Massenpresse: Politische und persönliche Freiheit, Medialisierung der Zivilgesellschaft im 19. Jahrhundert
2020/24
Nahezu universell verbreitete sich im 19. Jahrhundert (in den USA und Europa) die Presse - politische Zeitungen, Zeitschriften und Magazine. Die Forderung nach Pressefreiheit, die schon in der Unabhängigkeitsbewegung der amerikanischen Kolonien im 18. Jahrhundert eine große Rolle gespielt hatte, einte die demokratischen Bewegungen und veränderte die politische Kommunikation. (Zur Pressefreiheit siehe MG-Link
Die Presse öffnete den machtpolitischen Kommunikationsraum „Hofstaat“, dessen Abgeschlossenheit früher nicht nur die Herrschaftsprivilegien des Adels gesichert hatte, sondern auch zu einem wilden Eigenleben der Gerüchte und der anonymen Pamphlete geführt hatte. Die Nachrichten sprengten die regionalen und sozialen Erfahrungshorizonte ihrer Leserschaft. Die Bürger klagten ihr Recht ein, informiert zu werden, und wo die Obrigkeit informierte, nahm diese gleichzeitig Einfluss darauf, was das Volk denken sollte.
Im Herrschaftsbereich des Deutschen Bundes war 1819 noch einmal durch die Karlsbader Beschlüsse ein extrem repressives Presserecht restauriert worden. Zensurbehörden und präventive Selbstzensur in Sorge um die wirtschaftliche Existenz begrenzten das Handeln der Verleger.
1833 war nach dem Vorbild des englischen Penny-Magazins in Leipzig das „Pfennig-Magazin“ erschienen. Das Blatt war rein kommerziell orientiert, nutzte Bildgrafiken als visuelle Lockmittel und richtete sich an die Familie. Herausgeber Johann Jacob Weber verstand sein Blatt als Organ zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse. Die Auflage stieg in den 1840er Jahren auf 100.000 Exemplare – die angesehene politische „Vossische Zeitung“ kam als auflagenstärkste Zeitung auf 20.000.
In dem Revolutionsjahr 1848 blühte in verschiedenen europäischen Hauptstädten eine parteiliche Presse auf – ähnlich und ähnlich kurzlebig wie bei den früheren politischen Umbrüchen in Nordamerika und Frankreich. Der Zeitungsverkauf politisierte die Straße, wobei es fließende Grenzen gab zwischen Flugschriften und den oft kurzlebigen Periodika. „Insofern sollte man die Revolution 1848 nicht allein mit Barrikaden oder der Paulskirche assoziieren. Viel typischer war der Zeitung lesende diskutierende Bürger.“ (Frank Bösch)
Die Konzentration der Mediengeschichte auf politische und weltanscheuliche Nachrichten übersieht manchmal, dass es in den Klatsch- und Skandal-Geschiuchten eine ganz andere, sehr populäre Eben der Selbstvergewisserung gab – je mehr sich Menschen als Einzelne, Individuum, aus ihren verbindlichen sozialen Umfeld herausbewegten, um so wichtiger wurde die Reflexion der persönlichen Identität. Die Klatsch-Geschichten waren verkaufsfördernd, weil sie die Gefühle der Menschen ansprachen, von menschlichen Schwächen, Gewalt und Liebe handelten, von gesellschaftlichen Normen und individuellen Freiheiten.
1848 blühten auch Satireblätter auf, das bekannteste ist der „Kladderadatsch“. Es bekennt sich als „Organ von und für Bummler“. Der Wochenkalender auf dr ersten Seite hat einen kurzen Eintrag für „Freitag den 12. Mai. Wegen anhaltendem Regenmetter keine Weltgeshichte.“ Seite zwei er dann im „Feuilleton“ zu den Problemen des wirklichen Lebens: „Elvine ist Künstlerin, — jung, schön, reich. Sie wohnt Friedrichstraße. — Machowsky, Pole, Student, nicht Graf, sehr viel Schulden, liebte Elvinc heftig.“ So etwas gibt es nur in der Großstadt. Der Kladderadatsch trifft offenbar einen Publikumsgeschmack, bald erscheinen ähnliche Blätter in Berlin. In Frankreich und England hatten sich satirische Blätter bereits Jahrzehnte früher etabliert. Die große Freiheit 1848 wurde auch in der Rolle deutlich, die Frauen in den Medien spielten. Louise Otto brachte eine Zeitung unter dem programmatischen Titel Frauen-Zeitung heraus. Obwohl Louise Otto ausdrücklich „dem Irrtum entgegenarbeiten“ will, der „oft gerade die begabten Frauen veranlasste, ihr streben nach geistiger Freiheit in der Zügellosigkeit der Leidenschaften zu befriedigen“. Diese Versicherung war sicherlich eine Schutzbehauptung. Schon in der ersten Nummer 1849 gab es unter dem Pseudonym „Anna“ eine vierseitigen „Aufruf an deutsche Frauen und Jungfrauen zur Begründung einer ächt weiblichen Emanzipation“. Darin steht – u.a. - der Spreng-Satz: „Wie könnt ihr es wissen, ob eure Mütter wirklich glücklich waren?“ Schon 1850 wurde Frauen schlicht untersagt, eine Zeitung zu leiten.
Der Technologie-Mix der Massenpresse
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine „Massenpresse“. Die Drucktechnologie ermöglichte hohen Auflagen und erzwang sie auch durch die hohen Preise der Druckmaschinen. Seit den 1870er Jahren kamen Rotationspressen zum Einsatz. Die Setzmaschine verband seit den 1880er Jahren das Setzen und Gießen. Mit Telegrafie und Telefon kamen neue elektrische Übertragungsmedien auf, neue technische Reproduktionsformen wurden genutzt, um die Druckerzeugnisse durch Abbildungen attraktiver für ein Massenpublikum zu machen. Eisenbahn und Dampfschiffe erleichterten den Vertrieb von Druckerzeugnissen.
Die Zeitungslandschaft blühte auf, in Zeiten und Regionen geringer Marktabdeckung erforderte die Gründung einer Zeitung keine unüberschaubare Menge an Kapital.
Die neuen Nachrichtentechniken sorgten für mehr Aktualität und schufen so ein neues Zeitgefühl: In Deutschland etwa waren im Jahre 1856 noch 89 Prozent der in Zeitungen verbreiteten Nachrichten älter als einen Tag, 1906 waren es nur noch 5 Prozent.
Massenpresse, Unterhaltung und Pressefreiheit
Der quantitative Erfolg der Massenpresse beruhte aber nicht auf der Berichterstattung über Politik und auf dem politischen Meinungsjournalismus, sondern auf Unterhaltungsangeboten. Der Gründer der Gartenlaube (1853, MG-Link), Ernst Keil, war im Vormärz ein politisch engagierter liberaler Journalist gewesen. In Leipzig wurde er zu einer neunmonatigen Haftstrafe verurteilt, schon im Gefängnis entwickelte er die Konzeption für die Gartenlaube. Die Gartenlaube wurde zur erfolgreichsten deutschsprachigen Zeitung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und war Vorläuferin der Illustrierten. (MG-Link)
Der erste deutsche Staat, der die volle Pressefreiheit einführte, war 1864 das Königreich Württemberg. Allgemein wurde die Präventivzensur durch das Reichspressegesetz von 1874 abgeschafft. Das hinderte den Reichskanzler Bismarck nicht daran, Eingriffe in die Pressefreiheit gegen die Katholiken und vor allem gegen die Sozialdemokratie zu verfügen. Es gab hunderte von Beleidigungsklagen gegen Journalisten. Mit den Sozialistengesetzen von 1878 wurden für zwölf Jahre sozialdemokratische Druckerzeugnisse generell verboten. Bismarck nutzte die konservative Presse für seine Politik und sorgte gleichzeitig hin und wieder für die Verfolgung einzelner missliebiger Journalisten.
Medialisierung und Politik
Die Presse ermöglichte eine neue Intensität und Verbreitung gesellschaftlicher Selbstbeobachtung und Selbstreflexion. Gegen Ende des Jahrhunderts waren die Presseorgane und ihre Nutzung ein wichtiger Faktor politischer Macht – wie etwa die Dreyfus-Affäre in Frankreich zeigt.
Erst nach 1890 hatte die bürgerliche Presse in Deutschland für sich den Spielraum erkämpft, der in der angelsächsischen Welt seit langem selbstverständlich war. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. verzauberte seine Zuhörer, das Beispiel der „Hunnen-Rede“ (1900) aber zeigt, wie die dokumentierenden Zeitungsberichte den Eindruck der Rede auf ihren nüchternen Kern reduzierten und zu ganz anderen, kritischen Bewertungen der aggressiven Formulierungen führten: Der Kaiser hatte den deutschen Soldaten das Abschlachten der Chinesen empfohlen. Die „Selbstbeobachtung“ der Politik über die schriftliche Dokumentation von Reden führte 1908 nach dem Daily-Telegraph-Interview des Kaisers zu einer erheblichen Demontage seiner politischen Bedeutung. Das Kaiser-Interview zeigt zudem eine neue Ebene der Außenpolitik: Im Zeitalter der Massenpresse kann es nicht nur um Diplomatie (und Krieg) gehen, es geht auch um öffentliche Meinung und damit um symbolisches Ersatzhandeln der Politik. Auch Reichskanzler Bernhard von Bülow gab Interviews in der ausländischen Presse in den ersten Jahren des 20.Jahrhunderts in einer Phase, in der Interviews in der deutschen Presse keineswegs üblich waren. Bülow war es auch, der in jeder Zeit auf Beleidigungs-Klagen gegen Journalisten verzichtete und neue Formen des Austauschs und der Beeinflussung durch kommunikative Nähe setzte.
Globalisierung im 19. Jahrhundert
Die mediale Globalisierung führte zu einer veränderten Wahrnehmung der Welt, von Zeit und Raum. Schon Samuel Morse (1791-1872) prophezeite, die Telegrafie werde „das ganze Land in eine einzige Nachbarschaft verwandeln“. Die Telegrafie veränderte gleichzeitig die Inhalte der Kommunikation - und der Presse. Die telegrafische Übermittlung erlaubte es, ereignisbezogene Nachrichten als aktuelle Sensationen zu verbreiten. Die Kosten der Telegrafie führten anfangs dazu, dass kurze, preiswerte Nachrichten – Schlagzeilen – um die Welt gingen.
Der in Kassel geborene Julius Reuter hat 1851 in London sein Nachrichtenbüro eröffnet. Für das britische Empire waren die Überseekabel besonders wichtig, die Verkabelung wurde mit großen Visionen vorangetrieben. „Es wird eine durch die Gleichzeitigkeit der Correspondenz vermittelte Gleichzeitigkeit der Action weit verstreuter Menschenmassen möglich, die unter Umständen ganz unberechenbare Folgen haben muss, die z.B. einen von einem Willen in kritischer Lage geleiteten Staatskörper wirklich zu einem Staatskörper werden lässt. (...) Die Städte, die Völker 'erleben' die Ereignisse gleichzeitig, gleich als ob eine Empfindung einen einheitlichen Körper durchzucke. Und wir wissen, Nachrichten erzählt man sich nicht blos, sie wirken auch auf Thun und Lassen der Menschen", so formulierte Karl Knies 1857 in seinem Buch „Der Telegraph als Verkehrsmittel”.
Henry David Thoreau spottete 1854: „Wir beeilen uns sehr, einen magnetischen Telegraphen zwischen Maine und Texas zu konstruieren, aber Maine und Texas haben möglicherweise gar nichts Wichtiges miteinander zu besprechen. (....) Wir beeilen uns, den Atlantischen Ozean zu durchkabeln, um die Alte Welt der Neuen ein paar Wochen näher zu rücken; vielleicht lautet aber die erste Nachricht, die in das große amerikanische Schlappohr hineinrinnt: Prinzessin Adelheid hat den Keuchhusten.“
Massenmedien und Stadt
Massenmedien widmeten sich erst allmählich den lokalen Themen der Stadt – sie wurden zu Orientierungshilfen für entwurzelte Bewohner von Großstädten. Sie leuchteten den Lebensraum Stadt erst aus, als man ihn nicht mehr mit eigenen Augen und über den Dorfklatsch erfassen konnte. Sie ordneten den Blick der Städter auf die Stadt – gewürzt mit der Sucht nach Spektakulärem. Medien inszenierten ihre Spektakel zuweilen selbst wie der Berliner Ullstein-Verlag, der Autorennen und einen „B.Z.-Preis der Lüfte“ auslobte, um dann exklusiv darüber berichten zu können. Auch die „Tour de France“, seit 1903 das populäre jährliche Radrennen, wurde von der Zeitschrift L'Auto initiierte, die damit ihre Auflage verdreifachen konnte. Die Sensation schlechthin: Im Jahre 1908 konnte mit Hilfe der Bildtelegrafie ein Kriminalfall aufgeklärt werden. Der „Daily Mirror” veröffentlicht das Foto des Mannes, der am Tag zuvor in Paris Juwelen geraubt hatte. Der Mann auf dem telegrafisch nach London übermittelten Foto wurde von einem Zeitungsleser identifiziert.
Das elektronische Medienzeitalter kündigt sich an
So kündigte sich um die Jahrhundertwende eine neue Epoche im Verhältnis von Medien und Gesellschaft an. Zur „Medienrevolution“ der Jahrhundertwende gehörten neben der Massenpresse und der Entwicklung der Illustrierten auch die technischen Sensationen der Fotografie, die nun jedermann über Kleinbildkameras und über die Postkarte verfügbar wurde, und die Sensation der bewegten Bilder. Die Kinematographie, das neue Massenmedium des 20. Jahrhunderts, steckte zwar noch in den Kinderschuhen, kurze Vorführungen bewegter Bilder wurden als Variété-Nummern in den Vergnügungsstätten der Städte und auf den Jahrmärkten gezeigt. Die Massenmedien wurden zu einer Form der Unterhaltung, die Unterschichten suchten ihr „grenzenloses Vergnügen“ (Kaspar Maase) in den neuen Angeboten, insbesondere im Film. (MG-Link)
Dafür wurde die Medienkultur des Industrie- und Massenzeitalters von der bürgerlichen Medienkultur verachtet – sowohl wegen der Wiederentdeckung der Sinnlichkeit wie wegen der großen Bedeutung von Visualisierung in Konkurrenz zum Primat der Schrift. Diese Verachtung kam übrigens von konservativer wie von sozialdemokratischer Seite (siehe „Rechte Konsumkritik von links“, MG-Link). Der Soziologe Werner Sombart schrieb noch 1924: „Je größer die Masse, desto dümmer ist sie als solche. Darum also - beispielsweise - je verbreiteter die Zeitung, desto tiefer ihr Niveau; je demokratischer das Wahlrecht, desto niedriger der Geistesstand der Vertreterschaft.“ Und die Sozialdemoraten sagen: „Der Feind, den wir am meisten hassen, das ist der Unverstand der Massen.“
Die Verbindung von elektrischer Datenübertragung und elektrischer Text- und Bildspeicherung führte am Ende des 20. Jahrhunderts zur Netzkultur des Internets.
Lit.: Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt (2009) Bösch, Frank: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen (2011) Diek Mellies, Modernisierung in der preußischen Provinz? Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert (2012) Werner Faulstich, Medienwandel im Industrie- und Massenzeitalter (2004)
Nachtrag zum Verhältnis von gesellschaftlicher Entwicklung, zivilgesellschaftlichem Vereinswesen und Medien im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum:
Die Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge hat im 19. Jahrhundert im Zusammenwirken mit technischen Entwicklungen und der Industrialisierung zu einem erheblichen gesellschaftlichen Wandel geführt. Das Wachstum der Industrie-Städte brachte gleichzeitig Massenverarmung und Bevölkerungsmigration („Pauperismus“).
Es war ein technisches Zeitalter: Dampflokomotive und Elektromotor revolutionierten die Manufaktur. Gleichzeitig prägte die Technik ein neues Weltbild der Menschen, auch wenn die literarische Elite sich mit dem romantischen Protest dagegen zu wehren versuchte.
Bei allen regionalen Unterschieden in Europa und auch im deutschen Sprachraum war die erste Hälfte des Jahrhunderts noch eine vorindustriell geprägte Phase. Es gab im deutschsprachigen gebiet keine Großstädte von der Dimension von London oder Paris, die Kleinstaaten hatte alle ihre kleinen Zentren.
Den feudalen politischen Mächten gelang es mit den Karlsbader Beschlüssen, die Impulse der französischen Revolution zu ersticken. Die Pressezensur unterdrückte das neue revolutionäre Denken in der Öffentlichkeit, nur wenige Geheimbünde führten die Tradition fort. „Frei“ und geduldet im Gebiet der „deutschen Nationen“ waren Freizeit-Vereinigungen, die ein deutsches Nationalbewusstsein pflegten - Lesegesellschaften, patriotischen Gesellschaften, Burschenschaften, zahlenmäßig vor allem Turn- und Gesangsvereinen.
Die industrielle Entwicklung prägte die gesellschaftliche Entwicklung vor nach der politischen Zäsur der Jahrhundertmitte. Trotz der erneuten Durchsetzung einer weitreichenden Zensur führten die Bemühungen Preußens, allgemeine Zustimmung für den Norddeutschen Bund als Nationalstatt zu erlangen durch die Beteiligung der wahlberechtigten Bevölkerung zu weitreichenden politischen Debatten und Verbindungen, wenn auch anfangs „nur“ aus Anlass der Kandidatenaufstellungen. Es bildeten sich politische Richtungen aus, die sich auch ohne organisatorischen Rahmen als „Parteien“ verstanden und im Zuge der weiteren Entwicklung zu einem „Deutschen Reich“ über die Zeitungend er „Parteien“ koordiniert wurden.
In der Sorge um die von der politischen Entwicklung ausgegrenzte verarmte Arbeiterbevölkerung bildeten sich karitative Vereine, Konsum-, Spar- und dann Arbeitervereine.
Die ländliche Öffentlichkeit war auch am Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem noch eine mündliche Öffentlichkeit. Gutsbesitzer, Amtmänner, Pastoren, Lehrer und Reisende verbreiteten wichtige Botschaften und Neuigkeiten. Lehrer und Pastoren waren von den Behörden dazu angehalten, amtliche Bekanntmachungen zu verlesen. In besonders wichtigen Fällen wurden Flugblätter verteilt. Noch im April und Mai 1848 wurden, als es in Pommern auf mehreren Gütern zu erheblichen Dienstverweigerungen kam und sogar einige Gutsbesitzer tätlich angegangen worden waren, eine „Proklamation“ zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in einer Zahl von 1.970 Exemplaren auf dem Land verteilt. Den Aufruf Friedrich Wilhelms IV. „An mein Volk“ vom 15. Mai 1849 vervielfältigte die Stettiner Regierung mit einer Auflage von sensationellen 5.000 Stück, die in 2.192 Ortschaften des platten Landes plakatiert werden sollten.
Im bürgerlich-adeligen Milieu hatte es am Ende des 18. Jahrhunderts eine gewisse Zahl kurzlebiger Zeitschriftenprojekte mit blumigen Titeln gegeben, etwa 1777/8 den „Stettiner Schauplatz der Vernunft und des Geschmacks“ oder die „Pommersche Pallas“ von 1799 bis 1800. Nach der preußischen Niederlage bei Jena und Auerstedt 1806 versuchte die Obrigkeit, Bürgergeist und Gemeinsinn im Interesse der Befreiungskriege gegen die napoleonische Herrschaft. Der umfassenden Modernisierung des Staates dienten auch die preußischen Reformen – insbesondere nach der Abschaffung des Zunftwesens durch die Gewerbefreiheit (1810) wurde von den Obrigkeiten das eigene Engagement gesellschaftlicher Gruppen gefördert. Die Stein'sche Städteordnung von 1808 gab den Stadtbürgern die Möglichkeit, ihre kommunalen Angelegenheiten selbst zu regeln. 1812 erhielten die in Preußen ansässigen Einwohner jüdischen Glaubens auf Antrag die preußische Staatsbürgerschaft und durften am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Mit den Bildungsreformen Wilhelm von Humboldts wurden die Ideale der geistigen Freiheit Selbständigkeit des städtischen Bürgertums obrigkeitsstaatlich anerkannt. So erlebte die politische Publizistik zwischen 1806 und 1815 einen erheblichen Aufschwung, getragen von einer patriotisch-nationalen Aufbruchsstimmung jedenfalls in den Kreisen der Gebildeten. Die 1815 in Aussicht gestellte „Preßfreiheit“ weckte große Hoffnungen auf eine Liberalisierung des Pressewesens. Die Karlsbader Beschlüsse beendete diese kurze Phase des Aufbruchs. Mit dem Preußischen Zensuredikt von 1819 wurde ein Ober-Zensur-Kollegium in Berlin eingerichtet, nicht nur eine „Stempelgebühr“ erschwerte in Preußen die verlegerischen Unternehmen, Bestimmungen gegen die Majestätsbeleidigung und die „Erregung von Mißvergnügen gegen die Regierung“ stellten die Presse unter strafrechtlichen Zensur-Druck. Politische Vereine wurden verboten, sogar die Jahnschen Turnbewegung: Anfang 1820 wurde die Schließung aller Turnplätze verfügt und Ludwig Jahn verhaftet. Bestraft werden sollten auch die, „welche darüber berichten“. Erst 1842 wurde das Turnen von dem Reformer-König Friedrich Wilhelm IV. wieder gestattet - am Vorabend der Revolution von 1848 waren rund 90.000 deutsche Turner organisiert. Einen größeren Zulauf hatten nur die Gesangsvereine.
Als kurz nach der französischen Februar-Revolution in allen deutschen Staaten Volksversammlungen stattfanden und Petitionen verabschiedet wurden, standen die Forderungen nach „Preßfreiheit“ und Koalitionsfreiheit im Zentrum, diese Ziele blieben bestimmend für die Geschichte des zivilgesellschaftlichen Vereinswesen und der freien bürgerlichen Publizistik trotz des Scheiterns der Revolution. Im Rahmen der der Protestbewegungen 1848/9 hatten sich die Zahn der Publikationen mehr als verdreifacht und obrigkeitstreue Medien übernahmen die Parolen der Revolution. (Illustrirte Zeitung Leipzig) Die 1848-Revolution war eben auch eine Kommunikationsrevolution.
1848 wurde die Pressefreiheit als „Grundrechte des deutschen Volkes“ in Preußen gewährt, ebenso die Koalitions- und Vereinsfreiheit. Gleichzeitig fiel die Stempelsteuer für preußische Zeitungen. Das politische Vereinswesen blühte auf und politisierte die deutsche ÖffentlichkeitUnter dem Dach des demokratischen „Zentralmärzvereins“ sammelten sich rund 950 Vereine mit 500.000 Mitgliedern, der „Katholische Verein Deutschlands“ hatte 400 örtliche Piusvereine. Als sozialistische Arbeiterverbrüderung verstanden sich 170 Ortsgruppen mit 15.000 Mitgliedern, in Preußen taten sich 50 konservative Vereine als „Treubund mit Gott für König und Vaterland“ zusammen – neben dem „Verein zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzes und Förderung des Wohlstands aller Volksklassen“. Die organisatorische Bindung erfolgte über eine parteinahe Presse. Am 18. März 1848 erschien in Berlin erstmals die liberale National-Zeitung, es gab die demokratische Urwählerzeitung (ab 1853 Volks-Zeitung). Karl Marx und Friedrich Engels beteiligten sich an der Gründung der radikaldemokratischen Neue Rheinischen Zeitung, auf der anderen Seite des Spektrums stand die Neue Preußische Zeitung.
Nach dem Ende der revolutionären Monate übernahm die preußische Obrigkeit schrittweise wieder die Kontrolle über Presse und Vereinswesen, ein umfangreicher Strafkatalog, Impressumszwang, eine hohe Kaution und die Abgabe von Pflichtexemplaren führten zu einer Selbstdisziplinierung der Presse.
Das Vereins- und Versammlungsrecht wurde eingeschränkt, alle Arbeitervereine verboten. Frauen, Lehrlinge, Schüler und auch Volksschullehrer durften sich nicht mehr in politischen Vereinigungen betätigen. Überregionale Verbindungen zu anderen politischen Vereinen untersagte das Preußische Vereinsgesetz von 1850.
Der liberale Revolutions-Aktivist Ernst Keil gründete nach seiner Rückkehr aus der Gefängnis-Haft die unpolitische Illustrierte „Gartenlaube“, in deren programmatischen Editorial es 1853 hieß: „So wollen wir Euch unterhalten und unterhaltend belehren. Lieber das Ganze aber soll der Hauch der Poesie schweben…“ (MG-Link)
Erst mit dem Amtsantritt König Wilhelms konnte sich die politische Presse Preußens wieder entwickeln. Im preußischen Verfassungskonflikt der sechziger Jahre, in dem es um die Machtaufteilung zwischen König und Parlament ging, politisierten sich die deutschen Tageszeitungen dann zunehmend. Schon 1861 erschienen allein in Berlin 58 Wochenblätter und 32 Zeitungen, die meisten auf der Seite der Liberalen mit Auflagen bis zu 30.000 Stück. Das Vereinswesen blühte auf.
Dem oppositionellen Übergewicht versuchte die preußische Regierung unter Bismarck mit der offenen und verdeckten Finanzierung konservativer Blätter entgegenzuwirken. Seit 1868 gab es dafür einen „Reptilienfonds“.
Bei dem Dreiklassenwahlrecht für das Preußische Abgeordnetenhaus (seit 1851) beteiligten sich über 60 Prozent der Wahlberechtigten in der ersten Klasse, die allerdings nur vier Prozent der männlichen Bürger über 25 umfasste. Immerhin knapp 50 Prozent in der zweiten Klasse. Für die dritte Klasse (82 Prozent der Wahlberechtigten) lag die Wahlbeteiligung über 30 Prozent. Der 1863 gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) durch Ferdinand Lassalle wie die Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) 1869 durch Wilhelm Liebknecht und August Bebel stritten für ein allgemeines gleiches Wahlrecht.
Mit der Reichsgründung von 1870/71 entwickelte sich die gemeinsame nationale deutsche Öffentlichkeit (MG Gründung der Kulturnation), für den Reichstag galt ein allgemeines und gleiches Wahlrecht, mit dem sich gegen das Dreiklassenwahlrecht gut polemisieren ließ.
Mit dem Reichspressegesetz von 1874 wurden der Konzessionszwang, die zusätzliche Pressesteuer und das Prinzip der Vorzensur abgeschafft. Es blieben als strafrechtlichen Daumenschrauben die Vorwürfe der Veröffentlichung unzüchtiger Inhalte, des Landes- und Hochverrats, der Majestätsbeleidigung, der Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Gesetze und des Anreizes zum Klassenhass.
Nach der Erfindung der Schnellpressen 1811 und der Telegraphenlinien 1848 wurden die Rotationspresse und das 1885/86 erfundene Linotype-Verfahren zur technologischen Voraussetzung von Massenpresse. Die Gartenlaube als Prototyp der modernen Illustrierten erzielte 1875 die Rekordauflage von 382.000 Stück. Die Zahl der deutschsprachigen Zeitschriften steigerte sich allein von 1872 bis 1875 von 1.743 auf 1.971 Titel.
In den 1880er Jahren entstanden in den Großstädten erste parteiunabhängige Massenblätter mit den Generalanzeigern, neben den schreibenden Literaten und politischen Funktionären entstand der Berufsstand des unabhängigen Journalisten. Der Erfolg des neuen Typus von Presse, zu dem auch das Geschäft mit den Illustrierten gehörte (zur illuistrierten MG-Link), führte zur Entwicklung großer Verlage und großer Verleger wie August Scherl, Wilhelm Girardet, Leopold Ullstein und Rudolf Mosse.
Erst 1899 wurde das offizielle Verbot deutschlandweit vernetzter politischer Vereine aufgehoben. Die aus der Vereinigung von ADAV und SAPD hervorgegangen Sozialdemokratie hatte im Jahre 1906 rund 600.000, 1914 dann mehr als eine Millionen Mitglieder – neben ihren Bildungs-, Lese-, Turn- und Gesangsvereinen. Parallel entwickelten sich die freien Gewerkschaften zur Massenbewegung, 1913 mit 2,5 Millionen Mitgliedern. Die Sozialdemokratie war im Kaiserreich die Klassenpartei der städtischen Industriearbeiter. Auf dem Land feierten die Konservativen ihre Wahlerfolge. Diese Spaltung war der soziale Hintergrund von Revolution und Konterrevolution, der Nationalsozialismus war ein Versuch der Synthese von städtischem Kleinbürgertum, Arbeiter- und Bauernstand.
Zur Mediengeschichte des 19. Jahrhunderts siehe auch die Texte:
Zur Mediengeschichte im 19. Jahrhundert MG-Link Medien-Macht im 19. Jahrhundert MG-Link Sensationsjournalismus MG-Link Soziologie der frühen Massenpsychologie MG-Link Gerüchte-Kommunikation MG-Link Illustrierte fremde Welt - Welt der Illustrierten MG-Link Lese- und Kino-Lust – das ästhetische Vergnügen der Massen MG-Link Fotografie - Verzauberung durch ein neues Medium MG-Link Film - Faszination der bewegende Bilder am Ende des 19. Jahrhunderts MG-Link Vor dem 18. Jahrhundert - Hören-Sagen-Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit MG-Link Frühe „Lesesucht“ MG-Link Lese- und Kino-Lust – das ästhetische Vergnügen der Massen MG-Link Panorama und die Sehnsucht nach virtuellen Welten MG-Link Fotografie - Verzauberung durch ein neues Medium MG-Link Illustrierte I: Mode als europäisches Medienereignis, das „Journal des Luxus und der der Moden” (1786) MG-Link Illustrierte II: Die Gartenlaube (1853) MG-Link Über die populistische Schelte „der Journalisten“ MG-Link Journalismus am Ende MG-Link Zur Pressefreiheit MG-Link
|