Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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III
Medien
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Zur Soziologie der Massenpsychologie

2024

Die klassische „Massenpsychologie“, stellte der Soziologe Helmut König (in: ‚Zivilisation und Leidenschaften‘, 1972) trocken fest,  sagt mehr aus über ihre Autoren als über die „Masse“. Schon Theodor Geiger hatte den Diskurs über die Masse als „geistesaristokratische“ Hybris kritisiert, der das bildungsbürgerliche Ideal  der autonomen Persönlichkeit zum Maß alles Menschlichen erscheint. (1) Während die „Massenpsychologie“ an der Masse das Eruptive und Triebmächtige heraushebt, will „Massensoziologie“ die Masse als ein „soziales Gebilde“ beschreiben. Masse ist nicht so amorph, zeitlos und subjektiv, unbeschreiblich, unerklärbar, wie die Psychologen behaupten.

Helmut König: „Das aus Ständen, Zünften, Dienst- und Schutzsystemen entlassene bzw. selber aktiv gegen die alten Formen rebellierende Volk, der Pöbel, strömt in die Städte, überflutet sie und stellt nicht nur die ,alte Politik' des 18. Jahrhunderts in Frage, sondern auch die sich neu herausbildende bürgerliche Ordnung. So jedenfalls erleben es die beunruhigten Zeitgenossen.“ Daraus entstehe die romantische Sehnsucht nach der vormodernen, ständischen Gesellschaftsordnung. Die moderne Gesellschaft, so meinen sie, könne sich nur stabilisieren, solange sie Elemente der vormodernen Ordnung für sich einsetzt. (2)

Die frühen Soziologen Gabriel Tarde und Gustave Le Bon in Frankreich und Scipio Sighele in Italien als konservative Vertreter der Intelligenz versuchten, die zahlreichen Rebellionen des großstädtischen Mobs und der Arbeiter in das Bild der bürgerlichen Welt zu integrieren. Die in die Städte gespülten Landarbeiter, die in die alte Ordnung des Ständesystems nicht einzuordnen waren und deren Aufstände jegliche Ordnung zu sprengen schienen, wurde als ungeformte, dumpfe, graue und undifferenzierte Masse der Vielen interpretiert. Die rohe Form der Aufstände gab die Stichworte für ihre massenpsychologische Interpretation.

Erst Theodor Geiger lieferte in seinem Buch ‚Die Masse und ihre Aktion‘ (1926) den Gegenentwurf zu dem „Psychologismus der französischen Schule“ Le Bons. Geiger versteht die „Masse als eine besondere Art von Gruppe“. Der „Massenakt“ sei nicht erklärbar als seelische Verwandlung im „Massenauflauf“. Ein „Massenakt“ sei eine sinnliche Erscheinungsform, Ergebnis eines vorausgegangenen kollektiven sozialen Schicksals – etwa der Lage der Arbeiterklasse. (4)

Le Bons Irrtum bestehe darin, so Geiger, daß er „Massenerscheinung als einen Siegestaumel der animalischen Instinkte … erklären will“. Hinter der Massenpsychologie von Sighele, Tarde oder Le Bon steckt die Auffassung, dass die Gesellschaft nicht, wie die Ökonomen behaupten, durch den Austausch von Produkten und Dienstleistungen zusammengehalten wird, sondern durch seelische Prozesse. Gabriel Tarde (5) macht den psychologischen Mechanismus der gegenseitigen Nachahmung zur Basis einer umfassenden Theorie der Vergesellschaftung.

Das „Weib Masse“ und die Angst vor der Emanzipation der Frau

Wir sehr sich in der Massenpsychologie die Ängste der Theoretiker widerspiegeln, zeigt insbesondere die Metapher des „Weiblichen“ für die Masse. Die Massenpsychologen assoziieren das Archaische, das Leidenschaftliche und Unzivilisierte, das sie in den Massen sehen, mit Bildern und Phantasien vom Wesen der Frau. Sie behaupten dabei, dass die Frauen in Massenaktionen eine führende Rolle spielen würden. Frauen seien die leidenschaftlichsten Teilnehmer und spielten oft die Rolle der Antreiber und Scharfmacher. (Das stimmt vielleicht für die vormodernen Hunger-Revolten, nicht aber für die Massen-Revolten des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts.)
Der italienische Kriminologe Scipio Sighele formulierte 1891: „Die Beobachtung, daß das Weib, wenn es verderbt ist, schlimmer ist als der Mann, ist schon öfters... bezüglich der individuellen Kriminalität gemacht worden. Man kann sie bezüglich des Kollektiv-Verbrechens bestätigen… Die Weiber begleiten... nicht nur die Männer, sondern sie drängen sie noch zu Scheußlichkeiten und übertreffen sie durch Frechheit und Grausamkeit.“

Tarde nimmt (1883) diesen Charakter der Frauen als Argument, ihnen die Gleichberechtigung zu verweigern und sie auf die Welt des Haushalts und des Privaten einzuschränken. Le Bon (1890) erkannte die niedere Stellung der Frauen an der Form ihres Schädels. Gleichberechtigung und mehr Schulbildung  würde aus den Frauen „Feinde der Männer und der gesellschaftlichen Ordnung“ machen. Und Le Bon postulierte: Wenn die Gesellschaft den Frauen ein ungebundeneres Leben erlauben würde, wenn man Frauen machen ließe, was sie wollten, dann würde das zerstörerische Wesen der Frau sofort deutlich werden und sich in einer Vielzahl krimineller Akte niederschlagen. An den Massen und der verderblichen Rolle, die die Frauen in ihnen spielen, könne man ablesen, wohin es führt, wenn man die Frauen aus ihrem domestizierten Dasein ins öffentliche Leben entlassen würde. Es nicht so weit kommen zu lassen, darin bestehe gerade die Basis und die große Leistung der zivilisierten Gesellschaft.

Und wenn die beobachtbare Realität mal anders ist, kann das der Theorie nichts anhaben. Tarde formuliert: „Aufgrund ihrer Launenhaftigkeit, ihrer Fügsamkeit, ihrer Leichtgläubigkeit, ihrer abrupten Stimmungswechsel von Raserei zu Zärtlichkeit, vom Wutanfall zum Gelächter ist die Masse weiblich, sogar wenn sie, was normalerweise der Fall ist, von Männern gebildet wird.“ In einem anderen Text ergänzt Tarde die Ähnlichkeit von Masse und Weib mit Bestimmungen aus dem Reich der niederen Tiere und der Mythologie. Eine Masse, so schreibt er in ‚Les Crimes des foules‘, „ist immer, auch bei den zivilisiertesten Völkern, ein weibliches Untier oder ein weiblicher Faunus, und schlimmer als das ein leidenschaftlicher und wahnsinniger Spielball der Instinkte und Gewohnheiten, oft ein niedriges Tier, ein wirbelloses Tier, ein monströser Wurm mit diffuser Sensibilität, der mit ungeregelten Bewegungen den Eingebungen seines Hauptes folgt“ (1892).

 

Ausführlich dokumentiert Emile Zola in seinem Roman „Germinal“, wie in der Phantasie der männlichen Autoren die Destruktivität und Grausamkeit der Massenaktionen auf das Konto der Frauen geht – bis hin zur Kastrationsangst. Eine Szene aus dem Roman: „Von Blutrausch erfaßt, eilten die Weiber herbei... Sie umringten den noch warmen Leichnam, beschimpften ihn unter lautem Hohngelächter, nannten seinen zerschmetterten Kopf eine dreckige Visage und johlten dem Toten den so lange verhaltenen Haß ihres elenden Hungerlebens ins Gesicht... Die Beschimpfungen nahmen zu. Der Tote aber lag steif und regungslos auf dem Rücken und starrte mit weiten, leeren Augen in den unendlichen Himmel, von dem sich die Nacht niedersenkte... Es hatte ihm kein Glück gebracht, daß er die Armen ausgehungert. Doch die Weiber hatten sich noch für etwas anderes an ihm zu rächen. Witternd wie Wölfinnen umkreisten sie ihn und suchten nach einem Schimpf, nach einer entsetzlichen Roheit, die ihnen Erleichterung verschaffen würde. Da ertönte die grelle Stimme der Brule.
‚Man muß ihn kastrieren wie einen Kater!‘ - ‚Ja! Ja! Los, auf den Kater! Los, auf den Kater! - Er hat's zu  toll getrieben, der Schweinehund!‘ Und schon knöpfte ihm die Mouquette die Hose auf und zog sie herunter…“ Zolas „Germinal“ fand sofort nach Erscheinen viel Resonanz und wurde in mehreren Zeitungen als Fortsetzungsroman abgedruckt.

Massenkonsum

Der Konsumkritiker Vance Packard ist ein später Vertreter der alten Massenpsychologie. Seine Enthüllung der „hidden persuaders“ (1957, dt. 1958) handelt von den verborgenen Überredern, von den Schleich-Werbern, die die „unterschwelligen“ Reize ihrer willenlosen Opfer kennen und bedienen und damit die Masse manipulativ zufrieden stellen. Das Buch erschien sieben Jahr nach David Riesmans „The lonely crowd“, das erst 1956 ins Deutsche übersetzt wurde, und die Wirksamkeit der Massenintegration über Konsum beschreibt. Die Verlockungen des Konsums machen den Menschen zu einem außengeleiteten Massen-Individuum. Die Identifikation durch Beruf wird ersetzt durch den „job“, das Einkommen zählt und die arbeitsfreie Zeit - aus der Muße wird das „week-end“. Aus Politik wird eine Show, der Souverän – das wahlberechtigten Volk -  vergnügt sich nach dem Muster der Fernseh-Unterhaltung. Die Massen sind loyal – solange sie konsumieren können. Erstmals gelingt dem Kapitalismus eine Integration ohne vorkapitalistische soziale Bindungen.

     

    Anm.:
    1) Schon René König hatte 1956 formuliert, in der Massenpsychologie der Jahrhundertwende zeige sich die „psychische Verfassung der Urteilenden, die aus der Beschränktheit einer spezifischen sozialen Lage heraus weder fähig noch willens sind, wirklich das Ganze der Gesellschaft mit der Mannigfaltigkeit ihrer Schichten und Gesetzlichkeiten wahrzunehmen, sondern auf ihnen fremde Lebensformen nur mit unmutigem Affekt reagieren“. Es sei bedauerlich, dass die Rede von der Massengesellschaft durch so „oberflächliche Kulturkritiker wie José Ortega y Gasset“ geprägt sei. Dessen ‚Aufstand der Massen‘ erschien auf Spanisch 1929, in deutscher Übersetzung 1931. „Die Massen müssen geknechtet werden, das ist ein Gesetz der sozialen Physik“, formulierte Gasset wenige Jahre vor dem Durchbruch des Faschismus in Spanien.
    2) Helmut König, Von der Masse zur Individualisierung. Die Modernisierung des Konservatismus in der Bundesrepublik  (Leviathan , 2‘1988, S. 252-275)
    Der alte Begriff war der des „Pöbels“ gewesen. Schon Hegel hatte in der ‚Philosophie des Rechts‘ 1821 über den Ursprung des ‚Pöbels‘ eher soziologisch geschrieben: Er sah im Pöbel die ‚abhängigen Klassen‘ in der bürgerlichen Gesellschaft, die ‚unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise‘ abgesunken seien. Kennzeichnend für den Pöbel sei „die  Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Fähigkeiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft“. Wobei Hegel konkretisierte: „Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.... Somit entsteht im Pöbel das Böse, daß er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden, als sein Recht anspricht. … im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird. Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.“
    Bei Karl Marx wird aus dem Hegelschen „Pöbels“ das Proletariat. Bei Marx und auch bei dem Konservativen Lorenz von Stein handelt es sich allerdings keineswegs um einen ungestalteten Bodensatz der Gesellschaft, sondern um eine Folgeerscheinung der Industriewirtschaft.
    3) Als einer der ersten Soziologen räumt Georg Simmel der Masse einen Platz in den „Formen der Vergesellschaftung“ ein.  Eine Rolle spielt die Massenpsychologie auch in Robert Michels' Buch ‚Zur Soziologie des  Parteiwesens in der modernen Demokratie‘ (1911). Michels spricht sogar davon, daß es sich bei seiner Analyse um ‚historisch angewandte Massenpsychologie‘ (so im Vorwort zur zweiten Auflage des Buchs von 1924) handele.
    4) Ganz freimachen kann sich auch Geiger nicht von massenpsychologischen Spekulationen. Er schreibt: „Wir können nicht von einer eigentlichen Herabminderung oder Steigerung des vermassten Individuums sprechen. Das Individuum bleibt mit allen seinen Fähigkeiten und Unfähigkeiten erhalten; aber soweit es an einem Kollektivakt beteiligt ist, haben seine Ichqualitäten keine Bedeutung und sind daher außer Funktion. Statt dessen wirken die, ‚unbewußt‘ genannten, Wirqualitäten des Individuums.“ (Die Masse..., S. 185). Die Masse hat nicht die Kraft, das zivilisierte Individuum in ein barbarisches Triebwesen zurück zu verwandeln, aber wie Le Bon ist auch Geiger der Überzeugung, dass es ein ‚seelisches Subjekt Wir‘ gibt, eine „Wir-Qualität des Individuums”:  „Das Wir aber ist einfach; es ist  unreflektiert, es handelt nicht, sondern es wirkt - beinahe hätten wir gesagt: ‚es geschieht‘.“ Das Ich dagegen „denkt, fühlt, handelt. Es apperzipiert und reflektiert“.  Das ‚Wir‘ manifestiert sich im Kollektiverlebnis.
    5) Tarde ist in der Soziologiegeschichte mit seinem Buch ’L'opinion et la foule’ (1901) der erste, das Phänomen Masse auf die Wirkung von Massenmedien bezogen hat.
     

    siehe auch meine Texte zu:
    Konsumismus    MG-Link
    Konsum statt Arbeit    MG-Link