Klaus Wolschner 

Über den Autor

Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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II
Politik
und Medien

POP Titel Farbe klein 150 jpg

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-752948-72-1

2 VR Titel

Über die
Mediengeschichte der
Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert des Auges

ISBN: 978-3-7375-8922-2

2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

ISBN: 978-3-746756-36-3

2 AS Cover

Kulturgeschichte des Sehens, Mediengeschichte der Bilder. Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:
Augenlust und Bild-Magie


ISBN: 978-3-7418-5475-0

Wir-Ich Titel kl4

Neue Medien, neue Techniken des Selbst:
Unser digitales Wir-Ich   

ISBN: 978-3-754968-81-9

 

Das Radio der 1950er
als Medium einer rebellischen Popularkultur  

2020/22n

Die meisten der deutschen Intellektuellen und „Vordenker“ hatten in der Nachkriegszeit ein distanziertes Verhältnis zu der neuen bundesrepublikanischen Demokratie –  das intellektuelle Bürgertum wollte sich nicht identifizieren mit diesem durch die Siegermächte aufgezwungenen „falschen“ Erbe des NS-Staates. (1)

Vor diesem Hintergrund kann man kann die Durchsetzung der „amerikanischen“ Populärkultur in Deutschland nach 1945 als den Beginn eines Prozesses gesellschaftlicher Demokratiesierung begreifen. „Amerika“ war 1945 das Sinnbild der Demokratie, und Kaspar Maase spricht in seiner Analyse „Bravo Amerika“ von einer „populärkulturellen Amerikanisierung“ (2).

Über das Radio kam die Versuchung der amerikanischen Jugend-Popularität-Kultur nach Deutschland, aber nicht über den offiziellen „öffentlich-rechtlichen Rundfunk“, sondern über „amerikanische“ Sender und das nach „amerikanischem“ Vorbild kommerzielle Radio Luxemburg. Gegen Attraktivität dessen, was da aus den Transistor-Radios kam und in den „amerikanischen“ Filmen gezeigt wurde, gab es keine pädagogischen Dämme.

Die Jugendlichen taten genau das, wovor die Eltern der Nazi-Generation die deutsche Jugend bewahren wollten, sie gaben sich der „amerikanischen“ Vergnügungsindustrie hin und genossen die „undeutsche“ Disziplinlosigkeit und Lässigkeit in der Freizeit-Körperkultur. Sie schienen sich nur bestätigt zu fühlen, wenn ihre neue Jugendkultur in den Medien der Eltern einer harschen Kritik ausgesetzt war. Das Fernsehen war in den 1950er Jahren als Bildungsmedien gefesselt und das deutsche öffentlich-rechtliche Radio war auch fest in der Hand der Eltern.

Die englische Musik, die der Militärsender AFN, der britischen BFN und der Privatsender  „Radio Luxemburg“ verbreiteten, und der Jazz sind nicht von ihrer musikalischen Qualität her „politisch“, sondern im sozialgeschichtlichen Kontext. Da die gebildeten Eliten auch nach der „Befreiung“ durch US-Armee, die schwarze Soldaten demonstrativ integriert hatte, nahezu alles ablehnten, was aus den USA kam, konnte der Jazz und die Lässigkeit zum Inbegriff von  Rebellion werden – es ging um ein Gegenmodell zum soldatisch zackigen Habitus. Der „Toast Hawaii“ (seit 1955) fasste die Provokation sprachlich zusammen und versprach unbekannte Genüsse.

In der Kultur der konservativen Erwachsenen der 1950er Jahre galt die Tanzschulausbildung quasi zum pädagogischen Pflichtprogramm in der Pubertät gnd „Musik machen“ hatte eine mehrjährige disziplinierende Ausbildung in der Technik zur Voraussetzung. Dagegen verkörperte die Pop-Musik und der freie Tanz einen rebellischen Lebensstil. Ganz anders als die Volkslieder der Wandervögel in der Weimarer Zeit war diese populäre Musik laut und schrill und „schmutzig“ in  ihrer Intonation, sie sprach aller handwerklichen Gediegenheit Hohn. Für ihre Akteure ging es schlicht um das Vergnügen und nicht um das kulturell vorzeigbare Werk. Beim freien Tanz – schon früh nach dem englischen Wort „hoppen“ genannt – ging es um die reine Freude ab Körper ohne die Zwang zur Form und Schrittfolge. Die Musik lud alle ein zum mitsingen und „mitswingen“ unter Missachtung jeglichen musikalischen Feinsinns. Diese Musik transportierte ein demokratisches und egalitäres Kultur-Angebot. 

Im Streit um die Haar-Mode wurde die autoritäre Alltagskultur der Gesamtgesellschaft bekämpft. Die Auseinandersetzungen um Elvis' Haarschnitt beschäftigten die Medien über Monate.  Denn die Norm des ordentlichen Jungenhaarschnitts nach dem soldatischen Vorbild - kurz oder halblang, glatt, mit freien Ohren, offener Stirn und ausrasiertem Nacken – wurde durch die Elvis-Locke provokativ durchbrochen. Die  nach US-Vorbildern entwickelte Kleidung und Haartracht  wurde von den Älteren als zügellos und unschicklich abgelehnt. Mancher Jugendliche wurde zu einem „anständigen Haarschnitt“ verdonnert mit der Drohung: „Wenn Du mir so nach Hause kommst, dann prügel ich Dich zum Friseur!“  Der Vorwurf, dass Elvis Presley nicht über eine musikalische Ausbildung verfüge, lief ins Leere angesichts der Anziehungskraft seiner körperbetonten Bühnenauftritte. Seine über fast drei Oktaven reichende, emotionsgeladene Stimme faszinierte und die bildungsbürgerliche Ablehnung machte den „King of Rock ’n’ Roll“  in den Augen der Jugendlichen nur interessanter.

Die „gesunde Unruhe“ des Rock’n Roll

Der Film „Die Saat der Gewalt“ von 1955, in dem es um Jugendkriminalität an Schulen ging, brachte mit dem Bill Haley-Song  „Rock Around the Clock“ (https://youtu.be/tQqsxcsWYwA)  weltweit den Durchbruch für diese Musikrichtung, die seitdem generell als Rock ’n’ Roll bezeichnet wird. „Es gab sehr viele Schlager und der Himmel hing voller Mandolinen, und es schnulzte also nur so vor sich hin, bis dann plötzlich granatenmäßig also der Rock'n'Roll da irgendwie einschlug und da irgendwie so ein Erdbeben verursachte und so 'ne gesunde Unruhe ins Land brachte“, so Udo Lindenberg, selbst Jahrgang 1946.

Diese neue Musik war ein Mittel, sich von der Gesellschaft der Erwachsenen abzugrenzen, weil diese höchst verstört reagierte -  im bürgerlichen „Westen“ übrigens wie im sozialistischen Osten. Die FDJ-Zeitung „Junge Welt“ beschrieb 1958 ein Westberliner Konzert so: „Hunderte junge Menschen begannen zu zucken, zu toben, im wahnsinnigen, ewig gleichförmigen Rhythmus jenes teuflischen Rock'n'Roll, der nichts neben sich duldet als Stumpfsinn und Raserei....“  Die gutbürgerliche ZEIT hatte eine Woche zuvor das Phänomen so beschrieben: „Immer mehr aufgeregte Burschen drängten in die Gänge, Menschenströme flossen wie schreiende Lavaströme nach vorn. (...) Im Handumdrehen waren Bill Haley und seine Musiker von einer Menschenmauer umzingelt. Es war, als ob eine Meute von Raubtieren Ausschau hielt nach Opfern.“ Die ZEIT empfahl in ihrer Ratlosigkeit den „großen Arzt Paracelsus“, der habe gegen die offenbar auch zu seiner Zeit auftretenden Fälle von Massen-Tanzhysterie Prügel und Güsse mit kalten Wasser vorgeschlagen und die „Isolierung der Tanzwütigen, wodurch die Sache ihre Suggestionskraft verliert.“  (ZEIT vom 31.10.1958)  Für die bildungsbürgerlichen Journalisten waren es ahnungslose Halbwüchsige, die von einer Kulturindustrie zu Starkult und Modegläubigkeit verführt würden. 

Die „Rock'n'Roller“ wurden von ihren Fans dafür geliebt, dass sie sich auf der Bühne austobten,  der gesamte Körper wurde zum Mittel der musikalischen Performation, und das jugendliche Publikums bedankte sich mit ekstatischem Tumult. Junge Mädchen kreischten bei Konzerten, die Medien berichteten  als große Sensation, sie würden sogar den männlichen Stars Slips oder Büstenhalter auf der Bühne zuwerfen.  Diese Musik verknüpfte sich durch die Reaktion der Erwachsenen mit prägenden persönlichen Erfahrungen. Nach einer Shell-Jugendstudie aus dem Jahre 1985 gab die Hälfte der erwachsenen Männer und der Frauen an, in ihrer Jugend Rock'n'Roll-Anhänger gewesen zu sein oder zumindest diese Strömung ganz gut gefunden zu haben.

Neben den „ausländischen“ Radio-Stationen und den Musikboxen in Kneipen, Cafes und Eisdielen   - 1957 gab es ca. 12.000 davon – waren amerikanische Filme die Multiplikatoren der neuen Popular-Musik. Im Sommer 1957 kam Marlon Brando zu Dreharbeiten für den US-Kriegsfilm „Die jungen Löwen“ in die Bundesrepublik, er sollte die Rolle eines Offiziers der Hitler-Wehrmacht spielen. Nicht nur für das Jugend-Magazin Bravo war das ein großes Thema. Wie würde der sympathische US-Schauspieler  die „deutsche“ Rolle annehmen?  „Marlon ist ein so salopper Zivilist, daß er sich grundsätzlich in keiner Uniform wohlfühlt“, schrieb das Jugendmagazin Bravo. Auch der Film „Außer Rand und Band“ mit den Songs „Rock Around the Clock und „Don’t Knock the Rock“ aus den Jahren 1956 bzw. 1957 feierte den Rock’n Roll.

Soziologie der Rebellion

Wie lässt sich der Erfolg der rebellischen Popular-Kultur erklären? Treibende Kraft waren weniger die um 1930 geborene „Flakhelfer-Generation“, die Helmut Schelsky als „Jugend ohne Jugend“ charakterisierte. Die Generation der um 1940 geborenen Jugendlichen der unmittelbaren Nachkriegszeit kannte die materielle Not und den Mangel an moralisch-ideologischer Autorität in ihren Familien. Diese Jugendlichen erlebten als prägende Erfahrung das durch den Marshall-Plan angeheizte Wirtschaftswachstum. Nach 1953 gab es plötzlich ein Überangebot an Lehrstellen, die durchschnittliche Arbeitszeit wurde verkürzt und die Löhne stiegen, so dass ein kleiner Überschuss für die Teilnahme am „Wohlstand für alle“ blieb. Die Jugendlichen wurden zu Pionieren des „Dienstleistungs- und Freizeitkapitalismus“, so der Soziologe Jürgen Zinnecker.
Jugendliche suchten ihren eigenen Zugang zum Konsum, die Konsumgüterindustrie stellte sich darauf ein wie die speziellen Jugend-Medien.  Es war die große Zeit der 1956 gegründeten „Bravo“, deren Auflage bis 1959 auf eine halbe Million stieg.

Während die Welt der Erwachsenen die frühen Züge einer hedonistischen Lebensweise als Vergeudung, Verantwortungslosigkeit und Niedergang der Kultur abgelehnt wurde, interpretierte die populäre Massenkultur das Versprechen des „Wohlstands für alle“ im Sinne einer eigensinnigen Jugendkultur:  Wohlstand bedeutet nicht mehr vorrangig Karriere, eigenes Haus mit Garten, distinguierende Kleidung, eigenes Auto, Swimmingpool-Pool und Reitpferd. Der Protest-Habitus, extrem vorgelebt in der Hippie-Kultur, verzichtete demonstrativ auf alle derartigen Objekte des „feinen Unterschieds“, die dem Bildungsbürgertum wichtig waren. Es war ein Kulturangebot für Aussteiger - ein Hedonismus für die Habenichtse ohne die Statussymbole des Besitzes. In den 1950er Jahren konnte sich eine neue Jugendkultur nur scheinbar unpolitisch artikulieren, erst zehn Jahre später hatte das Fernsehen die politische Information in die Wohnzimmer gebracht. Mit der Ablehnung des „Muffs von tausend Jahren” wurde das, was die Jugendlichen in den 1950ern empfunden hatten, zehn Jahre danach - 1968 - politisch interpretiert.

Die Popularkultur verschob die kulturelle Machtbalance,  „Untergeordnete … verweigern Verhaltensweisen, die von den Übergeordneten als Ausdruck von Respekt und Gehorsam erwartet“ wurden (Maase). Die alte elitäre Kultur konnte die neuen Massenmedien letztlich nicht beherrschen, die Ökonomie der Massenmedien begünstigt Popularkultur.

Wie ratlos die „erwachsene“ Kultur reagierte, wird an dem von 1953 bis 1960 zuständigen Familienminister Franz Joseph Wuermeling (CDU) deutlich. „Millionen innerlich gesunder Familien mit rechtschaffen erzogenen Kindern sind als Sicherung gegen die drohende Gefahr der kinderreichen Völker des Ostens mindestens so wichtig wie alle militärischen Sicherungen“, formulierte er 1953. Wuermeling war ein erklärter Gegner der Gleichberechtigung der Frau. Und forderte in einer Rede zum Filmwesen eine „Volkszensur“ im Interesse von Sitte, Anstand und Jugendschutz. Aber selbst in CDU-Kreisen empfand man den Minister bald als peinlich.

    Siehe auch die Texte zur Geschichte des Radios:
    Radio-Stimme - Die Technisierung der Stimme und die Dynamik des neuen Massenmediums   MG-Link
    Radiorevolution  MG-Link

    Anm.:
    1) siehe dazu den Abschnitt „Demokratiekritik in der frühen Bundesrepublik“
    in meinem Text   MG-Link
    2) Kaspar Maase, Bravo Amerika (1992)
    Kaspar Maase, Lässige Boys und schicke Girls. „Amerikanisierung“ und Biographien Jugendlicher in den 50er Jahren, in: Fischer-Rosenthal/ Alheit (Hg.), Biographien in Deutschland. Soziologische Rekonstruktionen gelebter Gesellschaftsgeschichte (1995)