Sprache und kulturelles Gedächtnis - vor der Schrift
2014/23
„Alle Tiere bis auf den Fisch tönen ihre Empfindungen“, hat Gottfried Herder 1770 in seiner „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ formuliert. Und er irrte: Selbst Fische geben Laute von sich, um mit anderen Fischen zu kommunizieren. Einige knirschen mit den Zähnen, andere stoßen blubbernd Wasser aus. Der Knurrhahn knurrt. Die menschliche Sprache hat eine evolutionäre Entwicklungsgeschichte. Wenn Primaten schreien oder lachen, ist die Ähnlichkeit zu menschlichen nonverbalen Kommunikations-Techniken deutlich. Und der evolutionsgeschichtliche Abstand.
Um sich zu verständigen, verwenden Lebewesen akustische, chemische oder optische Signale. Wie ihre menschlichen Artgenossen sind die Primaten Meister im Zuhören und Deuten von Zeichen. Mehr als 40 unterschiedliche Signalmuster sind bei Primaten beobachtet worden: Für jedes sozial wichtige Problem, das kommunikativ gelöst werden kann, gibt es einen bestimmten, meist unverwechselbaren Signalkomplex. Besonders ausgeprägt ist dabei die Signalstruktur der besonders hilfebedürftigen Babys. „Schmatzen“, Schreien, Kreischen, Zetern oder Keckern wird nicht nur von dem jeweiligen Muttertier gut verstanden. Beim Balgen der Menschenaffen, zum Beispiel der Schimpansen, gleichen diese Vokalisationen sogar jenem Lachen, das im Humanbereich beim Kitzeln geäußert wird. Viele der vokalen Signalmuster von nichtmenschlichen Primaten erscheinen uns wie klar erkennbare Vorstufen unserer eigenen nonverbalen Ausdrucksformen, speziell unseres Schreiens und Lachens. Im Unterschied zu den akustischen Verständigungsmitteln der Tierwelt ermöglicht die menschliche Sprache eine Kettung differenzierter Laut-Kombinationen.
Die Schrift ist nicht nur visuelles Speichermedium macht für Sprache, sondern mit der Schrift wird die Sprache neu strukturiert - orale Sprache wandelt sich zu Schrift-Sprache. Schrift ermöglicht unendlich viele syntaktisch-grammatikalische Konstruktionen, die so große Veränderungen im Wirklichkeits-Bewusstsein nach sich ziehen, dass es schriftsprachlich denkenden Menschen schwer fällt, sich die Sprache in oralen Kulturen vorzustellen. Schrift macht die Sprache unabhängig von der Präsenz und der leiblich erfahrenen Lebenswelt derer, die kommunizieren. Lesende Menschen kommunizieren nicht mit andren Menschen, sondern mit Wissen-Vorräten, mit Texten. Schon die Feststellung, dass akustische Sprachlaute aufgrund von Impulsen der Neuronen im Gehirn gebildet werden, sagt Menschen nichts, deren Wirklichkeitsbewusstsein nicht über die biologischen Konstruktionen der Schriftsprache verfügt.
Wenn wir uns die rein „orale" Sprache gedanklich rekonstruieren wollen, also ein Verständigungsmittel von Menschen, denen Schriftzeichen nichts sagen, müssen wir die Verständigungs-Laute der Tierwelt zum Ausgangspunkt nehmen oder einen fremd klingenden Singsang.
Orale Kommunikation und orales Denken kreiseln
Die frühen Menschen (Hominiden) verständigten sich visuell und mit aneinander gereihten Klanglauten. Gesten und Sprachmelodie sind wesentliche Elemente der Verständigung durch Laut-Folgen. Orale Kulturen kennen als Sprach-Speicher nur das Gedächtnis. Um das flüchtige Gesprochene im Gedächtnis zu fixieren, wurden Formen erfunden, wie wir heute als Kulturform des Gedichtes und des Gesanges kennen. Zu den Hilfsmitteln der Gedächtniskunst (Mnemotechnik) gehören Reimformen, Rhythmen, musikalische Raster. Mündliche Dichtung hat einfache grammatikalische Strukturen – einen additiven Stil, in dem Hauptsätze aneinandergereiht werden mit vielfachen Wiederholungen und Rückverweisen.
Orales Denken ist situativ und konkret, nicht begrifflich und abstrakt; es ist nicht linear gegliedert, sondern „kreiselt“. In einer rein oralen Sprache kann es keine Laute für abstrakte Begriffe geben, es gibt Laute für sichtbare Objekte und für erfahrbare Handlungen. Orale Kulturen gruppieren Gegenstände und Handlungen so, wie es sich auf konkrete Vorgänge beziehen lassen. Für Menschen, die in einer oralen Alltagskultur leben, gehören Hammer, Säge, Baumstamm und Axt zusammen, weil sie einen Handlungszusammenhang bilden. Erst die Schriftkultur begründet die Kategorie „Werkzeug“, die den Baumstamm aus diesem Kontext aussondert. Analphabeten identifizieren geometrische Figuren nicht mit abstrakten Begriffen wie „Kreis“ oder „Rechteck“, sondern mit ähnlichen Gegenständen: „wie ein Teller“, „wie eine Kiste“. Das betrifft auch die Kategorien der Orientierung im Raum: Sprachliche Operationen wie „zweite Straße rechts, an dem Haus mit dem roten Dach wieder links“ sind abstrakte Koordinaten, die aus der Schrift in die mündliche Sprache übernommen wurden. In oralen Kulturen wird die Frage nach dem Weg beantwortet mit einem: „Ich bringe dich eben hin.“
Für den Schritt zur Kommunikation mit aneinander gereihten Sprachlauten sind spezielle gehirnphysiologische Entwicklungen die Voraussetzung. Auffallend ist die enge Verbindung von Hand-Gesten und den frühen verbalen Kommunikationslauten. Primär-orale Sprache verfügt über einen vergleichsweise kleinen Wortschatz und ist eng an sinnlich Wahrnehmbares gebunden. Was außerhalb der Erfahrungswelt liegt, ist nicht kommunizierbar. Man kennt viele orale Kulturen aus der Ethnologie, deren wichtige Tradierungsformen sind das Singen und Rezitieren. Dabei spielen Versmaß, Reim und Rhythmus eine große Rolle.
„Erst die Schrift hat die kognitiven Instrumente geschaffen, mittels derer sich Dinge per se klassifizieren und auflisten lassen; eine orale Kultur zieht narrative Strukturen vor, die Wissen einprägsam vermitteln.“ (Raoul Schrott) In oralen Kulturen wird erzählt, um das Kollektiv zu bestätigen. In den liturgischen Reden religiöser Feiern sind die Reste dieser oralen Kultur bis heute bewahrt - die Riten machen das Unbenennbare erfahrbar.
Mundartliches Reden ist körperintensiv, begleitet von Bewegungen, Gesten und reichlich mit Wortklängen unterfüttert. Orales Erinnern bezieht sich aus Emotionen und Erfahrungskerne, die über Geschichten und Sprichworte wachgerufen werden. Orales Denken baut auf symmetrischen Strukturen und dichotome Muster von Standard-Erzählungen auf – es gibt den guten, starken Helden und den bösen Schurken, der besiegt werden muss. Sprache in oralen Kulturen polarisiert in gut und schlecht, erlaubt und verboten.
Sprechakten ist dabei ein Machtanspruch unterlegt: Wer reden darf und kann, hat Macht und macht die Umstehenden zu Zuhörern. In oralen Gesellschaften ist machtpolitisch geregelt, wer die gemeinsamen Wahrheiten zur Sprache bringen kann und damit Gemeinschaft stiftet und festigt. Wissen in oralen Kulturen wird verkörpert, erhält seine Autorität durch die Person, die es ausspricht. Wahrheit ist gebunden an den Redner. Das irritierte Platon an der Schriftkultur: Wie kann es Weisheit ohne den Weisen geben, der dafür bürgt und Nachfragen im Dialog erläutern kann?
Was gesagt und was gedacht wird, drückt weniger Subjektives als Exemplarisches aus. Ein „Ich“ in einer oralen Kultur sieht sich in dem Bezug zu der Gruppe, als Teil eines kollektiven Wir. Jedes Reden ist auf das Kollektiv bezogen, abweichendes, originelles Reden stellt das Gemeinsame in Frage. Da gibt es kein „Ich“ mit einer komplexen individualpsychologischen Selbst-Wahrnehmung. Das situative Denken kann kein „Ich“ aus der umgebenden Welt und ihrer kommunikativen Dynamik herauslösen. Es gibt keine abstrakte, über alle Ereignisse konstante Persönlichkeits-Struktur, der einzelne Mensch ist nur Teil der Situation.
Geteiltes praktisches Wissen
Die orale Situation wird von sozialen Zwängen bestimmt: Erzähler haben nur Erfolg, wenn sie das erzählen, was die Zuhörer hören wollen. Grundsätzlich wissen alle dasselbe – individuelles Wissen würde den physischen Tod des Wissenden nicht überdauern. Herrschaftsformen entstehen, wenn besondere Träger ein geheimes sakrales Wissens verkörpern - die Mythen der Gemeinschaft.
Die spezifische Natur mündlicher Kommunikation hat einen beträchtlichen Einfluss auf den Inhalt des kulturellen Repertoires und dessen Überlieferung. Die Bedeutung eines Wortklanges bestimmt sich in einer Folge konkreter Situationen, mit denen stimmlich Veränderungen und körperliche Gesten einhergehen. Das Vokabular einer solchen Sprach-Gemeinschaft reflektiert die besonderen Interessen der in ihr lebenden Menschen. So haben die Bewohner der pazifischen Insel Lesu nicht ein, sondern ungefähr ein Dutzend Wörter für Schweine, je nach ihrem Geschlecht, ihrer Farbe und ihrer Herkunft – das spiegelt die Bedeutung der Schweinen in einer Wirtschaft wider, die nur über geringfügige andere Proteinquellen verfügt.
Wo nicht bestimmte materielle oder sonstige Interessen im Spiel sind, findet kaum sprachliche Entwicklung statt. Wie der Sozialanthropologe Bronislaw Malinowski berichtet, benennen die Trobriander die äußere Welt nur insoweit, als sie nützliche Dinge gewährt, „nützlich“ in umfassendsten Sinne verstanden. Bei den Lodagaa in Nordghana werden die Tage nach den Märkten in der Nachbarschaft gezählt. Das Wort für „Tag“ und „Markt“ ist dasselbe, und der „wöchentliche“ Zyklus ist ein Sechstagezyklus der wichtigsten Märkte in der Nachbarschaft, ein Zyklus, der auch den räumlichen Bereich der alltäglichen Aktivitäten bestimmt.
Mnemotechniken
Um ihr soziales Wissen und ihre Kultur zu sichern und Genealogie, Gesetze, Gebete und Zaubersprüche in zuverlässiger Form über Generationen weitergeben, müssen orale Kulturen die Kunst des Gedächtnisses entwickeln - Mnemotechniken. Die Befestigung des Wortflusses durch regelmäßige Rhythmen des Körpers (Puls, Atem, Schritt) sind dabei hilfreich, Metrum, Gesang und Tanz begleiten die Rede und helfen ihren Ablauf einzuprägen. So war zum Beispiel der Berufsstand des Sängers sehr wichtig, da er kulturelles, oder auch politisches Gut in rhythmischen Liedern unter das Volk trug. Repetitive Formeln, feste Einteilungen der Redeweisen nach Länge, Metrum, Melodie, Sprachhöhe und Gelegenheit strukturierten das Redematerial für das Gedächtnis. Die Menge des Wissens ist durch das Gedächtnis einzelner Menschen begrenzt.
Der gesamte Inhalt der sozialen Tradition wird im Gedächtnis aufbewahrt. Statuen und Schnitz-Bilder sind Monumente des Heiligen und gleichzeitig Gedächtnishilfen. „Gedächtnis“ bezog sich weniger auf Auswendig-Lernen als auf das sinngemäße Erinnern. In jeder Generation wird das kulturelle Erbe daher so vermittelt, dass seine neuen Elemente sich in dem Interpretationsprozess den alten einfügen. Elemente, die ihre aktuelle Bedeutung verloren haben, werden in der Regel vergessen und damit aus der Tradition ausgeschieden. Eine nicht-literale Gesellschaft sieht die Vergangenheit unter dem Gesichtspunkt der Gegenwart. Mythos und Geschichte verschmelzen.
siehe auch die Texte zu Das oral-visuelle Selbst MG-Link Altägyptische Kultur des Erkennens MG-Link Die orale Sprach-Kultur der Pirahã M-G-Link Am Anfang war Musik - über die Ursprünge von Sprache und Musik M-G-Link Orale Götterkultur: Klangrede und leichte Trance M-G-Link Schrift-Denken: Phonetische Schrift und griechisches Denken M-G-Link Griechenland und die Disziplinierung des Denkens (aus: Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis) M-G-Link
weiterführende Literatur: Jack Goody, Ian Watt, Entstehung und Folgen der Schriftkultur (1997) Eric A. Havelock, Als die Muse schreiben lernte: Eine Medientheorie zu Oralität und Literalität (2007) Walter J. Ong, Oralität und Literalität (1987) Raoul Schrott und Arthur Jacobs, Geist und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren (2012)
|