehirn scheint Sprache  automatisch zu erkennen, während rückwärts abgespielte Sätze nur als Geräusch wahrgenommen werden.

„Singing Neandertals“

Steven Mithen geht davon aus, dass sich die Neandertaler mit einer „musilanguage“ verständigt haben – einem melodischen vorsprachlichen Kommunikationssystem, das ebenfalls als Motor des Gehirnwachstums wirkte. Mit ihrer den Lauten großer Affenarten ähnlichen „Musiksprache“ konnten sie zwar die jeweils auftretenden Probleme lösen, aber die Lösungen nicht auf andere Bereiche übertragen – dazu fehlte ihnen die Intelligenz des eloquenten Homo sapiens, der die singenden (und jodelnden?) Neandertaler schließlich verdrängt hat.

Aber Musik war vor allem sozialer Kitt, Gruppengesang war Ersatz für das gesellige gegenseitige Kraulen, das in den immer größer werdenden Stammesgemeinschaften den Zusammenhalt nicht mehr leisten konnte.

Der Anthropologe Robin Dunbar hat Mitte der 1990-er Jahre seine Theorie von den evolutionären Ursprüngen der Sprache so zusammengefasst: „Sprache war ursprünglich nicht mehr und nicht weniger als mündliches Lausen.“ Dunbar hatte nach einer Erklärung für das rapide Hirnwachstum früher Menschenarten gesucht. Weder neue Werkzeugtechniken noch die Ernährung schienen ihm als Auslöser plausibel. „Die eigentliche Herausforderung für das Gehirn eines Primaten liegt in seiner sozialen Intelligenz“, meint Dunbar.

    Diese Theorie ersetzt die unbefriedigende Hypothese, Sprache sei als Werkzeug der Informationsweitergabe entstanden. Was soll es für einen Vorteil bringen, wenn jemandem mit einfachsten Worten die Herstellung eines Faustkeils zu erklären versucht, wenn er ebenso gut zuschauen könnte? Erst in der frühen Neuzeit begannen die Menschen, die handwerklichen Künste präzise und auch für Nicht-Eingeweihte verständlich zu beschreiben - und stellten fest, dass die mundartlichen Dialekte dazu nicht ausreichten. Nur unter Zuhilfenahme lateinischer Fachausdrücke konnte das gelingen. Noch in der frühen Neuzeit wurden die handwerklichen Fähigkeiten durch Zuschauen weitergegeben, nicht durch sprachliche Fixierung. Diese „nützliche“ Funktion der Sprache erweist sich offenbar erst dann als nützlich, wenn die Sprache durch die Schrift komplexer und präziser geworden ist. Die Anfänge lassen sich so nicht erklären.

Die Sprech-Stimme aus biologischer Sicht

Der Mensch kann mit bemerkenswerter Geschwindigkeit und Präzision Töne formieren, die wir als Sprache und Gesang wahrnehmen. Der Stimmapparat des Menschen hat dabei uralte Wurzeln - Lunge, Kehlkopf und Vokaltrakt finden sich schon bei den sog. „Lungenfischen“, also der Gruppe der Luft atmenden Fische. Der menschliche Stimmapparat ähnelt dem von Fröschen oder Krokodilen, auch ihr Kehlkopf kann Laute erzeugen. Die ursprüngliche Aufgabe des Kehlkopfs war es, Flüssigkeiten und Nahrung aus den Atemwegen und der Lunge herauszuhalten. An Land waren die Organe für die Unterwasseratmung überflüssig

Die weitere  Evolution führte zur Ausprägung spezifischer Laut-Systeme – aber nicht beim Menschen. Vögel haben eine andere Struktur als Schallquelle entwickelt, Syrinx genannt. Sie verfügen über die evolutionär vielfältigsten Stimmorgane und können gleichzeitig zwei Gesangstöne erzeugen, also im Duett mit sich selbst singen. In der Tierwelt spielen die erzeugten Laute meist eine wichtige Rolle bei der Partnerwerbung und Revierverteidigung. In den gemäßigten Klimazonen sind die Männchen die aktiven Sänger. Wobei insbesondere beim Gesang der Vögel sich der Eindruck aufdrängt, dass es auch ein pures Lustempfinden gibt, das diese Tiere dazu motiviert, Dinge zu tun, die vielleicht für die Vorfahren nützlich waren.

Die Zahnwale sind Fleischfresser und haben in den nasalen Atemwegen eine faszinierend neue  Schallquelle entwickelt, mit der sie über eine hoch entwickelte Technik der Schallortung verfügen. Sie „sehen“ damit ihre Beutetiere und die Unterwasser-Umgebung. Die Rufe der Bartenwale reichen unter Wasser mehrere hundert Kilometer. Auch Fledermäuse haben – rein aus Energiespargründen - eine komplexe Ultraschall-Ortung entwickelt, das der visuellen Wahrnehmung anderer Lebewesen nicht nachsteht.   Wale und Elefanten können Töne erzeugen, deren Frequenz unter 20 Hertz liegt und die für Menschen nicht hörbar sind. Fledermäuse und andere Säugetiere kommunizieren im Bereich des Ultraschalls bei Frequenzen über 20.000 Hertz. Das Spektrum der menschlichen Stimme liegt bei rund 100 Hertz und ist vergleichsweise schmal. 

Bei den Menschen wie bei den Fröschen sind die Stimmbänder im Kehlkopf die Schallquelle: Ein Luftstrom aus der Lunge streicht über die Stimmbänder, die zu vibrieren beginnen. Neben den Menschen haben beispielsweise auch Hirsche, Koalas und Löwen und Tiger einen permanent abgesenkten Kehlkopf. Dies ist also ein ungewöhnliches, aber keineswegs einzigartiges Merkmal des menschlichen Stimmapparates.

Die Menschen sind unter den Säugetieren mit abgesenktem Kehlkopf offenbar die einzigen, die eine neue Form der Zunge nutzen, um vielfältigere Frequenzen zu erzeugen und damit ein größeres Repertoire von Stimmlauten zu erzeugen als Hund oder Schimpanse das könnten.

Die besonderen Fähigkeiten der menschlichen Stimme beruhen aber nicht auf der Biologie der Laut-Organe, sondern auf Veränderungen im Gehirn. Bei Menschen sind nur wenige  Lautäußerungen angeboren, etwa das Lachen und Weinen. Die meisten Laute sind kulturell erlernt. Die Fähigkeit des Gehirns, sich an Laute zu erinnern, die ein anderes Individuum erzeugt hat und sie dann selbst zu erzeugen, ist von wesentlicher Bedeutung für die Spracheentwicklung des kleinen Menschen. Für die differenzierte evolutionäre Fortentwicklung der Stimmlaute zu einer Laut-Sprache spielen offenbar die hohen Anforderungen der Fürsorge für die menschliche Frühgeburt und die kommunikative Verständigung in komplexer werdenden größeren Gruppen eine wesentliche Rolle.

Evolution der Sprache

Der britische Anthropologe Steven Mithen glaubt, es habe ein kontinuierlicher Wandel von tierischer zu menschlicher Kommunikation stattgefunden. Das „Missing Link” sieht er in der Musik: Singen und Tanzen habe schon die Vorfahren von Homo sapiens zusammengeschweißt und die Gemeinschaft auf die nächste Jagd eingestimmt, schreibt Mithen.

Dunbar fand bei seiner Primatenforschung heraus: Das Gehirnvolumen einer Primatenart ist umso größer, je mehr Artgenossen in einer Gruppe durchschnittlich zusammen leben - vermutlich eine evolutionsgeschichtliche Reaktion auf den Zuwachs an sozialen Beziehungen, die es zu überblicken gilt. Als Australopithecus und Homo habilis begannen, mehr Zeit in der offenen Savanne zu verbringen, suchten sie vermutlich Schutz in zunehmend größeren Gruppen. Aber der „Kitt”, der eine Gruppe zusammenhält - das gegenseitige Lausen -, wird umso zeitaufwändiger, je mehr Mitglieder der Sozialverband zählt. Homo erectus, der (wie Dunbar aus der Gehirngröße berechnete) in riesigen Gruppen von rund 100 Individuen gelebt haben dürfte, wären bei einer gegenseitigen Fellpflege zeitlich überfordert gewesen. Die erfolgreichen Jäger, der sich über die halbe Welt ausbreiteten, haben eine effektivere Methode entwickelt, so Dunbar, eben das „vocal grooming“ – verbales Lausen, Wortlausen. „So konnten mehrere Artgenossen auf einen Schlag umsorgt werden“, erklärt der Forscher. „Die Hände waren frei, um gleichzeitig andere Tätigkeiten auszuführen. Und schließlich war es sogar möglich, sich über Dinge auszutauschen, die nicht unmittelbar präsent waren.“

„Protosprache“

Die Linguistin Alison Wray geht davon aus, dass es einen Sprachvorläufer gegeben haben muss, sie nennt das „Protosprache“: Einzelne Ausdrücke standen für jeweils ganze Sachverhalte („Lass uns jagen!”, „Gib mir ein Stück Fleisch!”). Als die Menschen begannen, ähnlich klingende Lautketten zu verallgemeinern, entstanden variable Satzbaumuster („gib X ein Y”), die nur noch mit Wörtern gefüllt werden mussten – eben die Anfänge einer Grammatik.

Tiere kennen differenzierte Warnrufe, sogar Gesänge – was ihnen fehlt, ist die Syntax, Grammatik, Objektbenennung. Der Kopfbau eines Primaten, bei dem der Kehlkopf oben im Rachen liegt, erlaubt kein Sprechen. Erst der Kopf des Neandertalers ähnelt in dieser Hinsicht dem des modernen Menschen. Aber der Neandertaler konnte die Zunge nicht in den oberen Mundraum bewegen – das erschwert die Vokale a, i, u. Vermutlich verfügte er über wenige Sprechlaute – so, als wenn wir das Kinn auf die Brust legen – die Laute waren vernuschelt, nasal.  Für die Äußerungen des „Wortlausens“, die der Gruppenfestigung dienten wie das körperliche Lausen, Kraulen oder das Singen, reichte das. 

1996 machte der Hirnforscher Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma eine Entdeckung, die die Theorie der Sprachentwicklung revolutionieren könnte: Spezielle Nervenzellen in der Großhirnrinde eines Makaken, die sich rühren, wenn der Affe nach einer Erdnuss griff, wurden überraschenderweise auch dann angeregt, wenn das Tier die Greifbewegung eines anderen Makaken lediglich beobachtete. Mit Hilfe dieser „Spiegelneuronen”-Funktion könnte der Affe verstehen, was sein Gegenüber vorhat. Denn der Anblick löst bei ihm intern die gleichen Hirnreaktionen aus, als wäre er selbst gerade damit beschäftigt.

Auch die Wahrnehmung von Lauten und die Erzeugung von Lauten passiert mit dem Mechanismus der Spiegelneuronen. Evolutionsbiologen gehen heute davon aus, dass mit der Zeit eine Lautsprache die ursprünglich dominanten Handzeichen verdrängt hat.

Eines der überzeugendsten Argumente hierfür fand sich in der Anatomie von Affen- und Menschengehirn. Die beim Affen F5 genannte Region, welche Zellen mit Spiegelneuronen-Funktion enthält, entspricht in unserem Gehirn einem Teil des Brocazentrums, das für die Sprachproduktion verantwortlich zeichnet. „Das war ein echter Durchbruch“, erinnert sich Corballis. „Auch die gesprochene Sprache von heute ist demzufolge fundamental gestisch.

Sprachmelodie und Tonfall, mimischer Ausdruck und Gebärde sind drei entscheidende Attribute der gesprochenen Sprache (Mundart). Erst sie vermitteln unmissverständlich und eindeutig das Gesagte. Ein Beispiel: „Du gehst nach Hause“ kann je nach Tonfall Frage, Befehl oder Feststellung sein – dazu lassen Mimik, Haltung und Gestik den Satz anzweifeln, unterstreichen, bagatellisieren oder dramatisieren.
Erst durch ihre Visualisierung als Schrift wird Sprache ein abstraktes Kommunikationsmittel, Schriftsprache steht unter der Anforderung, ohne Sprachmelodie und Tonfall, ohne mimischen Ausdruck und Gebärde präzise zu vermitteln, was gesagt werden soll.

 

    weiterführende Literatur:
    Stephen Mithen, The Singing Neanderthals. Harvard University Press, Cambridge (2006).
    Jan Dönges, Mensch, du alte Plaudertasche, Geist und Gehirn (Zeitschrift, 9’2008)
        http://www.gehirn-und-geist.de/artikel/963209
    Robin Dunbar, Klatsch und Tratsch. Wie der Mensch zur Sprache fand (1998)
    Eckart Altenmüller, Musik – die Sprache der Gefühle?
      
    Neurobiologische Grundlagen emotionaler Musikwahrnehmungen
       in: Ralf Schnell (Hg), Wahrnehmung Kognition Ästhetik, Bielefeld 2005, S.139-156
    Stefan Stöcklin, Affengesänge im Duett. Katalog der Ausstellung „Gibbons - Die singenden Menschenaffen”, 2015
       Museum der Anthropologie der Universität Zürich,
       online: http://www.gibbonconservation.org/09_media/pdf/2015_UZH_Magazin.pdf