Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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I
Medien-
Geschichte

Meine Studienbücher:

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Unser digitales Wir-Ich

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Mediengeschichte im 19. Jahrhundert
 
Neuordnung des Wissens durch Volksaufklärung und Massenpresse

2014/2024

Vier Jahrhunderte nach Gutenberg wurden periodisch hergestellte Druckmedien zu einer Kraft, die das Alltagsleben der Bevölkerungsmehrheit erreichte. Bis ins 18. Jahrhundert hat das „Gefecht gegen den zähen Brei jahrhundertealter Unbildung" wenig Erfolg gehabt. So jedenfalls Rudolf Schenda in „Volk ohne Buch“.  Er schätzt, dass 1770 nur 15 Prozent der deutschsprachigen Bevölkerung „lesefähig” war, hundert Jahre später - 1870 - dann 75 Prozent.

Das „Wörterbuch der deutschen Sprache” von Joachim Heinrich Campe nahm 1809 den damals aktuellen Begriff „Lesesucht” auf und definierte sie als „Sucht, d. h. als die unmäßige, ungeregelte und auf Kosten anderer nötiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen.“

Im 19. Jahrhundert wurde das geschriebene Wort zum einem neuen „Bezugsrahmen, innerhalb dessen Bewusstseins- und Verständigungsprobleme reflektiert wurden.“ (Eric Havelock) Wer nicht schrieb und las, war für das neue Bildungsbrgertum, die „Geistesaristokratie“ (Saul Ascher, 1816) eine Unperson. 

Leonardo Olschki (1919) beschriebt den Übergang vom anschaulichen Denken des Mittelalters zum begrifflichen Denken der Neuzeit aus als Lernen einer neuen Sprache: „Der menschliche Geist musste erst durch jahrhundertelange Erziehung dazu gebracht werden, möglichst ohne Zuhilfenahme des bildhaft Greifbaren folgerichtig zu denken.“ In dem neuen Medium war die Zerstörung der alten gesellschaftlichen Gefüge schon angelegt. „Denn die ‚Botschaft‘ jedes Mediums oder jeder Technik ist die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt.“ (Marshall McLuhan) Die Druckkunst ermöglichte öffentliche Dispute, verlieh jedem, der damit umgehen konnte und wollte, unabhängig von Stand und Rolle „öffentliche“ Macht. Sie entmachtete in einem Jahrhunderte dauernden Prozess am Ende die geistlichen und die profanen Herrscher.

Mit Holzschnitten hatten Druckschriften immer schon ihre Attraktivität zu steigern versucht, die erste Illustrierte - „Illustrated London News” - erschien 1842 mit 32 Holzschnitten auf 16 Seiten. Themen der Bilder waren der Afghanistankrieg, ein Zugunglück in Frankreich, eine Dampfschiffexplosion in Kanada und eine Abbildung von einem bunten Abendball im Buckingham Palace.
1838/39 hatte das das Zeitalter der Fotografie begonnen - mit der Erfindung der Daguerreotypie. Die erste preiswertere und aus der Hand bedienbare Kodak-Rollfilmkamera kam 1888 auf den Markt.

Offiziell gewährte in Deutschland als erstes das Königreich Württemberg 1884 offiziell die Pressefreiheit. Die Presse war in manchen Kolonien des British Empire freier als die in bestimmten Ländern Mittel- und Osteuropas.

1814 führte die „Times of London" als erste Zeitung die dampfbetriebene Schnellpresse ein (1.100 Exemplare pro Stunde). 1846 baute der Brite Augustus Applegath für die Times eine Rotationsmaschine, die 12.000 Drucke pro Stunde schaffte. Mit der Rotationsdruckmaschine waren preiswerte Zeitungen und damit Massenpresse technisch möglich. Die meisten Menschen zumindest in den Städten, viel mehr übrigens in protestantischen Gegenden als in katholischen, konnten lesen. Aufklärung und Volksbildung hatten die tradierten, alten Gesellschaftsbilder soweit verdrängt, dass politische und religiöse Nachrichten sich in ein neues („aufgeklärte”) Bild der Leser von Politik, Staat und Volk einfügen konnten.

Die revolutionären Erhebungen des Jahres 1848 waren dann schon durch ein intensives Wechselspiel von Presse und politischem Prozess charakterisiert. Durch Berichte sprang der Funke europaweit in andere Städte über.

Illustrierte Welt

1833 erschien nach dem Vorbild des englischen Penny-Magazins in Leipzig das „Pfennig-Magazin“. Das Blatt wollte rein kommerziell orientiert, nutzte Bildgrafiken und richtete sich an die Familie. Herausgeber Johann Jacob Weber verstand sein Blatt als Organ zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse. Die Auflage stieg bald auf 100.000 Exemplare – die angesehene politische „Vossische Zeitung“ kam als auflagenstärkste Zeitung nur auf 20.000.

In der Jahrhundertmitte entstanden nach US-amerikanischem Muster in verschiedenen europäischen Ländern wöchentlich erscheinende Familien-Illustrierte, allen voran die Illustrated London News (1842) und in Pariser L'Illustration (1843). Die Leipziger Illustrirte Zeitung (1843) übernahm das Format und oft auch Bilder und Berichte.

Die Niederlage der Revolution beendete 1849 die kurze Blüte der politischen Publizistik. Von einem enttäuschten Revolutionäör gegründet erschien seit 1853 in Leipzig „Die Gartenlaube“, sie wurde zur erfolgreichsten deutschen Familienillustrierte im 19. Jahrhundert. Ihre Auflage stieg von 100.000 (1861) auf 275.000 (1895). Politik war ausdrücklich ausgespart, Lesen sollte unterhalten und bilden. Sie berichte plaudernd und oft humorvoll über medizinische, ethnografische, geografische und technische Themen, nostalgisch malte sie ein Bild einer heilen Welt der Harmonie im Schonraum der Familie. Nach 1871 förderte sie auch die nationale Identitätsbildung. In den Fortsetzungsromanen ging es um Liebe und Ehe, nie um Erotik und Sexualität.

In Deutschland erschienen 1877 insgesamt 3.775 verschiedene Zeitungen in acht Sprachen. Die Gartenlaube musste sich am Ende des Jahrhunderts zunehmender Konkurrenz  erwehren, insbesondere die eher sozialdemokratische Berliner Illustrierte Zeitung“ (BIZ, gegründet 1896) überflügelte sie in der Verkaufszahl. Während die Gartenlaube lange mit Holzschnitten und Zeichnungen arbeitete, startete die BIZ - journalistisch „moderner“  mit dem Abdruck von Fotos und dem bemühen um Aktualität. Der Zeppelin-Flug, das Attentat in Spanien oder das Erdbeben in San Francisco 1906 kamen als Foto-Geschichten.

Die Illustrierten suchten die Sensationen der Moderne, und dazu gehörte die „neue Frau“. Die Berliner Illustrirte Zeitung druckte um 1900 regelmäßig Bilder aus aller Welt von herausragenden Frauen, die angestammtes männliches Terrain eroberten.
Die BIZ startete mit einer Auflage von 40.000, erreichte 1909 schon 400.000, 1915 800.000. Ihren Höchststand erreichte sie 1931 mit fast zwei Millionen. Die Zeitschrift „Die Woche“ (1899) erfand den „Kultus der Persönlichkeit“ über die Portraitfotografie – 1910 betrug der Bildanteil der kaiserlichen Familie 15 Prozent. Auch die Woche richtete sich konzeptionell besonders an Frauen (Dirk Stegmann).

Im 19. Jahrhundert stellten die Medien Erzählungen vom alltäglichen Leben zur Verfügung, die sich sicherlich dem Mehrheitsgeschmack anpassen mussten, wollten die publizistischen Titel Erfolg haben, die aber gleichzeitig für die Kultur der städtischen Unterschichten einen prägenden und kontrollierenden Einfluss hatten. 

Als Vorgänger des Fernsehens knüpfte die illustrierte Presse an die Visualisierung an, die für die Flugschriften der frühen Neuzeit schon wegen des hohen Grades an Analphabetismus selbstverständlich gewesen war. Das erste gedruckte Foto der Pressegeschichte, das Stephen H. Horgan in der New York Daily Graf  1880 abdruckte, zeigte Elendsquartiere in New York. Foto konnten also auch sozialkritische Elemente verstärken.

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts machte die Verbreitung von Nachrichten über  Telegraphenleitungen die Presse aktueller.  Der in Kassel geborene Julius Reuter hat 1851 in London sein Nachrichtenbüro eröffnet. Für das britische Empire waren die Überseekabel besonders wichtig, die Verkabelung wurde mit großen Visionen vorangetrieben. „Es wird eine durch die Gleichzeitigkeit der Correspondenz vermittelte Gleichzeitigkeit der Action weit verstreuter Menschenmassen möglich, die unter Umständen ganz unberechenbare Folgen haben muss, die z.B. einen von einem Willen in kritischer Lage geleiteten Staatskörper wirklich zu einem Staatskörper werden lässt.   (...) Die Städte, die Völker 'erleben' die Ereignisse gleichzeitig, gleich als ob eine Empfindung einen einheitlichen Körper durchzucke. Und wir wissen, Nachrichten erzählt man sich nicht blos, sie wirken auch auf Thun und Lassen der Menschen", so formulierte Karl Knies 1857 in seinem Buch „Der Telegraph als Verkehrsmittel”.
1851 London mit Paris verkabelt, in den 1870er Jahren waren Rio, Kapstadt, Australien, Kalkutta und Peking „verkabelt”.

In England und in den USA wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert Interview und Enthüllungsjournalismus „erfunden“. Auch der Skandal als Kassenschlager war durchaus präsent: Die Prostituiertenmorde von „Jack the Ripper” verhalfen der Zeitung The Star zu großem Erfolg und trugen zum Rücktritt des Polizeichefs bei. Die Skandalberichte, mit denen die Medien - auch aus kommerziellen Gründen - Aufmerksamkeit erwecken konnten, entdeckten die städtische Armut und die Prostitution als Schlüsselloch-Thema. 

Die Politik reagierte auf die Medialisierung

Die Königshäuser verloren zwar an politischer Macht, kompensierten das aber mit medialer öffentliche Präsenz, die sie gern im Alltagsleben auf bürgerlichen Familienbildern zeigten. Kaiser Wilhelm II. war bekannt und beliebt wegen seiner prunkvollen Selbstinszenierungen. Die Illustrierten und populären Massenblätter transportierten die volkstümlichen Inszenierungen der Monarchen oft mit täglichen Meldungen über das Königshaus. Die Fotos der Royals ebneten übrigens auch den Weg für den Siegeszug der Fotografie. Mit der Personalisierung der Monarchen kamen ihre privaten Affären in die Öffentlichkeit.

Mit den Parteien entstanden in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts große Tageszeitungen als Gesinnungs- und Parteizeitungen. Es gab die „preußische“ konservative Presse, die katholische Presse, liberale Zeitungen und sozialdemokratische. Die Zeitung wurde zur Sozialisationsinstanz für die jeweiligen politischen Weltbilder. Wenn kommerziell ausgerichtete Verleger sich von dem Anspruch, Parteizeitung zu sein, befreien wollten, hatten sie große Probleme.
Ein Licht auf die Verhältnisse wirft der Brief des Generalanzeiger-Verlegers Wilhelm Girardet an seinen Chefredakteur im Jahre 1890, der ausführt, es liege nicht „in unserem Interesse, die uns seitens des sozialdemokratischen Comitès zugehenden Berichte puro zu akzeptieren“. Es sollte „dem Comitè“ der Vorschlag gemacht werden, dass die Zeitung „eigene Berichterstatter in jede Wahlveranstaltung entsenden“ könne, die „einen sachlichen, wahrheitsgetreuen Bericht liefert“. 

Mit der Massenpresse entstand der neue Sozialtypus des Journalisten, der zunächst (1789, 1848) oft aus politischem Engagement handelte. Als eigener Beruf entwickelte sich der Journalismus Ende des 19. Jahrhunderts. Als politische „Intellektuelle” wurden einzelne Journalisten einflussreich

Insbesondere für die konservativen und liberalen Parteien, die keinen eigenen Apparat hatten, aber auch für die Sozialdemokratie war die Parteizeitung das wichtigste Bindeglied zur Pflege ihres Milieus. Die Zeitungsschreiber waren oft Aktive aus den Parteien, in Deutschland stellte dieser Berufsstand knapp zehn Prozent der Reichstagsabgeordneten. Die enge Verbindung von Politik und politischen Medien funktionierte vor allem in einer Richtung: Die Massenmedien waren Sprachrohre ihrer politischen Richtung. Pressefreiheit gab es vor allem wegen der Vielzahl parteilicher Zeitungen, die die jeweilige Konkurrenzpartei natürlich kritisch beobachteten.

1899 gelang es dem junge italienische Ingenieur Guglielmo Marconi, Meldungen zu funken - zunächst über den Ärmelkanal, 1901 sogar über den Atlantik. Dass die neue Technik ein neues Massenmedium ermöglichte, den „Rund”-Funk, wurde erst 20 Jahre später deutlich.

Zeitungen entwickelten sich zu einem Medium gesellschaftlicher Selbstbeobachtung.

    siehe auch die Blog-Texte zu diesem Themenbereich:

    Das 19. Jahrhundert - Neuordnung des Wissens durch Volksaufklärung und Massenpresse  MG-Link
    Sensationsjournalismus  
    MG-Link
    Soziologie der frühen Massenpsychologie  MG-Link
    Gerüchte-Kommunikation  MG-Link
    Illustrierte fremde Welt - Welt der Illustrierten   MG-Link
    Lese- und Kino-Lust – das ästhetische Vergnügen der Massen  MG-Link
    Fotografie - Verzauberung durch ein neues Medium   MG-Link
    Film - Faszination der bewegende Bilder um 1900   MG-Link
    Vor dem 18. Jahrhundert - Hören-Sagen-Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit MG-Link
    Frühe „Lesesucht“  MG-Link
    Lese- und Kino-Lust – das ästhetische Vergnügen der Massen  MG-Link
    Panorama und die Sehnsucht nach virtuellen Welten  MG-Link
    Fotografie - Verzauberung durch ein neues Medium   MG-Link
    Illustrierte I: Mode als europäisches Medienereignis,
        das „Journal des Luxus und der der Moden” (1786) MG-Link
    Illustrierte II: Die Gartenlaube (1853) MG-Link
    Über die populistische Schelte „der Journalisten“   MG-Link
    Journalismus am Ende   MG-Link
    Zur Pressefreiheit  
    MG-Link

Texte zur Typologie des Verhältnises von Medien und Macht:

    Das 18. Jahrhundert - Hören-Sagen-Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit Link
    Das 19. Jahrhundert - Neuordnung des Wissens durch Volksaufklärung und Massenpresse    Link
    Das 20. Jahrhundert - Politik und Medien in der Fernsehgesellschaft   Link
    Das 21. Jahrhundert - Politik in der digitalen Gesellschaft   Link