Klaus Wolschner                         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

www.medien-gesellschaft.de


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III
Medien-
Theorie

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen

3 AS neu 200

ISBN 978-3-7418-5475-0
im Buchhandel oder beim Autor  klaus(at)wolschner.de

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche Wirklichkeits-Konstruktion im „Jahrhundert des Auges“

3 VR neu 200

ISBN 978-3-7375-8922-2
im Buchhandel oder beim Autor  klaus(at) wolschner.de

Vorsicht Kinder III:

Vorsicht Bildschirm

2012

Die Welt erschließt sich Babys durch Tasten, Riechen und Schmecken, Sehen und Hören. Kleinkinder können Realität und Bildschirm-Fiktionen nicht auseinander halten, sie leben in einer Mischwelt von Phantasie und Wirklichkeit. Sie scheinen ein Bedürfnis zu haben, von Gespenstern und Feen, von bösen und guten Geistern zu erfahren, die ihnen ihre Erfahrungen sortieren helfen. Sie „begreifen“ und erfassen ihre Umwelt nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem ganzen Leib. Erzieher stellen sich auf diese Bedürfnisse ein – der Bildschirm nicht. Aus ganzkörperlichen Erfahrungen bilden Kinder Regeln und Muster – das Fernsehen kann solche Erfahrungen nicht ersetzen. Wenn die Fernsehsendung aufregender ist als die eigene Erfahrung, dann überschreiben die Bilder die eigene Erfahrung – weitgehend unabhängig von dem gebotenen Inhalt.

Fernsehen so schädlich, es behindere die Gehirnentwicklung, sagt Manfred Spitzer.  Er benutzt gern die Metapher von Spuren im Schnee: „Im Gehirn laufen ständig Impulse über die Synapsen der Nervenzellen; das passiert schon im Mutterleib, wenn das Ungeborene seine Umwelt ertastet oder Geräusche hört. Wenn solche Impulse immer wieder ähnlich ablaufen, entstehen quasi Spuren, zunächst in den einfachen Arealen, dann in den komplexeren, und je öfter diese Spuren benutzt werden, umso mehr verfestigen sie sich, wie bei einem Trampelpfad im Tiefschnee. Diese Spurenbildung nennen wir Lernen.“ Das Babygehirn sei „erst dabei, den Tastsinn, den Hörsinn, den Geruchsinn zu kalibrieren, um überhaupt erst mal zu begreifen, was ein Objekt ist.“ Das Kindergehirn kann anders als das Erwachsenen-Gehirn die zweidimensionalen visuellen „Spuren“ nicht zu emotionalen welt- und Menschenbildern vervollständigen und kann sich vor allem nicht distanzieren von dem Bildschirm-Geschehen.  Die fiktive Welt des Bildschirms ist meist auf die emotionalen Bedürfnisse der Erwachsenen ausgerichtet, die am liebsten Mord, Gewalt, Liebe und Sex sehen. Dass Kinder diese „Welt“ noch weniger verarbeiten und in ihren Erfahrungs-Hintergrund integrieren können als Erwachsene, liegt auf der Hand. Bildschirme sind für die ganz Kleinen grundsätzlich schädlich.

Nicht nur Kindergehirne seien am aktivsten, wenn Menschen mit Menschen zu tun haben. Auch für ältere Menschen sei das Hüten der Enkel ein effektiveres „Gehirnjogging“ als das Lösen von Kreuzworträtseln. Aufmerksamkeit, Motivation und „affektives Mitschwingen“ gibt es nicht gegenüber weißen Zetteln -  für die Lernfähigkeit ist die  positive affektive Beteiligung des Lernenden aber entscheidend.

Schallwellen allein lösen keinen Lautbildungswillen bei Kindern aus. Kinder lernen nicht einfach durch Imitation der gesprochenen Laute selbst zu sprechen, sondern durch einen Abgleich der Laute mit dem Verhalten der Bezugspersonen, sie interpretieren die Laute als Kommunikationsmittel. Satzmelodie und Betonung, Klangfarbe und Tonfall, rhythmische Strukturen, Tonhöhe und Nuancierung der Stimme werden wahrgenommen und ihre Bedeutung wird aus dem Verhalten der Menschen erschlossen. Dem Lautsprecher fehlt das „Ich“, der Wille, die Intention. Vor dem Bildschirm lernt niemand sprechen.

„Man kann daher annehmen, dass ein substantieller Konsum von Bildschirm-Medien eine geringere bzw. unklarere Strukturierung des kindlichen Gehirns und damit wiederum der kindlichen Erfahrungswelt nach sich zieht“ (Spitzer). 

Erst im Alter von zehn Jahren können Kinder Außen- und Innenwelt unterscheiden. Fernsehen verhindert eigene Erfahrungen mit der Umwelt zu machen, es konkurriert mit der Leselust und behindert damit die Entwicklung der Lesefähigkeit. Spitzer konstatiert einen signifikanter Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum im Kleinkindalter und Aufmerksamkeits-Störungen im Schulalter. Bei einem Videospiel wird mehr Dopamin im Gehirn freigesetzt als bei jedem „Aha-Erlebnis“ in der Schule – so sind die Videospiele ausgelegt und programmiert.

1. Frühpädagogik - wie Kinder lernen

2. Frühkindliche Erziehung und Persönlichkeitsbildung

4 Gute Schule - was Schule gut machen könnte

Literatur:
Manfred Spitzer, Vorsicht Bildschirm, Stuttgart 2005
Manfred Spitzer, Im Netz, FAZ 22.9.2010  als PDF