Klaus Wolschner  Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

www.medien-gesellschaft.de


III
Medien
-Theorie

Wir-Ich Titel kl1

Neue Medien,
neue Techniken des Selbst:
 Unser digitales Wir-Ich

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Schriftmagie Cover

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre
Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion
im  Jahrhundert
des Auges:
Virtuelle Realität
der Schrift

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Augensinn Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen:

Augensinn und
 Bild-Magie

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GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne:
Wie Glaubensgefühle
Geschichte machen

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POP55

Über traditionelle
Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der
Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-752948-72-1
 

Konsum statt Arbeit

Die Zeche ist tot, am Fließband arbeiten die Roboter. Aus der menschlichen Arbeit wird industrielle Produktion und Angestelltentätigkeit. Das bedeutet einerseits „Befreiung“ von harter Arbeit. Aber für die, die hart arbeiten mussten, war Arbeit nie nur Broterwerb – sie suchten Sinn in ihrer Arbeit.
Oft notgedrungen.
In dem Maße, wie die jeweiligen Tätigkeiten als flexibler „Job“ wahrgenommen werden und die arbeitsfreie Zeit zunimmt, suchen die Menschen ihren Lebenssinn in ihrer Freizeit. Der moderne Mensch unterwirft sich in seinem Job den Zwängen der Arbeit, um Geld zu verdienen für seinen Konsum in der Freizeit. Dort erscheint er sich frei.
Der Konsum wird zum Medium der Kultur des Selbst.
Früher haben Religionen und ihre säkularen Verwandten einen verbindlichen Rahmen für das Selbstbild der Gemeinschaft und des einzelnen Menschen bereitgestellt. In der modernen Gesellschaften bieten sich Vergnügungskultur und „Konsumismus“ als Religionsersatz an,
als Sphären einer Wiederverzauberung der entzauberten Welt.

2022 UdWI

Arbeit war einmal Lebenssinn, einfach weil es keine Alternative gab. Jedenfalls nicht im Bewusstsein derer, die als Sklaven, als Leibeigene oder Industriearbeiter zwölf Stunden am Tag schuften mussten. Und wer einen „freien Beruf“ ausüben konnte als Handwerker, Philosoph oder Kaufmann, der identifizierte sich mit seiner „Berufung“. Dass Arbeit „flexibler“ wird, eher Job als Berufung oder Lebenssinn, hat unterschiedliche Ursachen. Eine wichtige ist der gesellschaftliche Reichtum. An der Arbeit hängt nicht mehr die materielle Existenz. Turnschuh

Je mehr Freizeit es gibt, desto eintöniger erscheint die Arbeit und desto bunter die Möglichkeiten des Konsums in der Freizeit. Dann wird das Verhältnis von Arbeitsleben und Freizeit  zum Problem - die Rede von der „Work-Life-Balance“ ist ein Schönsprech für Sinnenleere der Arbeit. Das Bedürfnis, gebraucht zu werden und in der Arbeit Sinn zu finden, findet sich vor allem bei den „Freelancern“, also denen, die keine feste Stelle haben. Swenja Flasspöhler hat ironisch von den neuen „Genussarbeitern“ gesprochen: „Wir, die wir unsere Arbeit gern tun und uns in ihr verausgaben auch über das erforderliche Maß hinaus, sind keine Pflichtarbeiter im herkömmlichen Sinne mehr, sondern Genussarbeiter.“ Diese modernen Selbstausbeuter, die von sich behaupten, sie würden gern arbeiten, sind aber keine Hedonisten, sie kämpfen um eine fundamentale Anerkennung. Ein Drittel der Beschäftigten in der Kreativwirtschaft befinden sich in prekären Arbeitsverhältnissen.

„Freizeit” demonstriert sogar das Schuhwerk,
das im Job fast überall getragen wird.

 

Keine „Humanisierung der Arbeit“

Es ist verräterisch, dass die schöne Idee einer „Humanisierung der Arbeit", die Jahrzehnte lang im Zentrum „fortschrittlicher“ Gewerkschaftspolitik stand, vollkommen aus der politischen Diskussion verschwunden ist. Die Sachzwänge der Produktion schlagen durch, erlauben keine bremsende „Humanisierung“, und die am wenigsten humanen Arbeitsprozesse finden sich in den Bereichen von Hilfstätigkeiten, in denen es kaum Gewerkschaftsmitglieder und daher kaum gewerkschaftliche Interessenvertretung gibt. 1958 hat Hannah Arendt so klarsichtig wie nebulös formuliert: „Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“ Ralf Dahrendorf hat den Gedanken mit der Formel vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ (1982) aufgegriffen.

Anders und viel grundlegender als diese Autoren sich das vorstellen konnten gerät die Arbeit im Zeitalter der Digitalisierung in eine Krise. Schon der französische Sozialphilosoph André Gorz hat im Zusammenhang mit dem „Tod der Arbeitsgesellschaft“ (1980) auf die „mikroelektronische Revolution“ hingewiesen und als Hoffnungsträger interpretiert. Nach seinem intellektuellen „Abschied vom Proletariat“ im Marx‘schen Sinne setzte er darauf, dass die zunehmende Produktivität die erzwungene und fremdbestimmte Erwerbsarbeit reduzieren würde, auf vier Tage die Woche oder gar auf vier Stunden am Tag. Die gewonnene Freizeit könnten die Menschen als ihr „Reich der Freiheit“ gestalten, mit freier, sonnvoller produktiver Tätigkeit, so fand Gorz.

Die Menschen nutzen aber ihre Freizeit nicht so wie Gorz gehofft hatte. Sie verbringen mehrere Stunden am Tag vor dem Fernseher oder mit neuen elektronischen Medien, sie „amüsieren sich zu Tode“, wie Neil Postman es befürchtet hat. Sie unterhalten sich über Gott und die Welt – Talks und „Smalltalk“ überall, wo André Gorz vielleicht noch im Sinne von Aristoteles, Marx und Hannah Ahrend gehofft hatte, die Reduzierung der Arbeitszeit könnte für soziales Engagement und für die Muße einer anspruchsvollen vita contemplativa  genutzt werden. Das Selbstbewusstsein als Arbeiter, der Arbeiterstolz, weicht einem Konsumentenstolz und Konsumenten-Selbstbewusstsein.   

Die europäischen Protestbewegungen im 21. Jahrhundert zielen nicht mehr auf „Humanisierung der Arbeit“ oder auf die Veränderungen von Produktionsstrukturen, sondern auf die Veränderung von Konsum-Gewohnheiten und auf einen Ausgleich von Verteilungs-Ungleichheiten – vor allem innerhalb der reichen Länder.  Die „Gewinner“ der postkolonialen Verteilungs-Strukturen sind bereit, für „fair“ gehandelte Produkte etwas mehr zu bezahlen, aber eben nur etwas mehr. Das zivilgesellschaftliche Engagement für „Gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ bezieht sich nicht auf südamerikanische Plantagen-Arbeiter oder chinesische Fabriken. Und die nationalstaatlichen Steuerungsversuche der Produktion beschränken sich auf die Abwehr von Konkurrenz.

Der Arbeiter, der nach dem bürgerlichen Außenblick von Karl Marx nur seine Arbeitskraft zu Markte trägt, empfand sich gleichwohl als befreiter Mensch - im Rückblick auf das Dorf, dem er entflohen ist. Dass die Arbeit etwas mit Freiheit zu tun haben könnte, stand außerhalb der Vorstellungswelt. Die Arbeitsteilung unterwarf die arbeitenden Klassen einer neuen Ordnung, die strenger sein mochte als die alte, aber indem sie mit einer Rollendifferenzierung einherging, nährt sie das Empfinden des Individuums: Ich könnte meinen Arbeitsplatz wechseln und einem anderen Fabrikherren dienen, die Stadt wechseln – oder gar den Kontinent oder die berufliche Tätigkeit. Was von außen als beliebiger Wechsel beim Verkauf der Arbeitskraft erscheint, fühlt sich von innen als große Freiheit an, wobei das Gefühl „Ich könnte...“ für die individuelle Freiheit schon ausreicht, selbst wenn die Abwägung der Pros und Contras am Ende dazu führt, dass aus freien Stücken alles beim Alten bleibt. Jedenfalls was die soziale Einbindung in den Arbeitsprozess angeht. Die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Rollen (-Zumutungen) zu wählen, erscheint als Freiheit. Zu der Freiheit gehört das Risiko: Während das Leben der vorbürgerlichen bäuerlichen Schichten über Generationen vor allem die Wiederholung desselben Kreislaufes bedeutete und damit Sicherheit versprach, wird das Leben in der Stadt zunehmend zum Spiel mit offenem Ausgang.

Die Protagonisten der kulturellen Revolte der 1968er Jahre gingen noch von der alten Idee des „romantischen Individualismus“ aus, nach der das „wahre Selbst“ des Individuums nur aufzufinden und zu spüren sei, wenn man es aus den entfremdenden gesellschaftlichen Überformungen befreien würde. Selbstverwirklichung sollte in sinnvoller Arbeit stattfinden. Einer der neuen Theoretiker dieser alten romantischen Idee war Herbert Marcuse, der hoffte, dass entfremdete Arbeit und damit Entfremdung durch die neuen Techniken im Arbeitsprozess überwunden werden könnte. Einer der bissigsten Kritiker der romantischen Träume und der „Priesterherrschaft der Intellektuellen” war Helmut Schelsky mit seinem Hinweis: „Die Arbeit tun die anderen.” (1975)

Freiheit der Konsumenten

Das scheint ein letztes Aufleben des alten romantischen Individualismus gewesen zu sein -  schon in den 1980er Jahren setzte sich – so Undine Eberlein – ein neuer Typus durch: Das von gesellschaftlichen Zwängen freigesetzte Individuum kann sich nicht mehr selbst finden, sondern sein Selbst erfinden, produzieren. Und das passiert selbstverständlich in der Freizeit. „Die Einzelnen werden mit einem ständigen Strom neuer Bilder, Codes und Anreize aus einem schier unendlichen globalen kulturellen Reservoir konfrontiert, aus dem sie in eigener Regie und Verantwortung eine immer wieder neue Auswahl von Elementen zur Nachahmung und Aneignung treffen (sollen).“ Während der alte romantische Individualismus die „Konsumindustrie“ als Verlockung einer Fremdbestimmung der Individuen ablehnte, bedient sich der moderne Individualismus bei den Mustern der glitzernden Warenwelt. Selbst die Normen körperlicher Schönheit entstammen der Warenästhetik.

Den Verlust der traditionellen Gemeinschaftsbindungen und ihrer Zwänge erlebt der moderne Mensch als Gewinn von Freiheit, er begreift sich als „freischwebendes Subjekt“. Dieses Subjekt hat sich aus seinen symbolischen und kulturellen Bedeutungszusammenhängen befreit, es hat die Freiheit gewonnen, sich kulturell zu orientieren und neu zu binden. Bedingung dieser Freiheit ist der in „entfremdeter“ Arbeit produzierte Reichtum, der Arbeitsprozess ist aus der Sphäre der Freiheit ausgeklammert. Der moderne Mensch unterwirft sich in seinem Job den Zwängen der Arbeit, um Geld zu verdienen und in der Sphäre des Konsums und der Freizeit frei zu sein. Es gibt keinen Anspruch mehr, über die Produkte der eigenen Arbeit zu verfügen – sie sind Waren, die für den Markt produziert werden, also für Fremde. An der eigenen Arbeitskraft ist vor allem interessant, wie viel Geld sie bringt, also welchen Lohn sie wert ist und dass sie „flexibel“ ist beim Angebot eines besseren Jobs. Moderne Arbeitskraft wird für „Projekte“ eingekauft und verkauft sich für Projekte. Eine einigermaßen stabile „Individualität“ gewinnen immer mehr Menschen durch ihren Konsum. Für die konservative wie für die linke Kulturkritik der 1950er bis 1970er Jahre war die zunehmende Orientierung auf Konsum ein Stein des Anstoßes. Seit den 1980er Jahren hat sich auch in Deutschland das amerikanische Lebensgefühl des „consumerism“ durchgesetzt.

Linke und konservative Traditionen der Konsumkritik

Das bildungsbürgerliche Fremdeln gegenüber neuen Phänomenen der Technik und der Zivilisation hat eine lange Tradition. Henry David Thoreau hat 1846 als 28Jähriger in einer einsamen Hütte am Walden-See in der Nähe seines Geburtsortes Concord ein Loblied auf „spartanische Einfachheit der Lebensführung“ gesungen: „Es wird zu schnell gelebt.“ Deutschnationale Handlungsgehilfenverband hat 1912 über die geistige „Verarmung der Arbeit" durch die rasch fortschreitende Taylorisierung der Büroarbeit berichtete, die bei den Angestellten „große seelische Verwüstungen" hinterlasse. Männer sähen sich zum „Teil einer großen Maschine" degradiert. So mancher Mann suche in der Frau die „lebensfrische Ergänzung zu seinem berufskranken Organismus" und hoffe, sie werde, wie es auch die „Nationalliberale Zeitung" erwartete, „unsere kalte Welt mit Wärme füllen". Das war konservative Zivilisationskritik in den Chiffren von Weiblichkeit und Männlichkeit.

Die Konsumkritik „von links“ des 20. Jahrhunderts bezog Marx’ Begriff der Entfremdung auf die neue Massenkultur, ausdrücklich formuliert von Denkern der „Kritischen Theorie“ (seit 1937). Wie die Arbeit galt der Konsum als entfremdete Lebensäußerung, die keinen Spielraum für authentische Individualität zuließ. Als Konsument in der glitzernden Scheinwelt der kapitalistischen Konsumgesellschaft bleibt der Mensch ein Objekt der Warenwirtschaft und kann keine authentische Individualität entwickeln. „Falsches Bewusstsein“ ist nicht nur, wenn der Lohnarbeiter, der seine Arbeitskraft wie eine Ware verkauft, anknüpfend an die Handwerkermentalität ein Selbstbewusstsein als Produzent entwickelt. Die Idee vom Individualismus im Konsum kennzeichnet für Adorno ein „falsches Leben, in dem es kein richtiges mehr gibt“. Auch der Erfolg des Nationalsozialismus erklärte sich für Theodor W. Adorno aus der „Kulturindustrie“, die er amerikanischen Exil kennengelernt hat. In der Schrift „Dialektik der Aufklärung“ (1944) wird die Tatsache, dass die Menschen das anders empfinden, als „Pseudoindividualität“ diskreditiert.

An der Werbung schieden sich entsprechend die Geister. Max Horkheimer und Theodor Adorno konnten in dem „Triumph der Reklame“ nur einen „Betrug an den Massen" sehen. Für Wolfgang Fritz Haug war die englische Unterhosenreklame „Mother wouldn’t like it“, die versprach, das „Tier in dir“ zu wecken, ein Musterbeispiel der Manipulation durch die kapitalistische Warenästhetik (1971) - dass die neue Konsumkultur auch Elemente der Befreiung des Individuums enthalten konnte, ließ er nicht gelten. Die Kulturkritik von links knüpfte an die konservative Kulturkritik an und traf sich in der Ablehnung der modernen „Massenkultur“. Bürgerliche Identitätsbildung war traditionell geknüpft an (humanistische) Bildung, damit an Herkunft und Familie. Dass diese elitäre Konstruktion von „Individualität“ gegen die Massenkultur verteidigt werden muss, blieb auch nach 1945 in Deutschland die herrschende Meinung. Sogar der moderne Sozialstaat wurde als Bedrohung der Persönlichkeit und Individualität kritisiert, weil er träge mache. Die hedonistische Konsumkultur galt als Bedrohung der bürgerlichen Familie.

Das „amerikanische“ Modell des Konsumismus

Auffallend ist, wie scharf die konservative Zivilisationskritik den Konsum ins Visier nahm und wie wenig sie sich gleichzeitig auf die Arbeitsprozesse bezog. Diese Zivilisationskritik verlor in Deutschland ihre Attraktivität mit dem „Wirtschaftswunder“ der Bundesrepublik. Zunehmendes Einkommen und zunehmende Freizeit konnten in zunehmenden Konsum-Möglichkeiten ausgelebt werden. Die Hoffnung, dass Arbeitsprozesse durch eine revolutionäre Umgestaltung mehr Befriedigung und Sinn möglich machen könnten, war durch den real existierenden Sozialismus diskreditiert. Zudem zerstörten moderne Arbeitsabläufe in der Fabrik und im Büro die Grundlagen für den klassischen Arbeiterstolz.

Die populären Bild-Medien haben sicherlich zur Verbreitung des neuen konsumistischen Selbstbewusstseins beigetragen – auf dem Fernsehbildschirm wird nicht gearbeitet. In der Glitzerwelt der Medien predigt auch die Werbung den Konsum als Distinktionsmittel: Entscheidend ist, wer sich was leisten kann. Die Waschmaschine, die Schallplatte, der Fernsehapparat und das Automobil waren die Produkte neuer Technologien, die die Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre in ihren Bann schlugen. Die Werbung konnte mehr versprechen. Klassiker war das „Greife lieber zur HB, dann geht alles wie von selbst“. Medizinische Bedenken gab es nicht, denn: „Ärzte rauchen Camel.“ Der Alkohol wurde zum Glücksbringer – „Frauengold macht nervöse Frauen wieder lebensfreudig!“ Und der Staubsauger wurde verkauft mit dem Slogan: „Mach die Ehefrau glücklich“. Die Produkte waren vielleicht nützlich, die Werbung traf die Sehnsucht nach einer heilen Welt.

Schon Thorstein Veblen hatte 1899 (in Theory of the Leisure Class) für die amerikanischen Oberschichten beschrieben, wie der Konsum zum symbolischen Feld für einen überlegenen Status wird, eben als „conspicuous consumption", Geltungs-Konsum. Der Konsum zeigt Wohlstand an und diesen Reichtum in Imitation des alten Adels vorzuführen bekommt einen zeremoniellen Charakter für die neuen Reichen. In der gleichen Zeit hatte Henry Ford einen neuen „Wohlfahrtskapitalismus“ versprochen, in dem auf der Grundlage von Rationalisierung und Großproduktion die Massenkaufkraft steigen würde. Die Löhne seiner Arbeiter verdoppelte er im Jahre 1914 – eine Sensation. Konsum sollte zur Ausdrucksform moderner Zivilisation werden. Nicht als Arbeiter, aber als Konsument ist der Mensch wirklich Mensch und frei – natürlich im Rahmen der standardisierten Massenproduktion und Massenkultur.

Der Berliner Pfarrer Günther Dehn hat schon 1930 über die großstädtische Arbeiterjugend  geschrieben: „Die tausend Reize und Anregungen der großstädtischen Welt machen die Jugend beweglich, empfänglich, reaktionsfähig“. Dehn hat das kulturgeschichtlich eingeordnet: „Dieses Volk ist wirklich amerikanisiert, rationalisiert bis in die Wurzeln seines Denkens.“ 

Das ist die Zeit, in der bürgerlich gebildete Intellektuelle Ortega y Gasset die „Herrschaft des Schaufensters“ (1927) konstatierte und in seinem Essay „Der Aufstand der Massen“ naserümpfend bemerkte: „Heute kann ein Mensch, wenn er in eine Stadt kommt, schon nach ein paar Tagen deren berühmtester und beneidetster Bürger sein: er braucht nur in ein Schaufenster zu blicken, die besten Waren auszuwählen – das beste Auto, den besten Hut, das beste Feuerzeug – und sie zu kaufen. Man könnte da also fast von einem Automaten sprechen, der mit einem Geldbeutel versehen ist, mechanisch hineingreift und mir nichts dir nichts zur angesehensten Persönlichkeit der Stadt wird.“

Insbesondere die Frauen haben in der neuen Konsumkultur schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Chance gesehen, mehr Individualität zu entwickeln als es ihnen ihre häuslichen Rolle und die Büro-Arbeit erlaubte. Mit Kosmetika kann sie das eigene Gesicht gestalten – gegen den alten protestantischen Diskurs, dass das „natürliche“ Gesicht einer Frau das Abbild ihres unverfälschten inneren Selbst sei. Schon für die Jugendlichen haben die „Jeans“ einen Individualitätsgewinn bedeutet, erst Recht dann für die Frauen: Seit der Französischen Revolution tobte der Kampf um die Hose, selbst Marlene Dietrich konnte nicht den Durchbruch erzwingen. Erst in den 1960er Jahren wurden in Deutschland die Jeans zum Ausdruck eines neuen Lebensgefühls. In dieser Konsumkultur verdrängte der Hedonismus die Wertschätzung der Pflicht.

Das zunehmende ökologische Bewusstsein seit den 1980er Jahren bedeutet in diesem Zusammenhang keine wirkliche Krise des Konsumismus - die Bio-Ernährung ist ein neues Disktinktionsmittel in akademisch-intellektuell geprägten Milieus. Mit dem Bio-Konsum werden „alternative“ Weltbilder zelebriert.

Propaganda der Oberfläche – Symbole, Klischees und griffige Sprüche

Wenn nicht mehr Verteilungskonflikte die wesentlichen gesellschaftlichen Triebkräfte sind, wenn der Sinn des Lebens nicht mehr in der Arbeit gesucht wird, sondern in den Vergnügungen der Freizeitindustrie und des Konsums, dann bekommt die alte Kunst der Marktschreier eine neue Bedeutung: Propaganda. Edward L. Bernays, der 1891 in Wien geborene Neffe von Siegmund Freud, hat das 1928 in den USA ungeschminkt formuliert:  „Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften.“ Er nannte das Propaganda: „Wenn viele Menschen möglichst reibungslos in einer Gesellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungsprozesse dieser Art unumgänglich. (…) Ob es uns gefällt oder nicht.“ Das Wort Propaganda war im Englischen wie im Deutschen bis zum Ersten Weltkrieg kaum bekannt, obwohl Papst Gregor XV. schon 1622 eine seine „Congregatio de Propaganda Fide“ gegen den sich verbreitenden Protestantismus damit benannt hatte. Bernays meinte, je komplexer die Zivilisation werde, desto deutlicher zeige sich, „wie nötig die im Hintergrund arbeitenden Führungsinstanzen sind“. Bernays wusste aus seiner praktischen Erfahrung, dass nicht vernünftige Gedanken, sondern Gefühle und Bilder in den Köpfen der Massen wirken. Des Volkes Stimme sei nicht von erhabener Weisheit beflügelt, formulierte Bernays 1928, sondern „Ausdruck des Volksempfindens“, die Volksmeinung setze sich zusammen aus „überlieferten Vorurteilen, Symbolen und Klischees und den griffigen Sprüchen, die die Anführer dafür gefunden haben.“

Bernays kannte die Diskussion über die Psychologie der Masse und die Gedanken seines Onkels Siegmund Freud. Der hatte 1921 in seinem Buch über Massenpsychologie und Ich-Analyse die Aussage Wilfred Trotters (1916) zitiert, „der Mensch sei ein Herdentier“, und korrigiert: Der Mensch sei „vielmehr ein Hordentier, ein Einzelwesen einer von einem Oberhaupt angeführten Horde“. Bernays dazu: „Das Handeln des Menschen in der Gruppe wird bestimmt von Gefühlen und Beweggründen, die mit den Ansätzen der Individualpsychologie nicht erklärt werden können.“

Bernays riet der Seidenindustrie, in der Werbung darauf zu setzen, dass Kleider nicht nur der Bekleidung dienen, sondern eben auch dem Ego. In einer Welt der anonymen Warenwirtschaft, in der der Austausch nicht mehr als Verhältnis zwischen zwei Familien verstanden wird, können die Kunden durch eine emotionale Bindung für ein bestimmtes Produkt gewonnen werden. Dass man die Propaganda auch missbrauchen kann, erläuterte der Jude Bernays am Beispiel Adolf Hitlers.

Der Konsumismus als Religions-Ersatz

Was wird aus dem Ich– und Selbstbewusstsein in einer Gesellschaft des Konsumismus? Die Religionen wie ihre säkularen Verwandten waren so überzeugend, weil sie ein Bild des Ganzen entworfen haben – als verbindlichen Rahmen für das Selbstbild der Gemeinschaft und den einzelnen Menschen. Heute ist „der Konsum das Medium einer Kultur des Selbst“, sagt der Medienwissenschaftler Norbert Bolz.

Viele materielle Güter erwerben wir nicht, weil wir ihren praktischen Nutzen brauchen. Das Produkt-Marketing in den reichen Ländern der westlichen Welt zielt auf kaufkräftige Kunden, die alles haben, was sie brauchen. Warum brauchen Menschen ein neues, größeres, stärkeres Auto? Die „Marke“ bietet Möglichkeiten der Identifikation. Deswegen ist das neue Auto für viele Männer ein Spielfeld der Männlichkeit.

Der Kauf-Akt ist emotional aufgeladen, es geht um die Selbstbespiegelung der Identität. Im Shopping genießen wir das Begehren eines Objektes. Wir schmücken uns mit dem, was wir gekauft haben. Das betrifft Dienstleistungen wie Gegenstände, Ferienreisen, Tai Chi-Kurse, Uhren, Autos. Konsumgüter funktionieren wie ein Make-up der Identität. Das Marketing bietet Formulierungshilfen für das Selbst-Bild. Der Konsumismus funktioniert wie eine ideologische Linse, durch die wir uns in der Welt erleben. Es geht zunehmend um virtuelle Erfüllungen. Und mehr an Sinn gibt es nicht. Wer niemanden hat, der einen wirklich braucht und der ihm Aufmerksamkeit schenkt, schafft sich ein Haustier an.

Für die alte Buch-Kultur war es selbstverständlich war, dass große Horizont-Ideen wie Gott, Freiheit und Unsterblichkeit das Feld des Sinns besetzt hielten. Jeder kann heutzutage glauben, was er will, es gibt keine verbindlichen gemeinsamen Horizont-Ideen mehr. In den sozialen Medien tobt sich die totale Beliebigkeit aus. Gemeinsam ist den Menschen das Streben nur nach mehr Geld. „Mehr Geld“ ist Lebenssinn-Ersatz. 

Das System der Warenwirtschaft erweist sich als unendlich flexibel. Die Produkte der Warenwelt machen sogar aus der Kritik an der Warenwelt ein Geschäft. Auch an Bioprodukten wird gut verdient. Es scheint kaum störend, dass die Werbeindustrie ihre Botschaft auf T-Shirts und Markenhemden aufdruckt – wer sich daran stört, greift zu den Angeboten von handgefertigten und individuell bedruckten Textilien, um seine individuelle Einzigartigkeit zu zeigen. Die Werbung beantwortet existentielle Fragen: „Passt das zu mir?“ „Würde ich mir damit untreu?“ „Ist dies das Leben, das ich führen will?“ (Eberlein). Für die Suche nach den emotionalen und lebensgeschichtlichen Hintergründen des subjektiven Gefühls der „Authentizität“ gibt es die Psycho-Dienstleister.

Die Welt des käuflichen Konsums bietet den romantischen Individuen eine Möglichkeit, mit dem Griff ins Portemonnaie ihre Einzigartigkeit darzustellen, wo die „Suche“ nach dem inneren Wesen noch eine intensive tiefenpsychologische Auseinandersetzung und ggf. therapeutische Begleitung erfordern würde. Während man, um sich als etwas Besonderes darzustellen, vorher noch Hermann Hesse, Proust im Regal oder zumindest die ZEIT unter dem Arm brauchte, reichen im Zeitalter der digitalen sozialen Medien ein paar Klicks für eine Inszenierung auf in Facebook-, Instagram- oder TikTok-App.

Das Warenlager des glitzernden Konsums bietet allen dasselbe

Je differenzierter eine arbeitsteilige Gesellschaft wird, desto größer die Bedeutung des Geldes als Medium und Symbol, das den Austausch und damit die Vergleichbarkeit der verschiedenen Produkte und Tätigkeiten ermöglicht. Die Gegenstände sind käuflich und die Tätigkeiten bepreist, das lässt sie vergleichbar und berechenbar erscheinen.

Wer genügend Reichtum hat, kann sich sogar eine Kultur der Innerlichkeit leisten - als Distinktionsmittel gegenüber der Kultur des Massenkonsums. Nur für die zeitgenössische Soziologie bleibt das klassische Bildungsideal bis heute die Folie, vor der die Anpassungsleistungen des „kleinen Mannes“ in den modernen Gesellschaften als Verzicht oder zumindest Behinderung von Individualität erscheint. Nur „prekäre Individualität“, sagt der Soziologe Hans-Peter Müller, kann der Masse attestiert werden – als ob in der bildungsbürgerlichen Selbstzuschreibung nicht auch das „WIR“ das „ICH“ dominieren würde.

Die Konsumwelt braucht alle gleichermaßen als Kunden, Frauen mehr noch als die Männer, Herren und Knechte, selbst die, die in der Welt der Arbeit überflüssig geworden ist. Und wenn man schon alles hat, was man braucht, kann man sich an der Vermehrung des Geldes erfreuen, verspricht es doch, später einmal irgendetwas zu kaufen (was man nicht braucht). Entscheidend ist die Kauf-Lust, und wer genug hat, kann sich auch leisten, richtig sozial zu werden und sich um die arme Natur oder arme Menschen kümmern. Die Welt des glitzernden Konsums verspricht Freiheit, Geborgenheit, Gesundheit, Individualität, Liebe und Sinn. Individualität und Sozialität scheinen wie von einer unsichtbaren Hand verschmolzen. Erst in der Konsumwelt erfüllt sich paradoxerweise das Gleichheitsversprechen der Aufklärung.

Die Vergnügungs-Industrie ist der Bereich reiner Sinnstiftung im Konsumismus. Das Problem der Konsum- und Freizeitgesellschaft ist nicht, dass die Menschen sich zu Tode amüsieren. Sie würden sich zu Tode langweilen ohne Vergnügungs-Industrie. Die Erfolgs-Geschichten der Science-Fiction-Filme zeigen, was den Menschen fehlt: Bedrohung, Existenzkampf, Liebe. Eben Sinn. Die Vergnügungs-Industrie bietet Wiederverzauberung der entzauberten Welt.

Identität im Freigehege

Mit bitterer Ironie hat Philipp Blom das „große Welttheater“ dieses modernen Konsum-Menschen beschrieben – als Zoo: „Umgeben von künstlichen Felsen, sorgfältig kuratierten Pflanzen und eingehegt von hohen Zäunen lebt Homo sapiens occidentalis in seinem Freigehege, verfettet und gelangweilt. Er weiß, dass er für repetitive und sinnlose Handlungen belohnt wird, indem er regelmäßig zu fressen bekommt, vor Angreifern beschützt und medizinisch versorgt wird. Manchmal setzt die Verwaltung sogar ein paarungswilliges Weibchen ins Gehege. Natürliche Feinde hat er nicht, nur er selbst kann sich gefährlich werden. Es kostet viel Energie, diesen Zoo zu unterhalten. Er besteht nur noch auf Pump, von Ressourcen, die er sich von denen nimmt, die noch nicht geboren sind, noch nicht nein sagen können, von denen, die zu schwach sind, die nicht zählen. Die Zoobewohner aber sehen keine Alternative zu dem Leben, das sie führen, lenken sich mit Spielzeug ab, das die Zooleitung ihnen ins Gehege gelegt hat, abends mit Beleuchtung... Und da sitzen sie und kauen, weil es sonst nicht viel zu tun gibt.“

    siehe auch (mit Literaturhinweisen): Konsumismus  MG-Link