Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

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III
Medien
-Theorie

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Wirklichkeits-Konstruktion
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Augensinn und
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Herrschafts-Kommunikation
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Medien-Demokratie:
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Individualität, Rollen-Identität und Sozialität

Individualität ist eine Selbstzuschreibung in einem kulturellen Kontext - der bildungsbürgerliche Individualismus war eine elitäre Selbstzuschreibung. In Wirklichkeit geht es um ein Rollenspiel, um soziale Muster.
Das 20. Jahrhundert „demokratisiert“ den Individualismus
- massenhaft wird Individualität erwartet, in Wirklichkeit wird Identität im Massenkonsum erlebt und spiegelt sich in der Massenunterhaltung.

 9-2022

Der moderne Mensch begreift sich als einzigartiges „Individuum“. In früheren Jahrhunderten war das vor allem das Privileg einer Elite – eben der sozialen Machthaber oder der „geistigen“ Machthaber, der Theologen und Philosophen, später der gebildeten Bürger. Die Identität der Bauern und der Handwerker entsprach einer sozialen Rolle, angemessenes Verhalten war der Rolle angemessenes Verhalten. Die Vorstellung, dass es einem jeden Menschen möglich sein müsse, sein „eigenes“ Leben zu führen, kennzeichnet die europäische Moderne. Sie liegt den Menschenrechten zugrunde, die bekanntlich aber am Anfang nicht für die in die USA verschleppten kolonisierten Menschen gedacht waren. Die Idee der Individualität war auch nicht für das Gesinde gedacht, nicht für Menschen ohne Bildung und Vermögen. Was hat dazu geführt hat, dass Individualität in der Moderne zur Norm für alle werden konnte? Wo beginnt dieser Prozess, unter welchen historischen Bedingungen wurde die Ausbildung einer selbstreflexiven Individualität von einzelnen Menschen verlangt und konnte gelingen?

Individualität als Distinktions-Idee

Im 20. Jahrhundert kann man niemandem mehr verwehren, Semantiken des Individualismus zur Selbstbeschreibung zu benutzen. Jedermann darf stolz auf seine „Ecken und Kanten“ sein und behaupten, das eigene Leben sei nicht nur Rollenspiel und „Dienst“ an der Gemeinschaft, sondern habe einen eigenwilligen Sinn. Anstelle der aufgeklärten Bildung wird das Selfie wird zur kleinen Münze der Selbst-Inszenierung, bemerkt der Berliner Soziologe Hans-Peter Müller abfällig, eine „leere Form der Individualisierung“ werde zum Muster der Alltagskultur. Er bezieht sich auf den großen Soziologen Georg Simmel, der vor hundert Jahren die Demokratisierung als die „Tragödie moderner Individualität“ diagnostizierte. Im frühen 20. Jahrhundert eröffnete die Konsumwelt ein weites Feld, in dem man – und besonders auch „frau“ - für kleines Geld seinen Individualismus ausleben konnte. Das erschien den Priestern des Bildungsbürgertums als Krise des Individualismus.

Der Begriff „Individualität“ ist erst in der Aufklärung geprägt worden und meint eine „bürgerliche“ Selbstdeutung als Bewusstsein von gesellschaftlicher Einzigartigkeit und Vereinzelung. Die Individualität beschreibt eine Persönlichkeit, die durch wechselnde biographische Lagen die Kontinuität eines „Ich“ konstruieren muss, weil sie in der Ungewissheit ihres sozialen Ortes Orientierung sucht. Individualität wird geradezu erwartet in modernen Lebenszusammenhängen – dass nicht alle Menschen diese Kriterien erfüllen können, fand lange seinen Niederschlag im Diskurs über die „Masse“, die den Tieren näher stehe als dem Menschen.

Die Möglichkeit, sich als Einheit mit Eigenarten und in diesem Sinne sein „Ich“ als einzigartig sprachlich zu beschreiben und zu verstehen, wurde im 18. und 19. Jahrhundert aber auch nur eines bildungsbürgerlichen Rollenspiels und ist mit seiner Demokratisierung nicht weniger eine Illusion. Nur die Formen des WIR im ICH wandeln sich.

Vorbürgerliche Identitäts-Typen und „generalisiertes Ich“

Der Mensch in der idealtypisierten vorbürgerlichen Gesellschaft lebte in zwei symbolischen Welten, der konkret erfahrbaren Welt und dem als real imaginierten „Jenseits“. Aus dem Jenseits war die symbolische Ordnung für das Leben im Diesseits festgelegt, es gab in dieser Ordnung verschiedene Typen verbindlicher sozialer Rollen mit nur geringer Chance einer Abweichung. In der europäischen Gesellschaft des frühen und hohen Mittelalters waren gesellschaftliche Beziehungen Ausdruck der göttlichen Ordnung. Identität war der Nachvollzug eines überindividuellen, dem Einzelnen von Gott vorgegebenen Lebensmusters – eines „generalisierten Ich“ (Horst Wenzel). In den durch das Verwandtschaftssystem sozialisierten archaischen Gesellschaften hatte jedes Mitglied der Sippe seine genau definierte und für alle offenkundige Funktion, hatte also seine Identität als ein Exemplar eines „generalisierten Ich“, der Einzelne verstand sich als Repräsentant seines von Geburt an festgelegten Status.  Menschen begriffen sich als gesellschaftlich definierte „Typen“, waren Bauer, Schuster, Ehefrau, Knecht oder Magd. David Riesman hat diese Verhaltenssteuerung „Traditionsleitung“ der jeweiligen Rollen genannt.

Der Sozialraum Stadt setzt Individuen frei und verlangt Individualitäts-Bewusstsein

Der moderne Begriff der persönlichen Identität setzt die Fähigkeit zur Rollendistanz voraus. Schon in vorbürgerlichen Gesellschaften war die Möglichkeit, sich von den Rollenerwartungen frei machen, vor allem an die Stadt als einen komplexen, weniger verbindlichen Sozialraum gebunden. Die komplexeren städtischen Biografiemuster verlangten die Ausprägung eines Selbst- und Identitätsbewusstseins. Identität ist Rollenidentität, wobei jede Person in einer komplexen Gesellschaft eine Vielzahl von Rollen erfüllt. Die Pluralisierung von Rollen führt zu einer Überlappung von Zwängen und auch zu Widersprüchen. Widersprüche und sich überlappende Zwänge können Freiheitsspielräume der Rollen-Interpretation öffnen. Die jeweilige persönliche Identität liegt in der Mischung verschiedener Rollen begründet. Hinzu kommen biografische Rollenwechsel. Identität ist die jeweils individuelle Variation der Kombination von Rollen. Diese Freiheit, sich selbst die Rollen auszusuchen, die man spielen will und insofern zu binden, ist entscheidend für die Selbstwahrnehmung als Individuum. Die freie Entscheidung wird als Ermächtigung erlebt, auch wenn für den Blick von außen die neue Bindung genauso Unterordnung und nicht weniger eng ist als die alte.

Individuelle Identität gibt es nur in dem Bezug zur Sozialität, als Abweichung von der Norm. „Marginal differentiation“ (Riesman), kleine Variationen bei den Handlungsmustern, Wertvorstellungen, dem Symbolsystemen und der Mentalität ermöglichen es einem Menschen, sich als unverwechselbares Individuum zu empfinden.

Individualisierte Identität hat dabei immer eine Doppelstruktur, ist geprägt durch ein mehr oder weniger reflektiertes und mehr oder weniger großes Spannungsverhältnis von generalisiertem Typus und individueller Abweichung. Das ICH bleibt voll von WIR. Individualität und Sozialität gehören so untrennbar zusammen.

Der Rolle des Arbeiters erschöpft sich in der Freisetzung seiner Arbeitskraft

Der Arbeiter, der nach dem bürgerlichen Außenblick von Karl Marx nur seine Arbeitskraft zu Markte trägt, empfindet sich gleichwohl als befreiter Mensch - im Rückblick auf das Dorf, dem er entflohen ist. Zu der Freiheit gehört das Risiko: Während das Leben der vorbürgerlichen bäuerlichen Schichten über Generationen vor allem die Wiederholung desselben Kreislaufes bedeutete und damit Sicherheit versprach, wird das Leben in der Stadt zunehmend zum Rollenspiel mit offenem Ausgang.

Die Arbeitsteilung unterwirft die arbeitenden Klassen einer neuen Ordnung, die strenger sein mag als die alte, aber indem sie mit einer Rollendifferenzierung einhergeht, nährt sie das Empfinden des Einzelnen: Ich könnte meinen Arbeitsplatz wechseln und einem anderen Fabrikherren diesen, die Stadt wechseln - gar den Kontinent oder die berufliche Tätigkeit. Was von außen als beliebiger Wechsel beim Verkauf der Arbeitskraft erscheint, fühlt sich von innen als große Freiheit an, wobei das Gefühl „Ich könnte...“ für die individuelle Freiheit schon ausreicht, selbst wenn die Abwägung des Pro und Contra am Ende dazu führt, dass aus freien Stücken alles beim Alten bleibt. Jedenfalls was die soziale Einbindung in den Arbeitsprozess angeht. Die gedanklich durchgespielte Möglichkeit, zwischen verschiedenen Rollen (-Zumutungen) zu wählen, erscheint als Freiheit. Und während es diese Illusion von freier Entscheidung im Arbeitsprozess immer weniger gab, wuchsen ihre Chancen in der Welt des Konsums. 

Der romantische Individualismus des 19. Jahrhunderts

In der europäischen Aufklärung wurde die mythologisch und metaphysisch begründete religiöse Weltordnung kritisiert. Das Verblassen der religiösen Vorstellung einer göttlich gewollten und legitimierten Sozialordnung kompensiert der moderne Subjekt-Begriff durch die Vergöttlichung des innerweltlichen Subjektes. Schon die Reformatoren verkündeten, dass der Mensch seinen Platz in der göttlichen Ordnung durch gottgefälligen Lebenswandel sich selbst ein stückweit erarbeiten muss, sich als durch seine subjektive Anstrengung als göttlich auserwählt empfinden darf. Während in der vorbürgerlichen Zeit die besonders klugen Menschen als besonders auserwählte Diener Gottes galten, wurden sie im Zuge der Aufklärung zu quasi-göttlichen Genies, zu „Übermenschen“, deren Weisheit sie nahe an die göttliche Weisheit heranführte. Nicht mehr als gottesebenbildliches Geschöpf erlangt der Mensch seine Würde und Besonderheit, sondern als denkender Schöpfer seiner selbst.

Im Menschenbild der Aufklärung konnte sich der Mensch als ein einzigartiges Individuum aber nur in einer vernünftigen Gesellschaft verwirklichen. Aufgeklärtes Denken sollte es jedem Menschen ermöglichen, „selbstverschuldete Unmündigkeit“ in den sozialen Bindungen zu überwinden. Das war die philosophische Begleitmusik zu einer sich sozialgeschichtlich vollziehenden Auflösung alter sozialer Bindungen. Auf dieser Ungebundenheit basierte die Idee der Gleichheit der vernünftigen Menschen. Die für Individualität erforderliche Vernunft wurde den familiär weiterhin eingebundenen Frauen mit Hinweis auf ihre biologische Funktion abgesprochen. Und auch die Mehrheit der bäuerlich geprägten Menschen hatte keinen Zugang zu aufklärerischem Denken, ihren sozialen Bindungen entsprach ein affektives, phantasiegesättigtes Denken. Le Bons „Psychologie der Massen“ (1895) hat beschrieben, wie wenig die in die Städte ausgewanderte bäuerliche Mentalität den Ansprüchen an aufgeklärte Individuen entsprechen konnte.

Für das ausgehende 19. Jahrhundert diagnostizierte Georg Simmel einen „romantischen Individualismus“, dessen Kern eine Sehnsucht nach individueller ‚Selbstverwirklichung‘ und existentieller Einzigartigkeit jedes Menschen sei. Der Bourgeois sprach aber dem Pöbel die Individualität ab. Simmel fand dafür deutliche Worte: Er diagnostizierte einen „Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele“, der Massenmensch erschien ihm getrieben, „in immer neuen Anregungen, äußeren Aktivitäten eine momentane Befriedigung zu suchen“. Für Simmel ist die diagnostizierte „wirre Halt- und Ratlosigkeit“ in dem „Tumult der Großstadt“ verortet und äußert sich als „Reisemanie“. Das Volk will seinen engen Horizont überschreiten und wenigsten auf dem Feld des Konsums teilhaben am Individualismus - Simmel kann das nur als „moderne Treulosigkeit  auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile,  der Gesinnungen, der Beziehungen“ verachten, wie er in seiner „Philosophie des Geldes“ im Jahre 1900 schrieb. Adorno konnte mit seiner Kritik der Massenkultur nahtlos anknüpfen.

Für die klassische Norm erfüllter Individualität hat für Simmel und seine Zeit niemand Geringeres als Goethe Modell gestanden, alles darunter konnte er nur als Tragödie begreifen. Wobei da natürlich nicht Goethe als Mensch aus Fleisch und Blut gemeint ist, sondern der geistige Goethe, dessen Individualismus sich vor allem in den Imaginationen seiner Texte verwirklicht - da hat Goethe die Freiheiten des Menschen ausgelebt und in die Phantasie der folgenden Generationen die Begriffe und Erzählmuster der Selbstzuschreibung eingepflanzt. Zu dem genialen Individuum gehört als Kehrseite seine Vereinzelung, seine Verzweiflung, sein Leiden an der Ablösung des Subjektes aus der Gesellschaft und seiner Überforderung, Herr des eigenen Schicksals zu spielen. „Beide, die Omnipotenz des Geniebegriffes und das Leiden an der Subjektivität verweisen darauf, dass dem Individuum in der Moderne normativ etwas zugemutet wird, was es nicht leisten kann.“ (Soeffner)

Die Psychologie Sigmund Freuds wurde zu einer Wissenschaft, die die Grenzen der aufgeklärten Vernunft im Unbewussten analysierte. Als Individuen wollten sich diese Menschen aber durchaus verstehen. Und selbst die Arbeiter suchten sie die bürgerlichen Muster zu imitieren, was die Sozialdemokratie als „kleinbürgerliche Bedürfnisse“ denunzierte - in ihrem Familienleben, ihrer Freude an Besitz und ihrem Bildungsstreben. Die massenhafte (demokratische) Verbreitung des Selbstverständnisses als einzigartiges Individuum war im 20. Jahrhundert nicht mehr gekoppelt an die Maßstäbe aufgeklärten Denkens, sondern an die Möglichkeiten der Inszenierung von Besonderheit im alltäglichen Nahbereich der Freizeit und insbesondere im Konsum. Die Inszenierung der Besonderheit wird auch deutlich im Bereich der Liebe: Liebende erleben sich als einzigartig, erst die Dating-Börsen desillusionieren die Vorstellung, dass auch für die Partnerwahl auf einem Markt stattfindet, auf dem das Rollenspiel von Angebot und Nachfrage herrscht.

Persönliche Identität im ausgehenden 20. Jahrhundert

Die Massenproduktion der Distinktionsmittel führt zu einer großen Gleichförmigkeit in der konsumistischen Identität. Die persönliche Identität erscheint im ausgehenden 20. Jahrhundert in den reichen westlichen Konsumgesellschaften als Subsumtion der Menschen unter die Angebote und Nachfragen des Warenmarktes.
Die Auflösung traditionaler Sozialbindungen geht so weit, dass der Zerfall solidarischer Familien- und Gemeinschaftsstrukturen kompensiert werden muss durch eine staatlich garantierte soziale Gerechtigkeit und Fürsorge. Das Kümmern um gebrechliche Eltern oder hilfebedürftige Familienmitglieder soll staatlich gewährleistet werden, weil die Einzelnen es für eine „Überforderung“ und „Zumutung“ halten, das heißt: für eine zu starke Einschränkung ihres konsumistischen Selbstverwirklichungs-Strebens. Wegen eines pflegebedürftigen Familienangehörigen will kaum jemand regelmäßig auf den Fernsehabend oder die Urlaubsreise verzichten. An dem Beispiel wird die konsumistische Verschiebung sozialmoralischer Normen deutlich.

Die intellektuellen Protagonisten der der kulturellen Revolte der 1968er Jahre  gingen noch von der alten Idee des „romantischen Individualismus“ aus, nach der das „wahre Selbst“ des Individuums aus den entfremdenden gesellschaftlichen Überformungen befreit werden musste, mit ausreichender Sensibilität konnte man es in sich selbst auffinden und spüren. Selbstfindung bedeutet Befreiung von gesellschaftlichen Zwangen, als deren mächtigste Spielart inzwischen die „Kulturindustrie“ erschien. Geradezu selbstverständlich gingen die Studenten davon aus, dass Selbstverwirklichung auch in der Arbeit stattfinden könne und müsse. Die neuen Theoretiker dieser alten romantischen Idee waren u.a. Herbert Marcuse und Wilhelm Reich, zu den bissigen Kritikern der „Priesterherrschaft der Intellektuellen” gehörte Helmut Schelsky mit seinem Hinweis: „Die Arbeit tun die anderen” (1975) und Richard Löwenthal mit seiner Diagnose „Der romantische Rückfall“ (1970).

Das scheint ein letztes Aufleben des alten romantischen Individualismus gewesen zu sein. In den 1980er Jahren verlor sich das antikapitalistische Selbstbild in den Protestbewegungen – das neue ökologische Weltbild der Ökologie passte einerseits für „alternative“ Lebensformen des Verzichts auf Luxus und Konsum-Zwänge, es nahm der Suche nach einer Alternative aber den unbedingten Stachel. An der Entwicklung der Partei „Die Grünen“ in Deutschland ist dieser Wandel nachvollziehbar. Aus einem Sammelbecken für Protest-Gruppen wurde eine Repräsentanz von konsumfreudigen akademischen Mittelschichten, die nur eben „anders“ konsumieren wollten – zunächst nur umweltfreundlich und ohne „Atom“, dann systematisch ökologisch und schließlich auch CO2-frei. 

Die Grünen waren dabei nur Teil eines gesellschaftlichen Wandels: Der Warenmarkt reagierte dankbar auf ein Ende der Verzichts-Ideologie und nährte die steigenden neuen kaufkräftigen Bedarfe nach „gesunden“ Lebens-Mitteln. Die Schaufenster der Warenwelt erweiterten ihr Angebot für die Interessenten „vielfaltiger Selbstpraktiken zur einzigartigen Selbsterfindung der eigenen Lebenscollage“ (Undine Eberlein). Das Individuum musste sich nicht mehr selbst „finden“, persönliche Identität wird geradezu theatralisch inszeniert, erfunden: „Die Einzelnen werden mit einem ständigen Strom neuer Bilder, Codes und Anreize aus einem schier unendlichen globalen kulturellen Reservoir überflutet, aus dem sie in eigener Regie und Verantwortung eine immer wieder neue Auswahl von Elementen zur Nachahmung und Aneignung treffen (sollen).“ Individualismus wird zum Rollenspiel. Während der alte romantische Individualismus die „Konsumindustrie“ als verlockende Fremdbestimmung der Individuen ablehnte, bedient sich der moderne Individualismus bei den Mustern der glitzernden Warenwelt. Selbst die Normen körperlicher Schönheit entstammen der Warenästhetik. Dieser neue „romantische Individualismus“ der Freizeit-Gesellschaft ermöglichte eine Versöhnung mit dem - für die entsprechenden Karrieren erforderlichen - Leistungs- und Konkurrenzdenken. Die Faszination der Freizeit lässt vergessen, dass der Einzelne mit der Unterwerfung unter das Arbeitsregime sauer einiges Geld dafür verdienen muss und dass die Geld- und Arbeitgeber großen Wert darauf legen, dass sich seine Arbeitskräfte sich in der Freizeit leistungs- und marktfähig reproduzieren.

Der konsumistische Hedonismus wurde zum Geist der totalen Freizeitgesellschaft. Die Werbung für den Freizeit-Konsum befriedigt das Bedürfnis nach Sinnstiftung, nach Originalität und sozialer Anerkennung. Im Konsum kann auch jede Frau ganz „Individuum“ werden, in Millionenauflagen verbreiten Modezeitschriften die Muster dafür das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Das Warenhaus erscheint als wahres Reich der Freiheit.

Nur der Blick von außen zeigt, wie sehr die „Außensteuerung“ (Riesmann) als die „Sozialität“ hinter dem Rücken des Freiheitsbewusstseins regiert. Die Individuen wollen sich von der Masse unterscheiden und bedienen sich dann doch aus dem Regal eines inzwischen globalen Warenhauses. Dass dann andere ähnlich erscheinen, irritiert zwar das Gefühl der Exklusivität, es befriedigt aber die Sehnsucht „dazu zu gehören“. Die Objekte sind normiert und über die Kommunikation von Moden kommt am Ende doch nur wieder Uniformität heraus. Die Faszination der Moden zeigt übrigens, wie schwer es ist, wirklich Individuum zu sein - und sei es nur bei der Frage, welche Hose schön ist und welchen Hut man aufsetzen möchte. Wenn von dem Stil einer Epoche die Rede ist oder von einer Nationalkultur, dann zeigt sich daran die alte Faszination einer Zugehörigkeit zu einem sozialen Großen, in dem die jeweilige Freiheit der vielen Einzelnen versinkt. Im 20. Jahrhundert wurde aus dem Pöbel das souveräne Volk, der Einzelne bleibt aber nicht nur am Arbeitsplatz dem Regime der arbeitsteiligen Produktion unterworfen, er möchte sich als Teil eines großen Sozialen empfinden und als nationales Kollektiv feiern, auch wenn als Volk da nur Zuschauer spielen kann wie die Fangemeinde der jeweiligen Nationalmannschaft.

Die Behauptung einer bedeutsamen Einzigartigkeit jedes Menschen ist eine Fiktion wie die Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen, die dem Individualismus der Aufklärung zugrunde liegt. In der Vorstellung der Gleichheit aller Menschen steckte eine politische Sprengkraft für vordemokratische Gesellschaften. Auch in dem romantischen Individualismus steckt eine Ressource des Widerstands für die moderne arbeitsteilige Arbeitsgesellschaft, in der jeder ganz unromantisch seinen kleinen beschränkten Teil an seinem beschränkten Arbeitsplatz zum Bruttosozialprodukt beitragen soll.

Nur die Welt des Konsums erfüllt das Bedürfnis des romantischen Individualismus. Das System der Warenwirtschaft erweist sich als unendlich flexibel. Die Produkte der Warenwelt machen sogar aus der Kritik an der Warenwelt ein Geschäft. Auch an Bioprodukten wird gut verdient, das zeigen die Bio-Sortimente in den Supermärkten. Es scheint kaum störend, dass die Werbeindustrie ihre Botschaft auf T-Shirts und Markenhemden aufdruckt – wer sich daran stört, greift zu den Angeboten einer individuell bedruckten Textilie. Das Ideal der individuellen Einzigartigkeit mit seinen existentiellen Fragen „Passt das zu mir?“, „Würde ich mir damit untreu?“, „Ist dies das Leben, das ich führen will?“ (Eberlein) liefert die kaufkräftigen Individuen der Werbung aus. Die Suche nach den emotionalen und lebensgeschichtlichen Hintergründen des subjektiven Gefühls der „Authentizität“ wird von dem Markt der Psycho-Dienstleistungen bedient.

Die Welt des käuflichen Konsums bietet den romantischen Individuen eine Möglichkeit, mit dem Griff ins Portemonnaie ihre Einzigartigkeit darzustellen, wo die „Suche“ nach dem inneren Wesen noch eine intensive tiefenpsychologische Auseinandersetzung und ggf. therapeutische Begleitung erfordern würde. Während man, um sich als etwas Besonderes darzustellen, vorher noch Hermann Hesse, Proust im Regal oder zumindest die ZEIT unter dem Arm brauchte, reichen im Zeitalter der digitalen sozialen Medien ein paar Klicks für eine Inszenierung auf der Facebook-, Instagram- oder TikTok-Seite.

Das Warenlager des glitzernden Konsums bietet allen dasselbe

Je differenzierter eine arbeitsteilige Gesellschaft wird, desto größer die Bedeutung des Geldes als Medium und Symbol, das den Austausch und damit die Vergleichbarkeit der verschiedenen Produkte und Tätigkeiten ermöglicht. Auch der Geldreichtum als Distinktionsmittel wird demokratisiert, Kinder lernen in ihren sieben oder 11 Euro Taschengeld, was den Unterschied ausmacht. Die Gegenstände sind käuflich und die Tätigkeiten bepreist, das lässt sie vergleichbar und berechenbar erscheinen.

Wer genügend Reichtum hat, kann sich sogar eine Kultur der Innerlichkeit leisten - als Distinktionsmittel gegenüber der Kultur des Massenkonsums. Das klassische Bildungsideal bleibt bis heute die Folie, vor der die zeitgenössische Soziologie die Anpassungsleistungen des „kleinen Mannes“ in der modernen Gesellschaften als Verzicht oder zumindest Behinderung von Individualität beschreibt: Das Selbst wird dem Zwang der Selbstvermarktung unterworfen und zum „unternehmerischen“ Selbst, der Netzwerkmensch bastelt seine Biografie von Projekt zu Projekt, der „flexible Mensch“ ist durch die Korrosion seines Charakters charakterisiert. Nur „prekäre Individualität“ kann der Soziologe Hans-Peter Müller der Masse attestieren – und beschreibt damit nur ein bildungsbürgerliches Rollenspiel. Im Zentrum steht sie Illusion, in der bildungsbürgerlichen Selbstzuschreibung würde nicht auch das „WIR“ das „ICH“ dominieren, als würden die Normen der Sozialität viel Rollen-Spielraum für Individualität lassen.

Die Welt des Konsumismus

Das protestantisch-bürgerliche Ideal einer auf die Arbeit bezogenen, disziplinierten und angestrengt leistungsorientierten Lebensführung kommt unter die Räder des Konsumismus, so Norbert Bolz 2002 in seinem „Konsumistischen Manifest“Einzig der „Konsumismus“, so die provozierende These von Bolz, ist in der Lage, den ideologischen Krieg zwischen Fundamentalismus und Kapitalismus zu überwinden.

Die Konsumwelt braucht alle gleichermaßen als Kunden, Frauen mehr noch als die Männer, Herren und Knechte, selbst die, die in der Welt der Arbeit überflüssig geworden ist. Und wenn man schon alles hat, was man braucht, kann man sich an der Vermehrung des Geldes erfreuen, verspricht es doch, später einmal irgendetwas zu kaufen (was man nicht braucht), entscheidend ist die Kauf-Lust, und kann man sich auch leisten, richtig sozial zu werden und sich um die arme Natur oder arme Menschen zu kümmern. Im Kaufrausch lassen sich Langeweile und Perspektivlosigkeit vergessen. Erst in der Konsumwelt erfüllt sich paradoxerweise das Gleichheitsversprechen der Aufklärung. Die Welt des glitzernden Konsums verspricht Freiheit, Geborgenheit, Gesundheit, Individualität, Liebe und Sinn. Individuelle Identität und Sozialität scheinen wie von einer unsichtbaren Hand im Massenkonsum verschmolzen.

In der Welt des Konsums herrschend die Marken über die Identität der Kunden, über die Marken definieren sich die Typen der modernen Identität. Mit der Digitalisierung bekommt der Konsumismus eine virtuelle Dimension.

    dazu auch mein Text „Konsumismus oder Communis-mus“  MG-Link

    vgl. auch die Texte
    Bewusstsein des Selbst - über das  ICH-Erleben im Verlauf der Evolution des Bewusstseins MG-Link
    Wie kommen Menschen zu Bewusst-Sein? MG-Link
    Das I
    ch hat auch eine Mediengeschichte: Schrift, Buchdruck-Kultur
         und die Gesellschaft der Individuen  MG-Link
    Selbst im Netz - Identitätskonstruktionen des „Wir-Ich” und Techniken des Selbst
           in der digitalen Medien-Gesellschaft 
     
    MG-Link
    Das japanische Zwischen-Ich als „Du von Du” und die Digitalisierung der Gesellschaft  MG-Link

    Lit.:
    Martin Altmeyer, Im Spiegel des Anderen: Anwendungen einer relationalen Psychoanalyse (2003)
    Norbert Bolz, „Das Konsumistische Manifest“ (2002).
    Undine Eberlein, Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne (2000)
    Undine Eberlein (Hg.), Zwischenleiblichkeit und bewegtes Verstehen  (2016)
    Hans-Peter Müller, Wie ist Individualität möglich? in Zeitschrift für Theoretische Soziologie 01/2015
       online abrufbar Link (Zugriff 01-2021)
    Norbert Ricken, Rita Casale, Christiane Thompson (Hrsg.), Die Sozialität der Individualisierung (2016)
    Hans-Georg Soeffner, „Typus und Individualität“ oder „Typen der Individualität“? – Entdeckungsreisen in das Land, in dem man zuhause ist, in: Horst Wenzel (Hrsg.) Typus und Individualität im Mittelalter (1983)

     

    Unsystematische Zusätze zur Vorgeschichte des Individuums:

    Dass sich Menschen körperlich als „Individuen” spüren und empfinden, hat seine Ursprünge in den auf Dauer angelegten Paarbindungen, in denen sexuelle Begierde zu einer exklusiven erotischen Bindung sublimiert wird, behauptet der Philosoph Ferdinand Fellmann (s. MG-Link).
    Eines der frühen Zeugnisse dieser Erotik, das „Lied der Lieder” des Salomon, zeigt gleichzeitig, dass diese gefühlte Bindung ein Rollenspiel beschreibt, das nur mit allgemeinen, der Tierwelt entlehnten Metaphern ausgedrückt werden konnte (MG-Link). Es gab keine Sprache und kein Bewusstsein für eine Einzigartigkeit der erotischen Bindung.
    Aber wann begannen die Menschen in Europa, sich als Individuen zu denken und was waren die soziologischen Gründe für dieses neue Bewusstsein?
    Wenn Kulturtheoretiker wie der Schweizer Jacob Burckhardt (1818-1897) sehr pauschal die europäische Renaissance zur eigentlichen Geburtsstunde des Individuums erklären, macht das die Projektion deutlich, die mit dieser Begriffsbildung einher geht.

    Faszinierend ist es, zu fragen, wie einzelne Personen wie Sokrates, Alkibiades, Caesar, Caligula, Marc Aurel – „ich" sagen konnten. Bei Herrschern gehörte das zu ihrer Rolle, die zum Beispiel im Falle der ägyptischen Pharaonen äußerst streng ritualisiert war, aber ein Sokrates konnte sich originell der herrschenden Werte-Ordnung widersetzen – und bis zum letzten gehen. Wenn Freiheit voraussetzt, „dass einem etwas wurscht Ist“, wie Valentin Grobner treffend formuliert, dann war Sokrates frei, weil ihm das Leben „wurscht“ war. Das macht ihn bis heute zu einem außergewöhnlichen Individuum. Eine solche Sonderrolle konnten Einzelpersonen in einer städtisch geprägten Bildungs-Kultur spielen, während ansonsten vorbürgerliche Gesellschaften und auch die Verhaltensweisen  geprägt durch „generalisierten Ichs“, eben Rollen mit geringem individuellen Abweichungspotential.

    Auch die Figuren der religiösen Herrschaft waren Menschen, die aus der irdischen Sozialordnung herausgetreten waren und die damit zu so etwas wie Repräsentanten der jenseitigen Ordnung wurden. Da die Sexualität in der christlichen Herrschaftsordnung ein Kennzeichen des sündigen – irdischen Lebens - war, lag es nahe, die Abstinenz, den Zölibat als Kriterium für das Jenseits-bestimmte Leben zu begreifen. Die religiösen Autoritäten fielen damit automatisch aus der sozialen Ordnung der Familien und der Dörfer heraus, die soziale Aussonderung der Mönche und Eremiten war die Voraussetzung für das Erleben der „Offenbarung“ Gottes. Sie waren an strenge Ordens-Regeln gebunden waren, entsprachen also einer Rolle. Dass sie über Jahrhunderte die philosophische und theologische Bildung monopolisierten, gehörte zu ihrer Rolle als Außenseiter im Nahbereich der diesseitigen Welt. Nur ihre hinterlassenen Schriften machte einige von ihnen im bildungsbürgerlichen Rückblick zu besonderen Individuen.

    Im antiken Ägypten waren die Menschen in ihre Gemeinschaft eingebunden, auch räumlich. Das spiegelte sich in dem Jenseitsglauben wider - auch die Toten waren lokal gebunden: Wer in der Fremde starb, konnte nicht die nötige sorgfältige Behandlung für das Leben im Totenreich erwarten. „In der ägyptischen Malerei ist nicht das einzelne Individuum und dessen Subjektivität wichtig, sondern die Dinge und die ihnen zugehörige Ordnung und Form.“ (Peter Normann Waage, Ich: Eine Kulturgeschichte des Individuums (2014)
    Nach dem ägyptischen Selbstverständnis bestand der Mensch aus seinem Körper und zwei Typen von Seele: Ka und Ba. Ka bezieht sich auf den Körper, hält ihn zusammen und bleibt beim Körper bis zum Tod. Ba ist der Teil der „Seele“, die den Körper während des Schlafes verlässt. Ba wird in Form eines Vogels mit Menschenkopf dargestellt. Der römische Historiker
    Diodoros hat verwundert beschrieben, wie eng für die Ägypter die Welt der Lebenden und der Toten verbunden war: „Sie nennen die Wohnungen der Lebenden Herbergen, die Gräber der Toten aber ewige Häuser.“ Das Totenreich hieß „Land des Lebens“ und der Sarg wurde „Herr des Lebens“ genannt. Zur Biografie eines Menschen gehörte sein Leben nach dem Tod und was er in diesem Leben getan oder unterlassen hatte, prägte sein Schicksal im Reich der Toten.

    Einen Bruch mit der langen ägyptischen Tradition verkörpert der Pharao Amenhophis IV. (=„der Sonnengott Amon ist zufrieden“), der von ca. 1364-1346 regierte. Er nannte sich Echnaton, was bedeutet: Aton, der Sonnenschein ist angenehm. Er versuchte die Priesterschaft in Theben zu entmachten, verlegte seinen Herrschersitz nach Achet-Aton, „Atons Horizont“ (heute Al-Amarna), einer neu gegründeten Stadt und ließ auf den Statuen die Namen der Götter Ägyptens durch seinen Gott Aton ersetzen. Die jährlichen rituellen Feste wurden umgewidmet. Aton wurde vorgestellt als die Personifikation der lebensspendenden Kraft der Sonnenscheibe. Echnaton ließ sich gleichzeitig als Individuum darstellen. Die Statuen stellen Echnaton als Person dar, nur die ihn umgebenden Symbole zeigen, dass wir einen Pharao vor uns haben. Echnaton sitzt scheinbar privat mit seiner Frau Nofretete zusammen, die er zärtlich berührt, er spielt mit den Kindern. Von Echnaton werden persönliche Eigenschaften und Entscheidungen berichtet – ganz im Gegensatz zu den Rollenbildern der früheren ägyptischen Pharaonen. Sein Nachfolger Tut-ench-Amon beendet die Episode – er führt den Amon-Kult wieder ein.
    Nach Echnatons frühem Tod wütete in Ägypten eine schreckliche Pest, das wurde als Strafe für die Blasphemie des Pharao interpretiert. Das Gedächtnis an Echnaton wurde in Ägypten ausgelöscht. Echnaton war eine Ausnahmeerscheinung, er hatte in Ägypten keine Wirkung in seiner Zeit. Erst 1887 fand eine ägyptische Bäuerin einige Tontafeln in der Erde, die von ihm und seinem Sonnengott-Kult berichtete.