Klaus Wolschner                     Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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Über die
Mediengeschichte der
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Warum Europa? 
Über die Bedeutung der Kommunikation für den 
Übergang von der agrarischen zur industriellen Kultur

4-2017

Ursprünge der agrarischen Kultur - Sesshaftigkeit

Vor rund 10.000 Jahren begannen menschliche Gemeinschaften, neben ihrer Jagd auch Formen der agrarisch bestimmten Produktion von Lebensmitteln und daraus folgend Siedlungsformen der Sesshaftigkeit zu entwickeln. Den Anstoß dazu hat vermutlich der Klimawandel in Folge des Anstiegs des Meeresspiegels am Ende der Eiszeit gegeben, der Meeresspiegel stieg um rund 100 Meter an. Der Persische Golf wurde erst vor 7.000 Jahren überflutet. Von solchen Überschwemmungskatastrophen berichten diverse „Sintflut“-Mythen, offensichtlich wurden auch frühe Siedlungsgebiete überschwemmt. Mit der Veränderung der Wasser-Land-Verteilung gingen andere radikalen Veränderungen einher – sie betraf die Vegetation und natürlich auch die Jagdbedingungen. 

In solchen turbulenten Phasen wird Innovationsbereitschaft belohnt - mit der der „neolithischen Revolution“ entstanden agrarische Siedlungsgemeinschaften, eine Million Jahre der Jäger- und Sammler-Kultur gingen zu Ende. „Sicherlich haben die Menschen jetzt mit einer Vielzahl von Praktiken experimentiert, bis sie sich in neue, sich stabilisierende Verhältnisse einrichten konnten.“ (Sieferle)

Das Zentrum dieser neuen agrarischen Kultur war der sog. „fruchtbare Halbmond“, ihre frühe dokumentierte Ausprägung war beheimatet zwischen dem anatolischen Cayönu, dem Jordantal (Jericho) und der fruchtbaren Ebene von Euphrat und Tigris.

Fruchtbare_Halbmond

Offenbar unabhängig davon gab es den Übergang zur Landwirtschaft aber auch in Südostasien auf der Basis von Reis und in Mittel- und Südamerika mit Mais, Kartoffeln und Maniok.

Schon in den frühesten Formen der Sesshaftigkeit lässt sich ein Muster der sozialen Organisationsformen erkennen, das für agrarische Kultur typisch sind: Die sesshaften Gemeinschaften bleiben in Stämmen organisiert, Familien-Clans wie Stämme sind Kultgemeinschaften, Stämme können „tributär“ in Machtzentren zusammengefasst werden und kooperieren. Es entwickelte sich eine Arbeitsteilung mit Tausch und Handel, die Haushalte geraten in Abhängigkeit voneinander.

Das mit der tributären Zentren-Bildung einhergehende Konfliktpotential musste geregelt und über die Reichweite rein mündlicher Kommunikation hinausgehend festgeschrieben und dokumentiert werden. In diesem Zusammenhang stehen  theokratische Erzählungen – sie legitimieren die Machthaber. Diese Erzählungen beschreiben die rituelle Bestätigung der Machtstrukturen - es gibt keine stabile Herrschaft ohne die Befriedigung des menschlich-mentalen Bedürfnisses nach höherem Sinn. Alle archaischen Herrschaftskulturen haben Mythen, in denen die großen Götter den Kosmos geschaffen haben. Die schriftlich dokumentierten Erzählungen regeln aber auch ganz praktische Alltagsfragen: wer wen töten und wer wen heiraten kann, wer was erbt und wie Diebstahl bestraft wird, welche Körperteile bedeckt sein müssen. Auch die Unterwerfung der Frau war in allen sesshaften Kulturen, die ja in ihren Erzählungen noch weibliche Gottheiten kennen, ein Thema mit großem Regelungsbedarf. Nicht nur im Nahen Osten, auch in Nordchina, in Mittelamerika und in der Andenregion sind solche Sesshaftigkeits-Kulturen unabhängig voneinander entstanden.

Imperien auf landwirtschaftlicher Basis

Wer ein Imperium bilden will, muss unterschiedliche, meist nebeneinander lebende ethnische Völker integrieren und in seine dominante Kultur einzubinden suchen. Die Basis der agrarischen Zivilisation bleiben die bäuerlichen Gemeinschaften, die sich als Teile ethnischer Gruppen verstehen. Rein militärisch kann man Nachbar-Regionen unterwerfen und Abgaben eintreiben, aber nicht ferne Landstriche langfristig binden. Das Machtzentrum in der agrarischen Kultur kann durch reale Leistungen seinen Sinn zu unterstreichen, die wesentliche reale Leistung wäre der Schutz, die Verteidigung gegen Fremde. Legitimität kann das agrarische Imperium aber nur durch ein gemeinsames ideelles Dach gewinnen, durch religiöse Kulte. Da solche Kulte nicht einheitlich für ein tributär gefügtes Imperium durchgesetzt werden können, entwickelte das persische Großimperium eine Doppelstrategie: Exemplarisch wurden einzelne regionale Kulte dem Erdboden gleich gemacht und vernichtet, andere wurden toleriert und dem eigenen Kult assoziiert. Auch das frühe römische Imperium war tolerant gegenüber verschiedenen Kulten – solange den römischen Staatsgöttern gehuldigt wurde. Zur Durchsetzung des christlichen Kultes als religiöser Mono-Kultur hat das römische Imperium zwei blutige Jahrhunderte gebraucht.

Für die agrarischen Zivilisationen ist immer wieder ein Zyklus von Aufstieg und Niedergang beschrieben worden. Offenbar haben sie begrenzte Mittel, ihre Stabilität über mehrere Herrscher-Dynastien aufrecht zu erhalten und durch eine kontinuierliche kulturelle Entwicklung zu stabilisieren. 

Das gilt für die vorderorientalischen Zivilisationen Mesopotamiens und Ägyptens wie für das antike Griechenland und das in dessen Tradition stehende römische Imperium. Die islamischen Imperien, die ihre Blütezeit nach dem Zerfall des römischen Reiches hatten, lassen eine ähnliche Entwicklungslogik erkennen, in China erlitt dieses Schicksal die Song- und später die Ming-Dynastie.

Renaissance und Reformation, so stellt Sieferle fest, waren kulturelle Phänomene in der „Blütezeit“ einer agrarischen Zivilisation, wie sie es vorher ähnlich im islamischen Raum (al-Andalus, Bagdad) oder in China gegeben hat – ohne dort weiter reichende Transformationsprozesse generiert zu haben. 
Die kulturelle Blüte in traditionellen agrarischen Imperien wurde vor allem als Schmuckwerk der Höfe finanziert und als Kultur der Herrscher instrumentalisiert. Da die Imperien theokratisch legitimiert sind, ist die Kultur die einer theokratischen Elite – auch wenn sie ein gewisses Eigenleben entwickelt wie im Falle der Scholastik.

Singularität von Renaissance und Reformation

Die europäische Geschichte von Renaissance und Reformation war aber keine der Höfe, sie basierten als geistige Bewegungen auf einer polyzentrischen Struktur europäischer Städte und waren in deren Bürgergesellschaft tief verankert. Die Reformation war im Kern eine Volksbewegung, die sich gegen die legitimierte Herrschafts-Ordnung wendete, auch wenn sie im Streit der Fürsten instrumentalisiert und damit ihr Erfolg stabilisiert wurde.

Die Erfindung des Johannes Gutenberg hat die technischen Voraussetzungen geschaffen, um beiden kulturellen Prozessen – der Renaissance und der Reformation – zu einer in der Kulturgeschichte beispiellosen Verbreitung und Verankerung in den Städten zwischen Amsterdam, Prag und Florenz zu verhelfen. Die Drucktechniken im asiatischen Raum blieben demgegenüber Herrschafts-Kommunikationstechniken, sie entfalteten keine gesellschaftliche Dynamik.

Dagegen ermöglichte die gemeinsame Gelehrten-Sprache Latein im Netzwerk der europäischen Städte, die zunächst vor allem durch Handelsverbindungen verknüpft waren, eine Zirkulation von Druckwerken und Gedanken zwischen den urbanen Eliten. Da diese Eliten in „katholischer“ Tradition durch gemeinsame kulturelle Grundhaltungen geprägt waren, hatten sie im Jahrhundert der Reformation auch zwischen Schweden und Spanien ein gemeinsames Thema und Konfliktpotential.

Wobei dieses Europa, machtpolitisch gesehen, ein Flickenteppich war. Die kleineren Einheiten konkurrierten um waren, aber auch um technische Verfahren, um Arbeitskräfte und um Informationen. Diese Konkurrenz eröffnete Freiheitsspielräume – auch für den großen und oft blutig ausgetragenen Streit der Zeit, in dem es um die Infragestellung des tradierten Herrschaftswissens ging. Dass die Neuerer zunächst ihre geistigen Innovationen als „Renaissance“ darstellten, also nur die Erinnerung an altes Wissen, zeigt ihre Verlegenheit. Bald aber entwickelte sich ein neues Selbstvertrauen, ein Bewusstsein, in einer neuen Epoche zu leben. Damit verbunden war die Freude an Innovation.

Technische Voraussetzung der spezifisch europäischen Dynamik der Druckkultur war die geniale Einfachheit des griechisch-römischen Alphabets, das es erlaubte, mit wenigen Zeichen beliebig viele Klang-Formen zu bilden und damit Inhalte zu formulieren. Mit diesem Alphabet ließen sich die Denkinhalte auf zwei oder drei Dutzend Zeichen reduzieren.

Auch dem indisch-arabischen Zahlensystem liegt eine radikale Reduktion zugrunde, diese „Dezimalisierung“ der Zahlenwelt zusammen mit dem Positionssystem war die geistig-technische Grundlage des Aufschwungs der Mathematik. Als „höfische“ Kultur hat die Geschichte der Mathematik begonnen, ihre Dynamik entfaltete sie erst als Kultur der Kaufleute und der europäischen Stadtbürger.

Während die Gelehrten der oral-handschriftlichen Kultur Mühe hatten, das vorhandene Wissen zu reproduzieren und zu tradieren, weil das Wissen immer an die Person gebunden blieb und mit dieser „starb“, wurde die Buchdruck-Technik zur Voraussetzung einer von den Zeitgenossen euphorisch wahrgenommenen und betriebenen Akkumulation von Wissen, die Produktion von neuem Wissen anregte. Die Kluft zwischen gebildeten (Natur-) Philosophen und handwerklichen Tüftlern war im neuzeitlichen Europa geringer als in anderen agrarischen Zivilisationen, etwa in der Antike oder in China. In der Stadtkultur trafen die beiden Gruppen aufeinander. Es gab Leitbild-Figuren wie Leonardo da Vinci (1452-1519), der als Universalgelehrter gleichzeitig Mechaniker und Naturphilosoph war.

Die Bucherflut objektivierte die zirkulierenden Informationen, machte die Überprüfung des Wahrheitsgehaltes unabhängig von den charismatischen Eigenschaften ihres Sprechers und damit überprüfbar.

Der Buchdruck ermöglichte es so, das Kommunikationsmuster der agrarischen Kultur zu transzendieren – ein in der Kulturgeschichte singulärer Vorgang.

Industrialisierung und Kommunikation

Erst die Industrialisierung, basierend auf der systematischen Ausnutzung des fossilen Brennstoffes Kohle insbesondere für die Eisengewinnung, konnte das Gesamtsystem der agrarischen Produktion aufbrechen. Die Dampfmaschine,  die Spinnmaschine und der mechanische Webstuhls wurden im 18. Jahrhundert die Symbole der neuen Zeit. Aber der mechanistische Blick auf die Welt war weit älter als die technische Realisierung solcher Maschinen. Diese systematische Nutzung neuer Produktivkräfte, die zum Umbau der agrarischen Produktionsverhältnisse führte, vollzog sich in einem geistesgeschichtlichen Kontext, in dem die Faszination des Neuen verbreitet war. Ohne diese  Kommunikationsstrukturen der städtischen Netzwerke wäre die Nutzung von Kohle-Verbrennung möglicherweise eine isolierte Tüftler- Erfindungen mit Reichweite lokal begrenzter Reichweite geblieben – so wie die ägyptischen Technikphantasien des Mathematikers Heron von Alexandria , der mit Dampfkraft die Tempeltüren öffnen wollte oder der osmanische Universalgelehrte Taqi ad-Din, der 1551 den Mechanismus einer Dampfturbine beschrieb - als Antrieb für einen Drehspieß, auf dem ein Schaf gegrillt werden könnte. Seine Erfindung war ein Gedankenspiel, sie wurde nicht gebraucht und ging unter in seiner Schrift, die den anspruchsvollen Titel hatte: „Die hohen Methoden der spirituellen Maschinen". Die antiken und spätmittelalterlichen Modelle von Automaten dienten der intellektuellen Bewunderung, nicht dem Ersatz von Arbeitskraft. Denn die Arbeitssklaven waren billiger als die Maschinen es hätten sein können.

Die agrarische Produktion basierte auf Ausbeutung der Sonnenenergie und der Böden, Wachstumsprozesse mussten früher oder später an Grenzen stoßen. Es gab keine Dynamik des „immer mehr“. Agrarische Zivilisationen besaßen keine inhärente Tendenz zur Industrialisierung, konstatiert Sieferle.

Es sind mehrere Faktoren zusammenkommen, als in Europa das jahrtausendalte Muster agrarischer Kultur durchbrochen wurde. Diese industrielle Transformation war singulär, sie hat einen zeitlich und geographisch identifizierbaren Ausgangspunkt und verbreitete sich im Verlaufe von 200 Jahren über die gesamte Erde: Es kam zu einem längerfristigen Bevölkerungswachstum, das nicht wegen der Knappheit der Lebensmittel zu großer Armut führte, wie es Thomas Robert Malthus vorausgesagt hatte, sondern begleitet war von einem gleichzeitigen Wachstum des Pro-Kopf-Verbrauchs der Bevölkerung und einer sensationellen Zunahme des Verbrauchs von Energie und Rohstoffen. Nachdem die Wälder abgeholzt waren, wurde mit der Kohle ein scheinbar unendliches Reservoir von Energie erschlossen. (1) 
Um 1830 war die Industrialisierung des Königreichs Großbritannien konkurrenzlos, England war umgeben von Agrarländern. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde es Deutschland und den USA überholt. In Russland und im Osmanischen Reich versuchten die Zentralstaaten, auch aus militärischen Gründen, die Industrialisierung zu erzwingen, es kam aber nicht zu einer selbst tragenden Dynamik. Die agrarische Produktion wurde immer mehr an den Rand gedrängt, bis endlich im 20. Jahrhundert auch die Agrarwirtschaft selbst „industrialisiert“ wurde.

Treibende Kraft war im 19. Jahrhundert schnell „Amerika“ geworden, das Land der europäischen Auswanderer und des Reichtums auf Grundlage ausgedehnter Sklavenwirtschaft. In den „Vereinigten Staaten“ hatte sich eine europäische Gesellschaft ohne bremsende „feudale“ Relikte gebildet, ohne Zunft-Ordnung und Relikte von alten theokratischen Strukturen, die die Innovationspotentiale im alten Europa bremsen konnten. In diesem „Amerika“ war Freiheit vor allem unternehmerische Freiheit: Wer ein Geschäft machen konnte, musste das nicht weiter rechtfertigen. Auch die Kommunikation – die Produktion von Büchern und Zeitungen – war ein Geschäft und frei von kultureller Zensur.

Mit der Marktwirtschaft als wirtschaftlicher Organisationsform wurde die Industrialisierung zu einem selbsttragenden, globalen ökonomischen Prozess. Jeder Versuch, diesen Prozess die Rationalität der Fabrik-Organisation aufzuzwingen oder ihn auch nur vorsichtig zu steuern, birgt die Gefahr, dass er nur gebremst wird. Die Subjekte der industriellen Kultur koordinieren ihr wirtschaftliches Handeln selbst – auf der Grundlage einer offenen Kommunikation. 

    vgl. dazu auch meinen Text: Warum nicht der Islam? Warum Europa?  M-G-Link

    Anm: 
    (1) Und als Kohle und Öl-Vorräte endlich zu werden drohte, gab es die Hoffnung, dass mit der Atomenergie die moderne Vision des „immer mehr“ fortgeführt werden könnte.

    Lit:
    Rolf Peter Sieferle, Lehren aus der Vergangenheit (2010)