Klaus Wolschner                     Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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Texte zur  Kommunikation
von Religion

 

Cassiodor (485-580) war ein klassisch gebildeter römischer Staatsmann, der lange Jahre in Diensten des Kaisers Theoderich gestanden hatte, der also die Prozesse der Zerstörung der antiken Kultur aus seiner politischen Erfahrung kannte – und sich in hohem Alter ganz der Rettung dessen, was zu retten war, widmete.

 

German Hafner:

Cassiodor - ein Leben für kommende Zeiten

Die Zeit drängte. Christen und Goten hatten die öffentlichen Bibliotheken geplündert und alles verbrannt, was heidnisch war. Zum Christentum Übergetretene trennten sich mit Abscheu von ihren Büchern, die von Heiden geschrieben waren. Cassiodor war entschlossen, zu retten, was noch zu retten war; er suchte systematisch nach Handschriften und schickte seine Agenten in die entlegensten Gegenden. Zahlreiche Bücher waren von christlichen Eiferern

auf den Abfallhaufen geworfen worden oder in irgendeinem Winkel des Hauses abgelegt. Hier gab es die Möglichkeit, diese gegen ein geringes Entgelt zu erwerben. Sein Reichtum erlaubte es aber Cassiodor auch, größere Summen für Bücher auszugeben. Vielleicht hat er seine Aufenthalte in Konstantinopel dazu genutzt, Handschriften zu suchen und zu erwerben. Dort bestand kein Interesse an ihnen,  …  die Hauptmenge musste durch Abschreiben beschafft werden.
(…)
Cassiodor verpflichtete die Mönche seines Klosters zum Abschreiben der alten Texte. (…) Das Abschreiben der Bücher bedeute einen Kampf gegen den  Teufel: „tot enim vulnera Satanas accipit quot antiquarius Domini verba  escribit" („Denn der Satan empfangt soviel Wunden, wie der Schriftkundige Worte des Herren abschreibt")
(…)
Wenn er also versuchte, den Unterschied zwischen heiligen Schriften und denen der Philosophen zu bagatellisieren, so tat er dies mit dem Ziel, die heidnischen Schriften zu retten, die alle verbrannt wurden und als  Teufelswerk galten. Öffentlich für deren Erhalt aufrufen konnte niemand ohne Gefahr für Leib und Leben.

Selbst hinter den Klostermauern war es klug, den Eindruck zu erwecken, als seien alle Bücher „heilige Schriften". Die Vervielfältigung der Schriften geschah nach der alten Methode mit einem Vorleser und einer Gruppe von Schreibern. Zwar konnte Cassiodor damit rechnen, dass viele seiner Mönche dabei keine Fehler machen würden, doch schien es ihm nützlich zu sein, in einer Schrift „de orthographia" in 12 Kapiteln die nötigen Anleitungen zur Vermeidung von Schreibfehlern zu geben. Weiter unterrichtete er seine Mönche durch die Schrift „De ordine generis Cassiodororum, qui scriptores extiterint ex eorum progenie vel ex civibus eruditis". („Über die Ordnung der Gemeinschaft der Cassiodorer, die wegen ihrer Herkunft oder aus gebildeten Bürgerkreisen stammend Schreiber werden").

Cassiodor war stets bemüht, den Eindruck zu erwecken, als beziehe sich das Abschreiben auf religiöse Texte. „Der Mensch vervielfacht die himmlischen Worte, und mit einer gewissen vergleichshaften, - wenn man so sagen darf -, Bedeutung wird mit drei Fingern geschrieben, was die Tugend der Heiligen Dreieinigkeit aussagt" (Inst, l, 30, 1). Cassiodor schreckt also nicht davor zurück, in den drei zum Schreiben gebrauchten Fingern ein Symbol der Dreieinigkeit zu sehen.
(…)
Cassiodor wusste, dass seine Bemühungen um den Erhalt der heidnischen Bücher sich nicht auf ihre Vervielfältigung beschränken dürfe. Denn auch diese Abschriften würden einst vernichtet werden, wenn jener Drang nach Wissen, der nach Aristoteles jedem Mengen eingepflanzt sei, ausgerottet sein würde. Gefahr drohte immer.

Glaubensfanatiker würden die Bücher verbrennen mit der Begründung, dass sie entweder dasselbe enthalten wie die heiligen Schriften, dann seien sie überflüssig, oder etwas anderes, dann seien sie gefährlich. So soll Kalif Omar I. (580-644 n. Chr.) argumentiert haben, als er in Alexandria die noch vorhandenen Bücher verbrennen ließ.
(…)
So entstanden im Vivarium jeweils eine größere Menge von Handschriften nach Vorlagen, die wohl zum Teil nur entliehen waren. So konnte Cassiodor ein Werk nicht nur für die Klosterbibliothek gewinnen, sondern mit den anderen Exemplaren weitere Werke eintauschen. Damit löste er eine Entwicklung aus, die bald dazu führte, dass allenthalben in den Klöstern, besonders bei den Benediktinern, Abschreiber am Werke waren, die die Schriften der antiken Autoren vervielfältigten und damit retteten.

Seine Leidenschaft für die Bücher trug ihm in der Nachwelt den Namen „Libripotens" ein, was „Büchermächtig" aber auch „Mit Büchern glücklich" heißen kann. Er war wohl beides. In seinen letzten Jahren konnte er zufrieden sein in der begründeten Hoffnung, dass ein großer Teil der antiken Literatur gerettet sei und damit die humanen Ideal von einem freien Menschentum nicht untergehen musste. Das Kloster war zur Zuflucht („castellum")  der Kultur geworden.

Als er ca. 588 n. Chr. starb, hatte er noch erlebt, dass man die Zeit nicht mehr nach den olympischen Spielen, die 393 n. Chr. von Theodosius verboten wurden, auch nicht mehr nach der Erbauung Roms, nach römischen Konsuln oder nach Kaiser datierte, sondern nach der Geburt Christi …

aus:
German Hafner: Cassiodor - ein Leben für kommende Zeiten (Stuttgart 2002), Seiten 69ff