Vorsicht Kinder I:
Wie Kinder lernen
(v.a. nach Fridolin Sickinger, 2012)
Kinder sind von Kopf bis Fuß auf Lernen eingestellt. Das Gehirn ist von Anfang an auf Lernen eingestellt und besitzt ein eigenes Motivationssystem für Neues, für Bekanntes (Wiederholung) und Ähnlichkeit.
„Ohne ausreichende Anregung verbinden sich die Areale des Gehirns zu wenig komplex, ohne ritualisierte Wiederholung kann die Information nicht stabil eingebaut und damit nicht richtig verfügbar werden. In einer gelungenen Balance aus Anregung und Wiederholung gewinnen wir verhaltensmäßige und emotionale Sicherheit in der Welt.“ (Sickinger)
Den wohltuenden „Aha-Erlebnissen“ liegt diese Selbst-Belohnung des Gehirns mithilfe des Neurotransmitters Dopamin zugrunde. Aha-Effekte entstehen nur, wenn neue Information an Bekanntes anschließen kann. „Lerneinheiten müssen daher so aufgebaut werden, dass dem Lernenden das Andocken überhaupt gelingen kann.“ Sind die Einheiten zu komplex, zu schwierig oder zu schnell, bleibt am Ende Unbehagen und De-Motivation.
„Mit konsequenter Differenzierung der Lerneinheiten und der Möglichkeit der Kinder, eigene Ziele zu finden, lässt sich das körpereigenen Motivationssystems fruchtbar aktivieren: Lernen im eigenen Tempo, Lernen entlang individueller Ziele innerhalb eines Gesamtrahmens.“ Das spricht für altersübergreifendes Lernen und „Familienklassen“.
Der Körper produziert einen weiteren „Wohlfühlstoff", das Bindungshormon Oxytozin. Angeregt wird es durch die emotionale Nähe von vertrauenswürdigen Personen. Kleine Kindern lernen vom Bildschirm nichts, sie lernen von und für ihre Bezugspersonen. Emotional vertraute Menschen wirken wie ein Stimulus, in ihrer Anwesenheit können Kinder gut lernen.
Wichtig ist es, im Lernprozess eigene Ziele finden und verfolgen zu können – aktiv erworbenes und durch Probehandeln aktiviertes Wissen prägt sich besser im Gehirn ein.
In den ersten Lebensmonaten lernt der neugeborene Mensch quasi automatisch – vom Saugen bis zum Aufrichten. Diese Lernvorgänge sind „in die Wiege gelegt" und scheinen biologisch vorprogrammiert. Primäres Lernen geschieht „aus sich heraus“. Zu dem „primären Lernen“ gehören das Saugen und Greifen, motorische Muster, frühe emotionale Kommunikationsweisen und auch noch die Anfänge der Muttersprache - Wortschatz und Grammatik. Kleinkinder lieben die Grundformen des gestalterischen Ausdrucks, Spirale, Kreis, Linie, sie können früh Größen und Mengen schätzend erfassen, sie haben ein Bedürfnis, Spuren anzubringen und Botschaften zu hinterlassen.
Davon zu unterschieden ist das spätere "sekundäre Lernen“, also ein Lernen, das Lernstrategien, Anstrengung und bewusste Zielsetzung erfordert – und Lernhilfestellung. Dieses Lernen ist abhängig von der pädagogischen und kulturellen Umgebung. Zwischen diesen Lern-Phasen existieren Übergangszonen, die für jedes Kind höchst individuell verlaufen. Diese „Übergangszonen sind für die pädagogische Arbeit so bedeutsam, weil in ihnen der Schwung des primären Lernens noch sichtbar ist und für den Einstieg in das sekundäre Lernen genutzt werden kann.“ (Sickinger) Zu den wesentlichen Voraussetzungen für dieses Lernen-Wollen durch Übung gehören die „Möglichkeiten sprachlicher Verständigung, fein- und grobmotorische Kompetenz sowie die Fähigkeit, das eigene Verhalten bezogen auf andere Menschen und bezogen auf sachliche Anforderungen zu steuern.“ (Sickinger)
Kinder müssen lernen, beim Lernen eine aktive Rolle einzunehmen. Das „Wissen, wie man lernt“ erlernen Kinder ab dem fünften Lebensjahr, wenn ihnen geholfen wird, die Lern-Strategien ihres Spielens benennen und ihnen bewusst machen. Die Aneignung von konkretem Wissen (Was) wird dann verbunden mit dem Wissen über den gewählten Weg (Wie). „Lernkompetenzen lassen sich nicht unabhängig vom Inhalt vermitteln. Für die Pädagogik im Elementar- und Primarbereich stellt sich damit die Aufgabe im Bildungsprozess doppelt: Lernumgebungen bereitstellen, die Kindern den Erwerb von Wissen und Meta-Wissen im Zusammenhang ermöglichen.“
Kinder im Vorschulalter sollten lernen, sich selbst einzuschätzen, selbst Ziele zu finden, selber Schritte und Wege zu diesen Zielen zu finden und das Ergebnis selbst zu bewerten. Sickinger schlägt zur Erfassung der Selbst-Einschätzung der Kinder ein sternförmiges Fähigkeitsprofil vor, das Erzieher und Kinder gemeinsam besprechen und ausformulieren. Solche Entwicklungs-Sterne eignen sich auch zum Dialog mit den familiären Bezugspersonen.
Da das Bewusstsein nur eine relativ begrenzte Verarbeitungskapazität zur Verfügung stellt, ist das bewusste Erlernen der Fokussierung von Aufmerksamkeit ein Schlüssel zu späteren Lernmöglichkeiten. Wichtige Reize müssen von den unwichtigen Reizen getrennt werden, um die Aufmerksamkeit für ein paar Minuten auf einen Punkt zu konzentrieren. „Die Fähigkeit, Aufmerksamkeit bewusst zu steuern, gehört in den Werkzeugkasten für das Lernen ab dem vierten Lebensjahr.“ (Sickinger) Kindern muss eine Idee von Aufmerksamkeit vermittelt werden. Da geht nur für wenige Minuten „Danach - so die Botschaft - kann man mit seinen Gedanken auch wieder ein bisschen herumspazieren oder träumen.“
Kinder müssen lernen, „sich auf Anweisungen von Erwachsenen einzulassen, ihnen zu folgen, ohne genau zu wissen, wie die Sache ausgeht.“ (Compliance) Dafür müssen sie positive Bindungserfahrungen mit Erwachsenen gemacht haben und einen Vertrauens-Vorschuss mitbringen.
Kinder brauchen die Erfahrung von ritualisierten Abläufen, Liedern, Reimen, die ihre dauernde Beschäftigung mit Neuem einrahmen und durch die Verlässlichkeit des Gewohnten die emotionale Basis wieder sichern.
Übergänge sind Chancen für große Schritte, sie werden leichter, wenn Kinder im Neuen vertraute Elemente des Alten wiederfinden. Wichtig wäre daher, dass Kindergarten und Grundschule eine gemeinsame Bildungskonzeption verfolgen - bis hin zur Übereinstimmung in der Grundhaltung der pädagogischen Fachkräfte.
Zu Allgemeinwissen geworden sind die Einsichten zum frühen Sprachenerwerb. Kinder, die in ihrem ersten Lebensjahr von einer emotionalen Bezugsperson regelmäßig eine andere als ihre Muttersprache hören, haben die Chance, diese sogar phonetisch wie eine Muttersprache zu lernen. Die Sorge, dass das kindliche Gehirn damit überfordert sei, ist Unsinn. Für Kinder macht es keinen großen Unterschied, in welcher Sprache sie kommunizieren - sie lernen Sprache unbewusst, spielerisch und mühelos einfach aufgrund ihres Kommunikationsbedürfnisses. Nicht nur das Sprachverständnis, auch die „erste“ Muttersprache profitiert davon, wenn ein Kind in seinen ersten drei Lebensjahren mit einer zweiten Grammatik kommunizieren lernt. Hat das Gehirn erst einmal die Infrastruktur aufgebaut, wird sie für jede Sprache genutzt, egal ob Ungarisch oder Französisch. Eine später erlernte Sprache bleibt hingegen Fremdsprache.
Ein Allgemeinplatz ist genauso die Bedeutung der Frühförderung des aktiven Musizierens, das im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Musik ganz unter die Räder zu kommen droht. Bei hoch qualifizierten Musikern ist derjenige Teil des Gehirns, der für die Lautverarbeitung zuständig ist (die Hörrinde dicht unter dem Schädelknochen neben den Ohren) um etwa 25 Prozent vergrößert. Es ist offensichtlich: Die Reorganisation der Hörrinde hängt von ihrer Nutzung ab. Aufgrund der besonderen Plastizität des kindlichen Gehirns gilt: Je eher ein Kind beginnt, ein Instrument zu spielen, desto deutlicher sind die strukturellen Veränderungen in seinem Gehirn. Jeder Lernprozess schafft Grundlagen (Netzwerke) für neue, weiterführende Lernprozesse. Aktives Musizieren bewirkt auch - eine signifikante Verbesserung der sozialen Kompetenz - eine Steigerung der Lern- und Leistungsmotivation - eine Verbesserung der emotionalen Befindlichkeit. Musik prägt das Profil einer jeden Kultur, beeinflusst Körper, Psyche und Geist - ist also ein unverzichtbarer Teil unserer menschlichen Natur.
Viele Tierarten kommunizieren über Töne und Rhythmen. In der Evolution des Homo sapiens löst die Sprache die Rolle der Musik für die Kommunikation ab – der Mensch hat Musik aber als „zweites“ Kommunikationssystem beibehalten, sie hat in allen Kulturen große Bedeutung für Gruppenprozesse und als Ausdrucksform für Glückserlebnisse.
Die Musikkultur heutiger Fußball-Fans dokumentiert, wie elementar das Bedürfnis nach Musik für das Gruppenempfinden geblieben ist und wie verarmt und verkommen gleichzeitig die musikalischen Fähigkeiten sind.
2 Frühkindliche Erziehung und Persönlichkeitsbildung
3 Vorsicht Bildschirm - Kinder brauchen medienfreie Zonen
4 Gute Schule - was Schule gut machen könnte
Literaturhinweis: Sickinger: Wie Kinder lernen, abrufbar unter http://www.transkigs.de/fileadmin/user/redakteur/Bremen/forumII_bildungskonzept_06.pdf
Fridolin Sickinger ist Diplom Psychologe und Mitarbeiter der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Stadtgemeinde Bremen in Bremen-West. Über das Modellprojekt Buntentor und seine Arbeit: Delphine auf Deutsch-Parcours, taz 19.3.2012 “Es gibt keinen Tag X der Schulreife" taz-Interview
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