Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

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zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

 

2 AS Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen
ISBN 978-3-7418-5475-0

2 VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges
ISBN 978-3-7375-8922-2
 

POP 55

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt
ISBN: 978-3-752948-72-1
 

2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne
ISBN 978-3-746756-36-3
 

 

Gerüchte-Kommunikation

Wirklich zuhause  ist der Mensch eigentlich in einem „Mesokosmos“,
das heißt in seiner kleinen Welt, die er weitgehend intuitiv erfassen kann und in dem seiner Erfahrung nach jedes Ereignis von einer handelnden Person bewirkt wird.
Das ist die Wirklichkeits-Wahrnehmung der populären Alltags-Kommunikation. 
Mit der Schriftkultur hat sich daneben eine andere Interpretation der Wirklichkeit   entwickelt, in der Logik wichtiger ist als intuitive Erfahrung. Für diese herrschaftliche Wahrheit erscheint der Horizont der populären Wirklichkeits-Wahrnehmung als falsche Wahr-nehmung, als „Gerücht” oder „Verschwörungstheorie”.

2021

Die Vorstellung, die Welt sei durch unseren Verstand oder unsere Sinne ganz klar wahrnehmbar, unmittelbar und selbstverständlich, ist eine Illusion, die das Gehirn dem Bewusstsein vorspielt. Diese Illusion ist sehr „praktisch“ und lebensdienlich. Mit zu vielen Uneindeutigkeiten könnten wir nicht leben. Das Gehirn ist kein Computer, der alles speichert, sondern ein kompliziertes Netz aus Milliarden von Nerven, die mit intuitiven Interpretationen die Voraussetzung für Entscheidungen liefern müssen. Unser Gehirn sortiert Wahrscheinlichkeiten und spielt dem Bewusstsein gleichzeitig Eindeutigkeiten vor. Der Alltagsverstand hilft uns bei der Orientierung im täglichen Leben, auch wenn seine Arbeitsweise ein Ergebnis „evolutionärer Flickschusterei“ ist. Aber auch das gelehrige Wissen der Schriftkultur kann dem Bewusstsein seine Eindeutigkeiten nur vorspielen um den Preis, dass vor vielen Aspekten der ambivalenten, mehrdeutigen und komplexen Welt abstrahiert wird. 

Das Gerücht als Kampfbegriff

Das Wort „Gerücht“ ist keine neutrale Bezeichnung eines Phänomens, sondern eine polemische. Gerüchte sind falsch und schlecht. Das Wort Gerücht ist ein Kampfbegriff. Da definieren einige, was Wahrheit ist, und setzen alle anderen durch den Begriff des „Gerüchtes“ ins schlechte Licht.

Meistens steckt hinter dem Konflikt „Wahrheit gegen Gerüchte“ ein Herrschaftskonflikt. Ein Gerücht sei eine „unverbürgte Nachricht“, definiert Wikipedia (Abruf 29.11.2021), als ob man zwischen Information und Gerücht, zwischen wahr und falsch immer eine scharfe Trennungslinie ziehen könnte. Wer soll eine Nachricht verbürgen? Die Träger des Herrschaftswissens? Karriere als Gerücht machen normalerweise Behauptungen, bei denen nicht einfach zwischen wahr und falsch unterschieden werden kann. Da hilft eben nur die abwertende Bezeichnung „Gerücht“.

Gerüchte verbreitet das dumme Volk, das an Geister glaubt und nicht logisch denken kann. Einfache Leute interpretieren Ereignisse, die sie nicht vernünftig deuten kann, mit ihrem Bauchgefühl und ihrem begrenzten Erfahrungswissen. Die populäre Alltagskommunikation funktioniert nach einer Art der pragmatischen Flickschusterei: Die Wörter, Sätze und Gedanken müssen nicht einer formalen Logik folgen, sondern an Lebenserfahrungen anschließen. Nur solche Gerüchte verbreiten sich wie ein Lauffeuer, die einen bestimmten Sinn ergeben. Gerüchte stellen Wahrscheinlichkeiten her und bestätigen sie. Die Personalisierung als mentale Bewältigungsstrategie ist ein Muster, das jeder aus der Gruppendynamik seiner eigenen Sippe kennt. 

Gerüchtekommunikation hat große kulturelle Relevanz, weil über Gerüchte immer ein „Bauchgefühl“ in die Geschichten hineinkommt: Gerüchte transportieren intuitiv-emotional bedeutsame Botschaften. In den Gerüchten gilt nicht die formale Logik und es gelten nicht die Gesetze der Naturwissenschaften.  

Bei unbegreiflichen Vorgängen – Krankheit, Tod, Naturgewalt – haben die Menschen unterstellt, dass hinter diesen unbegreiflichen Vorgängen besondere Kräfte und Wesen stecken müssten. Diesen höheren Wesen konnte man sich unterwerfen – sie anbeten, jeweils „gute“ höhere Wesen gegen die „schlechten“ zu Hilfe bitten oder besänftigen – durch Opfergaben. Diese Weltsicht ist ungeheuer praktisch, sie ermöglichte ein Handeln.

Der Kampf der guten Mächte gegen das Böse, das Wirken des leibhaftigen Satans und die Fürsprache der gnadenreichen Maria bei dem zürnenden Gott – die Geschichte der christlichen Figuren für die Bewältigung des unbegreiflichen Schicksals würden heute als „Verschwörungstheorien“ gelten.

In einer Welt, in der es als höchste Wahrheit gilt, dass alle Menschen nur auf die Wiederkehr eines Messias warten können, egal ob jüdisch, christlich oder islamisch, sind Gerüchte eine elementare Form der Wahr-nehmung der Welt. Mit dem diskreditierenden, modern, „aufgeklärten“ Verständnis von Gerücht kann man die Welt der vormodernen Wahrheiten nicht begreifen. In oralen Kulturen war die Erfahrung jedes Bauern der Maßstab und dann gab es die höhere Weisheit der Herrschenden. Die Priester und die irdischen Herren waren die Richter in den kleinen Streitigkeiten, die entschieden, was wahr ist und was unwahr. Nach diesem Muster war der höchste Richter der wiederkehrende Messias.

Gerüchte sind oft gefühlte Antworten auf Fragen, die viele bewegen, sie verbreiten sich umso schneller, je größer das „Vakuum“ in der offiziellen Herrschafts-Kommunikation ist und je mehr wichtige Fragen logisch unbeantwortet bleiben. Wo Menschen das Gefühl haben, falsch oder unvollständig informiert zu werden, blühen Gerüchte als Misstrauensbeschleuniger. Trotz der Jahrhunderte alten Diskreditierung bleiben Gerüchte eine äußerst effiziente Form von Kommunikation – mit geringem Aufwand kann große Wirkung erzielt werden. Deswegen verbreiten  auch Machtinhaber gezielt Gerüchte gegen Konkurrenten.

Gerüchte beziehen sich gewöhnlich auf den privaten Klatsch und Tratsch, harmlose Gerüchte wie bösartige Gerüchte. In der privaten Sphäre kennt sich jeder aus und man traut anderen vor allem das zu, was man selbst gern machen würde. Gerüchte bestätigen so moralische Leitplanken, stabilisieren die Gemeinschaft, indem sie Abweichungen stigmatisieren.  In der Regel geht es beim Klatsch um die kleinen Geheimnisse des Alltags. Dass vor allem Frauen beim Waschen an den Brunnen „klatschen“, war auch die Überzeugung von Martin Luther. Klatsch und Tratsch als eine Form der Gerüchtekommunikation gilt als erstes Thema der menschlichen Sprach-Kommunikation. (MG-Link)

Gerüchte über wichtige Autoritätsfiguren haben oft unmittelbar politische Bedeutung, sie sollen schwer erklärliche Vorgänge menschlich plausibel machen. Weil die Menschen, die Gerüchte verbreiten, gewöhnlich zum eigenen Vorteil handeln, Menschen in öffentlichen Ämtern durch Gerüchte oft unterstellt, dass sie weniger aus selbstlosen und klugen Überlegungen handeln als zum eigenen privaten Vorteil. Politische Gerüchte stellen die offiziell vorgetragene Motivation infrage. Auf jeden Fall erklären Gerüchte komplexe Prozesse mit schlichten menschlichen Alltags-Motiven und integrieren sie in plausible Weltbilder.

Wenn zu den stimmigen Weltbildern auch große Hoffnungen gehören oder Wünsche,  dann können Gerüchte wie Tagträume das Erhoffte in die Sphäre des Möglichen oder möglicherweise Wirklichen hinein holen. Die religiösen Visionen gelten den einen als Auszeichnung der Heiligen, ihren Verächtern als Gerücht.

Gerüchte werden gern unter mutmaßlich Gleichgesinnten weitererzählt, sie bestätigen Bauchgefühle und sichern so den sozialen Zusammenhalt. Gerüchte brauchen  immer einen Nährboden, d.h. ein emotional verankertes Interesse.

Wie kam die Logik in die Welt?

Aber wie kam die nüchterne Logik in die Welt? Die Denkgesetze der Logik haben die griechischen Philosophen  nicht aus ihrem Alltagsleben gewonnen, sondern beim faszinierten Blick auf die Sterne entwickelt. Nur da gibt es reibungslose, ideale formen. Zwei ist mehr als eins, aber nur in der Logik, nicht unbedingt bei den Kartoffeln, da gibt es dicke und kleine.

Wahrheit ist also auch ein Kampfbegriff – gegen die Unwahrheit. Wichtig für die vormoderne Wahrheits-Auffassung ist, was Menschen körperlich erfahren haben. Das abstrakte Denken operiert dagegen mit Begriffen, die ohne Erdung in der sinnlichen Wahrnehmung sind. Begriffe müssen von personalisierenden Assoziationen getrennt werden, „die Wahrheit“ wird ohne die Göttin der Wahrheit denkbar, „die Furcht“ ohne den entsprechenden Dämon. Das Böse ist immer der böse Dämon. Dies korrespondiert mit der Entwicklung neuer sprachlicher Strukturen als Folge der griechischen Schriftkultur, darauf hat der Altphilologe Bruno Snell hat 1946 in seinen „Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen“ hingewiesen.

Die Schrift wird zur Quelle für „Undinge, sie bietet die Möglichkeit, Worte zu bilden, für die es keine greif-bare Entsprechung gibt. Der Satz „Löwen sind Katzen“ ist ein Beispiel für die systematisierenden Folgen der Schriftsprache. Die Worte haben keinen sinnlich erfahrbaren Inhalt, weil wir gewohnt sind, Katzen zu streicheln und Löwen zu fliehen. Der „Kreis“ ist so ein abstrakter Begriff. Es gibt verschiedene Gegenstände, die rund sind wie die Sonne, ein Rad und einen Apfel kann man anfassen, aber einen „Kreis“ kann man nicht be-greifen.

 

Die Differenzierung der Schriftsprache ging mit dem neuen Denken einher. Adjektivische Metaphern etwa, mit denen Stimmungslagen differenziert werden können, spielten im Frühgriechischen eine geringe Rolle. Es gab nur die Licht-Metapher: Was groß, schön und edel war, war hell. Das galt auch für die Freude und das Glück. Dunkel war die Angst, das Unglück, die Trauer, der Tod.

Das, was später zur Sphäre des Geistes wurde, war nach Analogien der Körperorgane und ihrer Funktionen bezeichnet. Das „Wissen" ist ein Gesehen haben, das „Erkennen" ein Sehen, das „Verstehen" bleibt an das „gehört haben“ gebunden.

Die vor-logische Sprache des Homer

Von der mündlichen Sprache vor der Erfindung der Schrift haben wir keine Zeugnisse – außer den Texten, die die alte mündliche Erzähltradition weitgehend authentisch aufgeschrieben haben. Daher ist für diese Fragestellung Homer so wichtig. Die Dichtung von Homer kennt noch keine sprachlogischen Relation, keine Präpositionen und Konjunktionen, die Haupt- und konsekutive Nebensätze nach Aussagen von Ursache und Folge gliedern. Der Tod ist nicht die Folge der Krankheit, sondern die Intention eines Gottes. Furcht tritt als Daimon auf, als Scheucher, Phobos. Die Sprache des Homer war keine Sprache der Abstraktionen, sie hatte eine Fülle von Bezeichnungen aus dem Konkret-Sinnlichen. Es gibt kein Verständnis für dinghafte Organe, sondern nur ein Reden über seine Funktionen. So gibt es bei Homer im neunten vorchristlichen Jahrhundert zum Beispiel für das Sehen viele verschiedene Worte: Das Strahlen des Auges konnte durchdringend sein wie die Sonnenstrahlen, „scharf" wie die Waffe, die alles durchdringt. Ein anderes Wort beschrieb den sehnsuchtsvollen Blick, wieder ein anderes das „Glotzen" oder „Starren", das Gaffen mit offenem Mund. Weinend zur Mutter blicken ist für Homer ein anderes Sehen als das „Umsichblicken". Der „Seher“ war einer, der höhere Weisheiten kennt. Wahrheit wurde „gesehen", „geschaut“. Bruno Snell erklärt: „Die frühen Verben des Sehens fassen die Tätigkeit von ihren anschaulichen Modi aus, von den damit verbundenen Gebärden oder Gefühlen.“

Erst die Entwicklung von Konjunktionen, Präpositionen und Adverbien zeigen und ermöglichen ein Bewusstsein für logische Relationen und Kausalität und sind Begleiterscheinungen von Schriftkultur. Dasselbe gilt für die Unterscheidung von Aktiv und Passiv und für die Bildung von allgemeinen Begriffen und Abstraktionen. 
Einen ganzen Abschnitt widmet Snell dem bestimmten Artikel. „Es ist z.B. nicht abzusehen, wie in Griechenland Naturwissenschaft und Philosophie hätten entstehen können, wäre nicht im Griechischen der bestimmte Artikel vorhanden gewesen. Denn wie kann wissenschaftliches Denken solcher Wendungen entraten wie ‚das Wasser’, ‚das Kalte’, ‚das Denken’? Wie hätte man das Allgemeine als ein Bestimmtes setzen, wie hätte man etwas Adjektivisches oder Verbales begrifflich fixieren können, wenn der bestimmte Artikel nicht die Möglichkeit geboten hätte, solche ‚Abstraktionen’, wie wir sagen, zu bilden?“ Bei Homer bedeutet „das" Pferd immer ein bestimmtes, einzelnes Pferd.

Die griechische Vorläuferin des Gerüchtes ist - bei Homer - „Pheme“.  in der Ilias steht sie für den Ruhm, der als Bote des Zeus das griechische Heer begleitet, in der Odyssee verkörpert er das Gerücht. Nach einem epischen Lehrgedicht von Hesiod, das um 700 v.u.Z.) entstand, ist „Pheme ihrer Natur nach böse, leicht, oh so leicht aufzulesen, aber schwer zu tragen und kaum mehr abzulegen. Sie verschwindet nie völlig, sobald sie großgeredet ist von der Menge. Tatsächlich ist sie eine Art Göttin.“

Da im antiken Denken die Motive der Menschen in das Handeln von Göttern projiziert wurden, erschienen Pheme oder Fama als geflügelte Göttin. Das Gerücht war weiblich und verführerisch, oft abscheulich, jedenfalls bei den männlichen Dichtern. Fama hat aufmerksame Augen und Ohren, sie schläft nicht, ihr entgeht nichts. Sie redet aus den Mündern der Menschen, verbreitet gute und schlechte Nachrede. Mit „rumor“ bezeichnet das Lateinische ein Unruhe stiftendes Gerede. Die „rumores“ sind die Diener der Fama.

Gerüchte-Weltbilder der Legenden

Das populärste und am weitesten verbreitete Buch im Mittelalter war nicht die Bibel, sondern „Legenda Aurea“, die Goldene Legende. Der Dominikanermönch Jacobus de Voragine hat um 1270 aufgeschrieben, was an Heiligen-Legenden im Umlauf war. Das Buch diente der Dokumentation und dann der Verbreitung dieser Legenden, der lateinische Urtext wurde in verschiedene Mundarten übertragen, wobei die Übersetzer oft ihre regionalen Heiligen-Legenden hinzufügten.  Es war kein Herrschaft-Wissen, sondern populäres Wissen.

Zum Beispiel das Gift-Wunder des Johannes in Ephesus. Schon Paulus war von den Goldschmieden vertrieben worden, wie Apostelgeschichte (19,23-40) berichtet, weil er versuchte, gegen den Diana-Kult zu predigen.
Auch Johannes der Evangelist geriet bei seinem Missionsbesuch in Ephesus in Streit mit den Anhängern des Diana-Kultes, berichtet die Legenda Aurea.  Deren Priester Aristodemus schlug Johannes einen Wahrheitsbeweis vor: „Ich will dir Gift zu trinken geben, bringt dir das keinen Schaden, so will ich glauben, dass dein Gott der rechte Gott ist.“
Er ließ zwei zum Tode verurteilte Verbrecher bringen und gab ihnen vor allem Volk das Gift - sie stürzten tot zu Boden. Dann reichte er den Becher Johannes. Da schlug Johannes das Kreuz über dem Kelch und das Gift entwich als Schlange. Dann reichte er seinen Mantel dem Priester und sagte, er möge ihn über die toten Verbrecher decken. Das tat dieser - und die Toten erwachten wieder zum Leben. Der Diana-Priester war von der Wahrheit des Johannes überzeugt.

Wenn in der Renaissance Erasmus von Rotterdam und andere dieses populäre Wissen der mittelalterlichen Heiligen-Wunder als Volksverdummung kritisiert haben, dann zeigt das vor allem, dass die Geschichten geglaubt wurden, d.h. als Wahrheit galten.

Gedruckte Gerüchte

Wenn wir uns über einen Text ein genaues Bild machen wollen, dann müssen wir die Unzulänglichkeiten und Lücken der Worte mit eigenen Erfahrungen auffüllen, mit eigenem Vorwissen und eigenen Gefühlen. „Um jeden ausgesprochenen Satz breitet sich ein Hof von Ahnungen aus, die in die unterschiedlichsten Körper-, Sinnes- und  Gedächtnisregionen hinausdeuten.“ (Koschorke) Sprachmuster sind „mentale Konstrukte, die aus einer unendlichen Flut von Sinnesdaten relevante Informationen herauspräparieren“.

Als Begründer des modernen Klatschjournalismus gilt Pietro Aretino (1492 -1556), der in Venedig Satiren und Sonette über das Privatleben von Kardinälen und Adeligen verbreitete. Als Wahrheitskriterien gelten „Zeugen“ oder suggestive, beiläufige Fakten. Die Gerüchte über moralische Verfehlungen waren in frühen Kulturen so bedeutsam, dass göttliche Offenbarungen wie die Bibel oder der Koran in ihren Gesetzesvorschriften ausführlich die Frage behandeln, durch welche Verfahren Gerüchte von Wahrheit unterschieden werden können. Die religiöse Formel beim Eid gilt bis heute auch juristisch als besonderes Wahrheits-Kriterium.

Die Protokolle der Hexenprozesse der Neuzeit zeigen die Verflechtung von Gerücht und Wahrheit in allen denkbaren Variationen. Die Verfolger hielten die peinlichen Verfahren in detaillierten Protokollen fest und zeigten damit, dass sie auch die Geständnisse unter der Folter oder die „Wasserprobe“ als Instrumente der Wahrheitsfindung verstanden.

Der Kampf der Schriftkultur der Aufklärung gegen die mündlichen Traditionen des Aberglaubens

Modelle und Analogien, die einfach sind, haben immer eine hohe Plausibilität für den menschlichen Verstand. Noch im 17. Jahrhundert haben Berichte aus dem Orient über einen Messias namens Sabbatai Zwi die Gemüter gebildeter Juden in Amsterdam und den anderen publizistischen Zentren Europa erregt.
Über die neuen Druckmedien wurde eine alte Heils-Hoffnung verbreitet,
ein schwer entwirrbares Geflecht von Phantasien und Nachrichten. Als die Nachricht von der Festnahme des vermeintlichen Messias eintraf, haben viele Juden sich für ihren Irrtum geschämt und auf christlich inspirierten Flugzetteln wurde das Schicksal des falschen Messias nach dem Muster des Christus-Schicksals mit grausamen Kupferstichen ausgemalt. 

Im 17. Jahrhundert hat der Florentiner Astronom Francesco Sizi gegen Galileis Entdeckung der Jupitermonde folgendermaßen argumentiert: „Der menschliche Kopf hat sieben Fenster, zwei Nasenlöcher, zwei Augen, zwei Ohren und einen Mund; so gibt es auch im Himmel zwei günstige Sterne, zwei ungünstige, zwei Leuchten und den allein unentschiedenen und anteilslosen Merkur. Daraus und aus vielen anderen ähnlichen Naturerscheinungen, die aufzuzählen zu langwierig wäre, etwa den sieben Metallen usw., schließen wir, daß die Zahl der Planeten notwendigerweise sieben ist. . . Außerdem haben schon die Juden und andere alte Nationen, wie auch die modernen Europäer, die Einteilung der Woche in sieben Tage eingeführt und diese nach den sieben Planeten benannt. Wenn wir jetzt die Zahl der Planeten erhöhen, bricht dies ganze System zusammen.“

Feuer ist für Lebewesen ein gleichermaßen bedrohliches wie faszinierendes Phänomen. Es ist von derart gewaltiger Bedeutung, dass die menschliche Phantasie nach einem Verursacher sucht, einem göttlichen Willen. In ihrer Suche nach einfachen Erklärungen verstanden die alten Griechen das Feuer als ein „Element“ in einem System anderer Elemente (Luft, Wasser, Erde), als einen Urstoff, nicht als ein Ereignis. Die heutige naturwissenschaftliche Definition, nach der Feuer eine chemische Reaktion zwischen Sauerstoff und einem anderen Material ist, bei der Energie (Wärme und Licht) freigesetzt wird, macht das Feuer kalkulierbar, in kleineren Dimensionen auch beherrschbar. Aber sie blendet die Bedeutungshorizonte aus, die das naturgewaltige Feuer für die menschliche Umwelt-Wahrnehmung und die Bedeutung des beherrschten Feuers für das menschliche Leben haben.

Die Verbindung des Virtuellen zum Irdischen wird im Phänomen des Blitzes todernst. Bis weit ins 17. Jahrhundert war klar, dass es sich bei diesem Furcht erregenden Spektakel am Himmel um eine Botschaft Gottes handeln musste: Wen er traf, der war bestraft. Eine magische Realität, die in den Alltag hineinschlug. Jedes Kind heute weiß, dass der Blitz „irgendetwas mit Strom“ ist. Aber schon die Frage, was Strom sei, führt aufs quantentheoretische Glatteis. Mithilfe der Schriftkultur haben sich Naturkundler und Tüftler im 18. Jahrhundert überlegt, wie sie sich die magisch erscheinenden elektrisch-magnetischen Phänomene erklären  sollen. Man postulierte, dass es zwei „Fluide“ geben müsse, das Effluvium und das Affluvium, die wie Wasser von einem Körper auf einen anderen strömen könnten. „Strom" ist ein begriffliches Konstrukt aus einem mehr oder weniger magischen Kontext, die Wasser-Metapher ruft sinnlich vorstellbare Bilder auf für unvorstellbare Prozesse.

Die neuen Schrift-Gelehrten der Naturforscher, Philosophen und Theologen verbreiteten neue Wahrheiten. Aber das neue Wissen musste vielen Zeitgenossen als „Gerücht“ erscheinen – als Behauptungen mit einem eindeutigen Sinn, nämlich die Machthaber des alten Sinns zu diskreditieren, und mit uneindeutigen, kaum nachvollziehbaren neuen Wahrheitskriterien.  Ein schönes Beispiel dafür die die poetische Weise, die Phänomene der „Electrica“ (1600) zu interpretieren – reine Elektropoesie. (MG-Link)

Für das alte Erfahrungswissen war es selbstverständlich und plausibel, dass die Sonne sich um die Erde dreht. Jedermann kann es sehen, morgens wie abends. Das war das Erfahrungswerten, interpretiert mit der Intelligenz des Mesokosmos.

Die Gelehrten dagegen abstrahierten von ihrem Alltagsgegenstand und stellten Berechnungen nach den Gesetzgeber mathematischen Logik an. Mathematik ist wie Geometrie eine Schrift-Kultur, in der Wirklichkeit gibt es keine gerade Linie. Aus ihren schriftlichen Berechnungen zogen die neuen Schrift-Gelehrten den Schluss, dass die Erde sich dreht.
Aber stehen wir dann alle zwölf Stunden auf dem Kopf? Warum merkt das niemand? Wegen der „Gravitation“, sagen sie. Aber was ist Gravitation? „Die Schwere“, schrieb Nikolaus Kopernikus  1543, sei „nichts Anderes als ein von der göttlichen Vorsehung des Weltenmeisters den Theilen eingepflanztes, natürliches Streben, vermöge dessen sie dadurch, dass sie sich zur Form einer Kugel zusammenschließen, ihre Einheit und Ganzheit bilden. Und es ist anzunehmen, dass diese Neigung auch der Sonne, dem Monde und den übrigen Planeten innewohnt …“. Also eine göttliche, nicht weiter erklärliche und daher als „natürlich“ mystifizierte Kraft. Die neuen Wissenschaftler, die so etwas glaubten, stellten nicht nur die Wahrheit der Bibel, sondern das zentrale populäre Wahrheitskriterium in Frage: Was Menschen fühlen, stimmt nicht.

Der englische Bücher-Gelehrte James Hutton hat 1785 in einem ein Buch behauptet, seine geologischen Studien der fossilen Ablagerungen von Muscheln in tieferen Gesteinsschichten hätten ihm gezeigt: Die Schöpfung der Erde muss eher vier Millionen Jahre her sein als die 4.000 Jahre vor dem Erscheinen des Gottessohnes, die sich aus den Angaben der Bibel ergeben. 4000 oder 4 Millionen - beides ist sehr viel und unvorstellbar viel für einen Bauern. Der Unterschied lässt sich ohne Schriftkenntnisse nicht begreifen. Und was macht das für einen Unterschied? Die neue Wissenschaft will sagen: Die, die die Wahrheit der Bibel verkünden, reden falsch. Was ist Wahrheit, was Gerücht? Das hängt davon, was man als Wahrheitsbeweis betrachtet. 300 Jahre früher wäre Hutton vielleicht als Ketzer verbrannt worden, wie Giordano Bruno, und das hätte vor aller Augen und für alle bewiesen, dass er Unrecht hat.

Die Zeit verläuft im Kreis, dass weiß jeder Bauer. Alles hat einen Anfang und am Ende beginnt es wieder neu. Wie die Uhr, die nach dem Bilde des Mühlrades gebaut ist. Nun kommen die Bücher-Gelehrten und sagen: Zeit muss man sich wie eine Linie vorstellen, ohne Anfang und Ende. Unendlich. Wie soll man sich „unendlich“ vorstellen? Nachdem sich die Menschen daran gewöhnt hatten, dass es „unendlich“ geben soll, kamen neue Schlaumeier und sagen: Die Zeit ist gekrümmt. Sind das nicht klassische Fake-News?

Oder Jean Jacques Rousseau (1111-2222). Menschen handeln nur gut, wenn sie sich vor allgewaltigen Mächten fürchten, der Kirche und dem Fürsten uns seinen Soldaten, das weiß jedermann. Dann kommt ein französischer Buch-Gelehrter und behauptet, er habe beim Lesen von Büchern herausgefunden, dass der Mensch von Natur gut ist und Fürsten und Pfarrer die Menschen nur schlecht erziehen.
Der Mensch wäre gut, wenn er nur frei wäre, natürlich. Natürlich meint er nicht die Frauen und die Sklaven. Ist das nicht ein klassisches Beispiel für Fake-News?

Und schließlich kam Charles Darwin, geboren 1810 in Worcester, und behauptete, er habe bei der Beobachtung der Finken auf einer unbekannten Insel namens Galapagos herausgefunden, dass Gott die Menschen nicht nach seinem Ebenbild erschaffen hat. Die Ehefrau des Bischofs von Worcester erklärte dazu: „
Abgestammt von den Affen! Lass uns hoffen, dass es nicht wahr ist, aber falls doch, lass uns beten, dass es nicht allgemein bekannt wird". Sind die Vielfalt des Lebens, die Schönheit der Pflanzen und Tiere reiner Zufall und nicht Belege für die Macht Gottes?  Bald kursierte eine Karikatur, die Darwin als Affen mit weißem Bart zeigte.

Alles, was den Wahrheits-Kriterien der Aufklärung nicht standhielt, wurde im 18. und 19. Jahrhundert als „Gerücht“ abgewertet, „Gerede“ und „Gemurmel“ im Volk. Diskreditiert wird damit das Erfahrungswissen aus der normalen verbalen Alltags-Kommunikation.

Wahrheiten der Journalisten und Lügenpresse

Mit den Massenmedien des 19. Jahrhundert bildete sich neben den Aufklärungs-Philosophen und Naturforschern die neue Berufsgruppe der Journalisten: Eine „Zunft“ sozusagen, die für sich in Anspruch nahm, Hüter über die Kriterien für „Wahrheit“ im Bereich der politischen Beobachtung von Gesellschaft zu sein.

Im 20. Jahrhundert verfügte diese Berufsgruppe über die Machtinstrumente der Massenmedien.
Im 21. Jahrhundert schlagen, die, deren Sicht der Dinge als Gerücht und Gerede diskreditiert werden, zurück – die Parole von der „Lügenpresse“ stellt die Legitimation der Berufsgruppe der professionellen Journalisten infrage.

    s.a. die Texte auf dieser Seite zu:

    Klatsch und Tratsch und den Anfängen der Sprache   MG-Link
    Kultur der Erzählung nach Koschorke   MG-Link
    Was ist Kommunikation?   MG-Link
    Das kommunikative Gedächtnis   MG-Link
    Was ist Kultur?   M-G-Link