Wort, Bild und Körper in der „Anwesenheitsgesellschaft“
Die alte körperliche Anwesenheits-Kommunikation und die durch elektronische Medien ermöglichte neue Kultur der „Anwesenheit ohne Körper“
2020
Moderne elektrische Medientechnik scheinen den Menschen in seinen sozialen Bezügen unabhängig von dem Ort zu machen, an dem sich die Bezugspersonen jeweils befinden. Der Sinn für den Ort geht verloren, sagt Josua Meyrowitz („No sens of place“). Diese neue Form von Kommunikation erscheint so selbstverständlich, dass es Sinn macht, sich 500 Jahre zurück zu versetzen in eine Gesellschaft, die Rudolf Schlögl als „Anwesenheitsgesellschaft“ beschrieben hat.
Kommunikation ist nicht einfach Übertragung von Informationen, sondern Stabilisierung von sozialem Sinn. Soziale Beziehungen werden in Kommunikation hervorgebracht und werden durch Kommunikation zu geordneter und als sinnhaft erlebbarer Wirklichkeit. In vormodernen Sozialverhältnissen, in denen technische Medien der Kommunikation (Schrift) nur für außergewöhnliche Vorgänge und für wenige Personen verfügbar sind, werden gesellschaftliche Beziehungen durch „Kommunikation unter Anwesenden“ geprägt und getragen.
„Kommunikation unter Anwesenden setzt die physische Präsenz der Teilnehmer voraus.“ Die Beteiligten nehmen sich wahr – über Blicke, Gerüche, Berührungen und verbale Kommunikation. Diese Wahrnehmungen werden auf der jeweils anderen Seite auch wahrgenommen. Beobachtungen sind auch Mitteilungen: Da kann man sich zu expressiven Gesten und Äußerungen genötigt fühlen, um vermuteten Zuschreibungen und Zumutungen an die eigene Person zuvorzukommen. In Anwesenheitskommunikation wird Kommunikation durch körperliche Wahrnehmung und Beobachtung begleitet, verstärkt und korrigiert.
Das, was man sehen, riechen, schmecken oder ertasten kann, wird nicht unbedingt als Informationen bewusst wahrgenommen, fließt aber gleichwohl in Kommunikation ein. Sinneseindrücke sind Zeichen. Um Kommunikation unter Anwesenden zu ermöglichen, sind angemessene Gestik und der Habitus normiert bis zur Formalisierung von Handlungssequenzen. Wenn Anwesenheit die wesentliche Bedingung für Teilnahme und Zugehörigkeit ist, dann muss auch „erlaubte“ Anwesenheit sehr deutlich von unerwünschter unterschieden werden: In der Frühen Neuzeit sprach man in solchen Fällen von „unrat“, der vor sich geht.
Körper, Raum und Ordnung der Zeit sind in einer Anwesenheitsgesellschaft wichtige Medien der Sinnbildung. Der Körper in seinem Erscheinungsbild ist ein zentraler Träger von Symbolisierungen. Der Raum, obwohl selbst überwiegend bereits ein soziales Konstrukt und menschliches Artefakt, bringt die Dinge und Körper, die er „umfaßt“, in eine deutbare und meist hierarchisierende Ordnung zueinander. Die Zeitordnung transportiert Bedeutung. Wer auf wen wartet, wer zunächst redet und wer wem zuhören muss – das ist wesentliches Strukturmerkmal sozialer Beziehungen unter Anwesenden. Zeit wird vor allem strukturiert über Sprechordnungen. Die Begrenztheit der menschlichen Aufmerksamkeit verlangt, dass die Möglichkeiten, sich zu äußern, begrenzt und zugewiesen werden.
Soziale Strukturbildung vollzieht sich in Anwesenheitsgesellschaften in der Zuordnung von Menschen zu Gruppen. Der Körper wird mit Kleidern in eine Form gebracht, die nicht dem modischen Ausdruck der persönlichen Identität dient, sondern Rollen und soziale Positionen markiert. Die soziale Ordnung erschließt sich über den gestalteten Körper. Strafrituale oder auch Initiationen schreiben die soziale Ordnung und die für den jeweiligen Körper definierte Position direkt in den Körper ein.
Der Körper ist nicht nur über das Ohr, sondern über fünf Sinne wahrnehmbar. Der Körper ist in seiner vorsprachlichen Lautlichkeit zu hören und macht sich so bis in die stimmliche Modulation der Sprache hinein für das Ohr bemerkbar. „Der Körper riecht und er schmeckt.“ (Schlögl) Jede dieser Wahrnehmungen ist als Information zu lesen und kann entsprechend zu einer Mitteilung werden, die zum Anfang eines Zirkels kommunikativer Sinnbildung wird. Aus der Unbestimmtheit des Körpers als Medium von Kommunikation erwächst ein Zwang zur Inszenierung: Wer nicht will, dass sein Körper übersehen oder missverstanden wird, der muss ihn „in Szene“ setzen und „Theater spielen“. Auch die Gestaltung des Sprechens selbst gehört dazu: Anwesenheitsgesellschaften ehren den Redner und thematisieren die Rede und das Reden als Rhetorik.
Und weil der Körper immer auch gegen alle Absichten lesbar ist, ist Kommunikation unter Anwesenden laufend mit der eigenen Inszenierung beschäftigt – um nicht gewollte Lektüren des Körpers zu verhindern. Der Körper wird für das Bewusstsein in Haftung genommen, weil man es mit seiner Vernichtung bedrohen kann. Gewalt und ihre Androhung wird so zu einem Instrument von Kommunikation in Anwesenheitsgesellschaften.
Wahr ist in einer Gesellschaft ohne Schrift das, was mit den Körpersinnen wahr-genommen werden kann, was sichtbar, riechbar, fühlbar, zeigbar, hörbar ist oder wofür es zeugen der körperlichen Wahrnehmung gibt.
Bilder und Zeichen
Bilder und Zeichen sind wichtige Aspekte der Multimedialität der Kommunikation in der Vormoderne. Bildern und Zeichen sind um 1500 in der Regel noch komplementäre Aspekte des Kommunikationszusammenhangs. Für die illiterale Bevölkerungsmehrheit waren Bilder wichtige Speicher- und Kommunikationsmedien.
Sie besitzen eine herausragende Bedeutung sowohl für das kulturelle Gedächtnis als auch für den Austausch von Informationen. Bilder stellten Anwesenheit her: Bildinhalte werden aufgerufen und damit zum Sprechen gebracht. Der Bildinhalt wird als präsent erlebt. Wie tief verankert das Bedürfnis nach ikonischer Vergegenwärtigung in Anwesenheitsgesellschaften ist, zeigt sich an den Schwierigkeiten, die Bildverehrung aus der öffentlichen Gottesverehrung der Frühen Neuzeit zu verbannen.
Bilder haben Orte (die Kirche, das Rathaus u.a.); sie sind Teil einer konkreten Wahrnehmungsordnung, in der jedes Objekt seinen Platz und seine eigene immanente Bedeutung besitzt. Präsentes und Repräsentiertes finden statt in körperlicher Nähe, wechselseitiger Wahrnehmbarkeit, manchmal sogar mit Berührung und Einverleibung.
Von der Schrift zum Druck
Für Historiker von besonderem Interesse sind dann die Veränderungen, die sich aus den unterschiedlichen Formen des Schriftgebrauchs für eine Anwesenheitsgesellschaft ergeben. „Kommunikation über Printmedien entkoppelt Sender und Empfänger und lässt den Entstehungs- (wie auch den Empfangs-)Kontext einer Äußerung bedeutungslos werden.“ (Schlögl)
Schrift ist in Anwesenheitsgesellschaften attraktiv, weil sie eine Stütze für das flüchtige Gedächtnis bietet. Sie wird deswegen zuerst als ein Aufbewahrungsmedium genutzt und in dieser Funktion dann oft auch als Geheimwissen behandelt. Seit dem Hochmittelalter gewann Schrift als Erinnerungsmedium zunehmende Bedeutung. Verträge wurden schriftlich fixiert, in den Chroniken der Städte und denen von Adelsgeschlechtern wurde festgehalten, was an Herkunftsgeschichten wichtig schien und die Identität festschreiben sollte. Die städtischen Chroniken waren deswegen lange noch keine öffentlichen Texte, sondern wurden in den Truhen der Ratsstuben verschlossen.
Spielleute und Sänger verbreiteten in ihren Darbietungen die „gemein sag“, im ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhundert wurden daraus dann bereits unter dem Einfluss zunehmenden Schriftgebrauchs die „Zeitungssänger“. Charakteristisch für sie ist die Verbindung von Mündlichkeit und Schrift. Die Neuigkeiten werden entweder zuerst dem Publikum im Vortrag präsentiert und dann als Druck, häufig auch als Flugblatt verbreitet – oder aber auch als „Geschriebene Zeitung“. Zeitung bedeutet „Neuigkeit“.
Unabhängig davon eröffnete der Einbezug von Schrift und Druck in Prozesse der Identitätsbildung eine neue Dimension: Es entwickelte sich ein Verständnis von Vergangenheit, das nicht mehr heilsgeschichtlich geprägt war, sondern „historisch“ sein sollte.
Die im 16. Jahrhundert neu formierten protestantischen Konfessionen erbrachten den Beweis, dass mit der massenhaft verbreiteten Druckschrift soziale Bezüge möglich wurden, die nicht mehr auf die exemplarischen Interaktionen angewiesen war, sondern in handschriftlicher Korrespondenz und in gedruckten Texten ihre verbindende Kommunikationsform fanden.
In der Stadt wurden Gesten, Mimik, körperliches Ausdrucksverhalten und Kleiderordnungen zu Aspekten eines Zeichensystems, das gestaltbar und instrumentell einsetzbar war. Die Bedeutung des Sprechaktes ergab sich dort, wo man unerwartet auf Unbekannte stieß, nicht zwingend aus der Situation, sondern konnte frei inszeniert werden. Bedeutung haftete den Dingen nicht mehr per se an, sondern sie wurde das Produkt ihrer interaktiven Herstellung.
An die Stelle von Identitäten, die eine substantielle Gleichheit voraussetzten, traten dynamische, entwicklungsgeschichtlich angelegte Selbstbilder, die ihre Konturen um so mehr aus dem Vergleich bezogen, je mehr Texte gedruckt und somit dauerhaft verfügbar waren. Exemplarische Interaktionen, wie städtische Schwörtage oder auch Herrschereinzüge sie darstellten, erhielten damit etwas Folkloristisches.
Die Drucktechnik hat aus der Schrift als einem bis dahin geheimnisvollen, privilegierten Instrument ein allgemeines Medium für soziale Ordnungsbildung gemacht. Durch den Druck konnten Worte und Bilder potentiell unendlich vervielfältigt werden. Der Druck machte das Wort verbindlich, gleichförmig und dauerhaft.
Das Bild verlor als Vervielfältigtes seine Einmaligkeit und damit seinen festen Ort, den es innerhalb des vormodernen Kommunikationszusammenhangs hatte. Dies hatte zwei Folgen: Worte wie Bilder erhielten ihre Bedeutung nun nicht mehr im Kontext einer a priori gedachten Ordnung. Bedeutung musste das aus seiner Deutungs-Ordnung gerissene, „mobile“ Schrift- und Bilddokument aus sich selbst gewinnen. Geltungsansprüche des Bildes mussten nun mit bildeigenen Mitteln reklamiert werden. Die Frage Wahrhaftigkeit des Bildes wurde zur Frage nach seiner Abbildhaftigkeit und der Objektivität der Darstellung. ‚Wahrheit’ wurde zum offenen Problem, das durch die Detailliertheit des Dargestellten, den Einsatz bestimmter symbolischer Formen (Zentralperspektive u.a.) und den schriftlichen Hinweis auf die (Augen-) Zeugenschaft des Künstlers gelöst wurde.
„Dies beginnt mit den massenhaft verbreiteten Bildern im Zuge der Reformation. Bilder und Worte traten dabei in ein neues Verhältnis. Worte als arbiträre Zeichen wurden durch Porträts einem Autor zugeschrieben; Schriften, die häufig abstrakten Inhalts waren, wurden an bildlich dargestellte Handlungen zurückgebunden.“ (Schlögl) Das Bildmedium ermöglichte neue Zurechnungen von Worten auf Intentionen (Geist) und Ereignisse (Taten).
Die Transformation der Anwesenheitsgesellschaft, ihre durchdringende Umformung durch die neuen Techniken der Schriftkultur, dauerte bis weit ins 18. Jahrhundert hinein.
Durch die Drucktechnik wurde das Bild zum Abbild. Bedeutung ergibt sich nicht mehr aus dem sozialen Ort des Bildes, sondern wird ortsunabhängig. So wie der Druck die Rede unabhängig vom Redner macht. Wahrheit wird unabhängig vom körperlich Erlebten, wahr ist, was „logisch“ oder berechenbar erscheint oder was in Übereinstimmung mit Schrift-Wissen steht.
Die Transformation der Anwesenheitsgesellschaft in eine „mediale Gesellschaft“, die durchdringende Umformung durch die Drucktechniken der Schriftkultur und der Bildkultur - dauerte in den Städten bis ins 18. Und auf dem Lande bis weit ins 19. Jahrhundert.
Seit dem 19. Jahrhundert entwickeln sich Technologien der authentischen fotografischen Abbilder und dann der authentischen „laufenden“ Bewegungsbilder. Die Geschichte des Telefons zeigt, wie unvorstellbar und sensationell die akustische Fern-Kommunikation den Menschen erschien. Erst mit dem Fernsehen konnten die Menschen wirklich „dabei sein“ an Orten, an denen sie körperlich nicht waren.
Die elektronische Medienkultur ermöglicht eine neue Kultur der „Anwesenheit ohne Körper“. Sie ist rein visuell und akustisch - man riecht nichts und der Körper fühlt nichts. Die elektronische „Anwesenheit” ist eine körperlose Anwesenheit bzw. der Körper ist woanders, etwa wenn er vor dem Bildschirm Popcorn isst. Oder wenn man mit seiner Freundin im Arm Horror-Films anschaut. Die Phantasie anregende mediale Vielfalt und Reiz-Flut fasziniert den Geist der Menschen und konkurriert oft erfolgreich mit den Vergnügen der körperlichen Sinne.
PS: Zum Thema des Sinnenlebens gibt es das wunderbare Buch des Philosophen Coccia, der offenbar aber auch - wie Jean Jacques Rousseau - nicht nach seinen Erkenntnissen lebt, sondern seinem Geist Opfer bringt - und Bücher schreibt. Coccia: „Wir halten uns für rationale Wesen, die denken und sprechen, obwohl leben für uns vor allem bedeutet, die Welt zu sehen, zu schmecken, zu ertasten und zu riechen. (…) Unser Körper ist ganz und gar sinnlich. Wir sind sinnlich in demselben Maße und mit derselben Intensität, wie wir von Sinnlichem leben: Wir sind, für uns selbst wie für die anderen, nicht mehr als eine sinnliche Erscheinung: Unsere Haut und unsere Augen haben eine Farbe, unser Körper hat eine Ausstrahlung und gibt fortwährend Gerüche und Geräusche von sich, wenn wir uns bewegen, sprechen, essen oder schlafen. Wir leben von Sinnlichem, und dennoch lässt sich dies noch nicht einmal auf eine physiologische Notwendigkeit reduzieren. In allem, was wir sind und machen, haben wir es mit Sinnlichem zu tun. Unser tägliches Brot ist nicht die Summe von Ernährungsprinzipien, sondern ein unendliches Spektrum von Gerüchen, eine Realität, die nur in einer bestimmten Färb- und Temperaturpalette existiert. (…) In-der-Welt-sein bedeutet vor allem, im Sinnlichen zu sein, sich in ihm zu bewegen und es fortwährend herzustellen und aufzulösen. Sinnenleben ist nicht nur, was die Empfindung in uns weckt. Es ist zugleich die Art und Weise, in der wir uns der Welt hergeben, die Form, in der wir in der Welt sind (für uns und für die anderen), und das Medium, in dem die Welt für uns erkennbar, bewohnbar, lebbar wird. Nur im Sinnenleben bietet sich die Welt dar, und nur als Sinnenleben sind wir auf der Welt.“ aus: Emanuele Coccia, Sinnenleben (2010)
vgl. auch die Texte über Sprache Denken Mythen M-G-Link Die orale Sprache der Piraha MG-Link Orale Kulturen - Sprache und kulturelles Gedächtnis vor der Schrift MG-Link
Lit.: Rudolf Schlögl, Typen und Grenzen der Körperkommunikation in der frühen Neuzeit, in: Anwesenheitskommunikation, in: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, (2005) S. 547-560
Rudolf Schlögl, Politik beobachten. Öffentlichkeit und Medien in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung, Bd. 35 (2008), Heft 4 pdf
|