Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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III
Medien
-Theorie

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Die einsame Masse

2024

Im Jahre 1950 veröffentlichte der Chicagoer Soziologe David Riesman (1909-2002) zusammen mit anderen sein Buch „The lonely crowd“, eine Studie über den modernen (amerikanischen) Sozialcharakter. Das Individuum tut auch in der angeblich so anonymen Großstadt das, was seine „peer group“ tut - alle, die ihm wichtig sind. Riesman vergleicht diesen „außengeleiteten“ (other-directed) Persönlichkeitstyp mit dem „traditionsgeleiteten“ Menschen, der in sein (dörfliches) soziales Umfeld fest eingebunden ist, und mit dem bildungsbürgerlichen Ideal des „innengeleiteten“ Menschen, der feste Prinzipien und Bindungen nicht einfach familiär übernimmt, sondern selbst und stärker für sich allein entwickelt.

Worum geht es? Das aus Ständen, Zünften, Dienst- und Schutzsystemen entlassene Volk war in die Städte geströmt, so beschrieben die beunruhigten Zeitgenossen und die konservativen Soziologen die „Massengesellschaft“ des frühen 20. Jahrhunderts. Der „Pöbel“ ist für gute vernünftige Argumente nicht erreichbar. Wie sollten solche Leute vernünftige Wahl-Entscheidungen treffen, als die Demokratie sie zu gleichberechtigten Staatsbürgern erklärt hatte? In Bremen gab es bis 1918 noch ein „Achtklassenwahlrecht“, damit die Mehrheit der einfachen Leute nicht die Mehrheit der Stimmen  bei Wahlen hatte. „Wähler mit akademischer Vorbildung“ bildeten die erste Klasse, „Kaufleute“ die zweite und dritte. Die moderne Massengesellschaft, so das konservative Credo der Demokratie-Kritiker, kann nur dadurch stabilisiert werden, dass sie Elemente der vormodernen Ordnung wiederherstellt. Als Bändiger der „Massen“ hatten letztlich Stalin und Hitler Erfolg.

Was die deutschen Kultursoziologen die Gleichberechtigung der städtischen Arbeiter und Angestellten mit Naserümpfen unter dem Stichwort „Massenkultur“ oder „Massenpsychologie“ analysierten, beschrieb Riesman als ein Charakteristikum der Moderne – nur in den USA konnte so eine Sichtweise zum Bestseller werden und die europäischen Soziologen rieben sich verwundert die Augen.

Der außengeleitete Charakter, so Riesman, richtete sich nach dem, was gerade in seiner „peer group“ Trend ist, um das Gefühl zu haben, dazuzugehören. Auf der Suche nach dem eigenen Geschmack sieht er sich um, was die Anderen anziehen, sagen oder tun und konsumiert die Bilder der Massenmedien vom „normalen“ Leben. Gleichzeitig formuliert er den Anspruch auf. Die Konsumindustrie produziert auch Produkte für das Bedürfnis, ein bisschen anders als die Anderen zu sein. Es sind Kleinigkeiten, die die Unterschiede dann ausmachen, Riesman nennt es „marginal differentiation“. Der außengeleitete Mensch ist ‚Weltbürger‘, stellt Riesman fest - er ist „in gewissem Sinne überall und nirgends zu Hause; schnell verschafft er sich vertraulichen, wenn auch oft nur oberflächlichen Umgang und kann mit jedermann leicht verkehren.“

Der Kölner Soziologe Helmut Schelsky hat 1956 das Vorwort zu der deutschen Ausgabe von „Lonely Crowd“ geschrieben und darin seine Beobachtungen der deutschen Wirklichkeit bestätigt gesehen. Schelsky hatte schon 1953 festgestellt, dass die Konsum- und Unterhaltungsgüter zur Erzeugung eines „gleichförmigen Sozialbewusstseins“ beitragen würden. An die Stelle der Klassenspaltung träten „verhältnismäßig einheitliche Lebensstile“ einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Ursache sei der „universale Konsum der industriellen und publizistischen Massenproduktionen“. Die deutschen Jugendlichen hätten sich von der Politisierung alten Stils gelöst und seien zunehmend freie und tolerante Menschen geworden.

Die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ bedeutet für den Konservativen Schelsky, dass  es einen neuen Mechanismus sozialer Stabilisierung gibt, nachdem die alte ständisch gegliederte, vormoderne Sozialordnung unter die Räder der Industrialisierung gekommen und zerfallen war.

Riesman, so stellt Schelsky fest, bringe gute Argumente dafür, dass „Apathie“ und „Desinteresse“ an der Politik sich verbreiten und zu einer „Verbraucherhaltung gegenüber der Politik“ führen würden. Jahre später hat der amerikanische Soziologe Erving Goffman beschrieben, dass es für den Großstadtmenschen selbstverständlich sei, den vielen Fremden mit „höflichen Achtlosigkeit“ zu begegnen. Während im Dorf jeder als unhöflich gilt, der einem anderen auf der Straße den Gruß verweigert, würde dieses Verhalten in der Großstadt als krankhaft gelten. Die Großstadt ist eine Gesellschaft von gegeneinander gleichgültigen Menschen – eben von Einkaufsbürgern.

In der Tradition der „Kritischen Theorie“ wurde die Tendenz zur Konsumgesellschaft wie in der traditionellen konservativen Tradition verdammt. Arnold Gehlen beklagte eine „Übersteigerung des Konsums, der Daseinsentleerung und des Persönlichkeitsverlustes".

Günther Anders schrieb, dass die Menschen atomisiert seien, aber dennoch identische Produkte des Massenkonsums und der Massenmedien konsumierten. Die Konditionierung sei „so haltbar, dass wir, die so Konditionierten, wieder ins Freie, sogar ins Millionengewimmel, entlassen werden können“. Das Sinnbild dafür war der Straßenverkehr: Millionen einzelner bewegen sich streng geregelt und diszipliniert auf den ihnen vorgezeichneten Bahnen. Alexander Mitscherlich und Margarete Mitscherlich bemerkten 1967 kritisch, in Westdeutschland der sechziger Jahre herrsche Gleichgültigkeit und Apathie gegenüber der Politik, diese Apathie sei durch die „gleichzeitige hochgradige Gefühlsstimulierung im Konsumbereich“ verursacht worden.


Die Bedeutung des Konsums für die Integration von Gesellschaft galt übrigens auch für die Menschen im angeblich „realen Sozialismus“. Dass 1989 die Mauer fiel, hatte viel damit zu tun, dass den Ostdeutschen das Recht auf freien Konsum wichtiger war als das Recht auf Arbeit und die sozialistische staatlicher Grundsicherung.

Gleichgültigkeit und soziale Distanz tragen in der modernen städtischen Konsumgesellschaft zur Befriedung und Integration bei, so Riesman. Wenn in der Konsumgesellschaft ein „job“ wird, aus der kontemplativen Muße das „week-end“, aus der Ehe eine „Beziehung“, dann interessiert Politik vor allem, wenn sie als „show“ dargeboten wird. Oder wenn es um handfeste eigene Interessen geht. Dann erwartet der moderne Mensch vom Staat die Garantie seiner materiellen Wohlfahrt – genau das, was die Politik den Konsumbürgern in den Wahlkämpfen versprochen hat: „Wohlstand für alle“. Dieses christdemokratische politische Credo unterscheidet sich in nichts vom sozialdemokratischen Keynesianismus. Die Politik nährt die Illusion der Gesamtverantwortung des Staates für das Wohlergehen der Konsumbürger. 

David Riesman war ein klassischer Außenseiter gemessen an den europäischen akademischen Standards: Er war Sohn jüdischer Auswanderer, sein Vater war Medizinprofessor, er studierte Jura und arbeitete lange als Jurist, zuletzt bis 1943 als Staatsanwalt in New York. Er wurde Professor für Soziologie an der Universität von Chicago, und schon nach wenigen Jahren - 1950 - veröffentlichte er seinen Bestseller.
Ein typischer deutscher Soziologe ist dagegen der Zeitgenosse Friedrich H. Tenbruck (1919-1994). Der Wandel der Gesellschaft, so Tenbruck Anfang der 1960er Jahre, habe unsichere Subjekten hervorgebracht:
„Die vielbesprochene Unsicherheit der modernen Jugendlichen, wie des Menschen überhaupt, ist zutiefst Folge des Konturenverlustes seiner sozialen Rollen“. Tenbruck meinte eine „Destrukturierung des personalen Kerns" zu erkennen, einer „Zerfaserung des Selbst“. Solche scheinbar wissenschaftlichen Feststellungen sind aus einer konservativen Sorge über den Zerfall aller kulturellen Orientierungen motiviert. In der Kritik an Riesman kann Tenbruck gleichzeitig sozialwissenschaftliche Standards einfordern, siehe https://www.jstor.org/stable/41154985

    siehe auch meine Blog-Texte über
    Macht des Konsum   MG-Link
    Realer Konsumismus - das war die DDR  MG-Link
    Konsum statt Arbeit  MG-Link
    Linke Konsumkritik von rechts  MG-Link
    Krisenkommunikation in der Weimarer Republik   MG-Link
    Konsumismus  MG-Link