Die digitale Gesellschaft
Die Digitalisierung erscheint zunächst nur als Verbesserung und Optimierung vorhandener Kultur-Praktiken, verspricht mehr und preiswerteres von allem. Und dann beginnen die digitalen Hilfs-Techniken dem Menschen, seine Wahrnehmung zu optimieren und ihm Arbeit abzunehmen - sie entmündigen ihm, sagen Kultur-Kritiker. Aber warum soll man nicht das, was Algorithmen besser können, den Algorithmen überlassen? Immerhin hat man auch die Gedächtnis-Funktion den Büchern überlassen und die Handarbeits-Produktion den Maschinen.
2022
Wissensgesellschaft, Industriegesellschaft, Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, multikulturelle Gesellschaft – verschiedene Worte sind in den letzten Jahrzehnten ausprobiert worden, um die gesellschaftlichen Veränderungen auf einen Begriff zu bringen. Sie treffen alle nur Teilaspekte. Aber nichts verändert die Gesellschaft so umfassend, so mühelos und so radikal wie die Digitalisierung. So hat die „digitale Gesellschaft“ die „Informationsgesellschaft“ verdrängt.
Wie konnte die Digitalisierung so problemlos und so schnell wesentliche Weichenstellungen übernehmen, fragt der Münchener Soziologe Armin Nassehi. Wenn es etwas gibt, das alles Digitale verbindet, dann ist es die Verknüpfungsfähigkeit von Daten mit Daten, also die Fähigkeit von Apparaten, Datenpunkte miteinander zu verbinden. Digitale Technik ist ganz offenkundig nicht für das entwickelt worden, was sie inzwischen leistet und bewirkt, und dennoch hat sie sich in kurzer Zeit bruchlos in allen gesellschaftlichen Bereichen als nützlich erweist und wird angewandt. Offenbar war die Gesellschaft „bereit“ oder empfänglich für die Digitalisierung.
Aber was ist „digitale Gesellschaft“?
Man sagt leichthin, das Netz bringe Leute zusammen, die sonst nicht zusammenkämen. Das ist aber nur die quantitative Vermehrung dessen, was insbesondere die Stadt-Gesellschaft immer ausgemacht hat. Das Neue des Netzes ist, dass es Daten von Menschen zusammenbringt, ohne dass die Menschen körperlich zusammenkommen und ohne dass die Menschen, die da verbunden werden, davon wissen. Big Data konstruiert aus Datenprofilen eine Persönlichkeit und zerlegt solche Datenpakete, um sie mit ausgesuchten Datenpaketen anderer zu kombinieren - „sinnvoll“ im Sinne der Datenverarbeitung. Die technische Digitalisierung erschafft neue Realitäten der Gesellschaft unter der Oberfläche der analogen Wahrnehmungsmuster. Die Daten, die unser Alltagsverstand zu der Wahrnehmung von „Gemeinschaft“ veranlasst, sind nur ein kleines Paket im Verhältnis zu den Datenmengen, die im Hintergrund die moderne Gesellschaft steuern. Moderne „Gemeinschaften“ sind durch Big Data konstruiert. Und die Algorithmen der digitalen Datenverarbeitung speisen nicht nur die Apps, die die Menschen zur Konstruktionen ihres Selbst-Bildes nutzen, sie steuern zunehmend auch aus dem Hintergrund die öffentliche Meinungsbildung.
Digitale Datenverarbeitung strukturiert unser Wissen und unsere Erkenntnisse, digitale Kommunikation und Vernetzung strukturiert soziales Handeln und unsere sozialen Gemeinschaften, digitale operierende Algorithmen steuern die (automatisierte) Produktion, sie steuern die Produktion, nehmen also den Menschen die Steuerungskompetenz über ihre Arbeit. Algorithmen steuern die Geldwirtschaft. Digitale Erlebnisse beherrschen unser Freizeit-Vergnügen. Die Digitalisierung der Kommunikation ist schließlich eine große Herausforderung für die repräsentative Demokratie.
Und ganz offensichtlich haben auch die Gesellschaften, in denen die Digitalisierung als superprofitables Geschäft entwickelt, vorangetrieben und immer wieder neu erfunden wird, keine Steuerungskompetenz für die Technologieentwicklung. Geradezu naiv erscheint es, wenn ein Richard David Precht verkündet, man müsse erkunden, „wo die Weichen liegen, die wir jetzt richtig stellen müssen, damit sie (die Technik) sich in einen Segen und nicht in einen Fluch verwandelt“. Wie konnte die Digitalisierung so problemlos und so schnell wesentliche Weichenstellungen übernehmen, fragt der Münchener Soziologe Armin Nassehi. Wenn es etwas gibt, das alles Digitale verbindet, dann ist es die Verknüpfungsfähigkeit von Daten mit Daten, also die Fähigkeit von Apparaten, Datenpunkte miteinander zu verbinden. Digitale Technik ist ganz offenkundig nicht für das entwickelt worden, was sie inzwischen leistet und bewirkt, und dennoch hat sie sich in kurzer Zeit bruchlos in allen gesellschaftlichen Bereichen als nützlich erweist und wird angewandt. Offenbar war die Gesellschaft „bereit“ oder empfänglich für die Digitalisierung.
Die Verarbeitung von zählbaren Informationen begann mit der öffentlichen Sozialstatistik, die mit der Etablierung moderner Staatlichkeit entstand. Der „Sozialphysiker“ Adolphe Quetelet (1796-1874) hat damit begonnen, statistische Verfahren zur Beschreibung von Regelmäßigkeiten der Gesellschaft zu benutzen. „Er hat sich zum Beispiel darüber gewundert, wie regelmäßig sich die Menschen verhalten, etwa wenn es ums Heiratsverhalten geht“ (Nassehi): Das Heiratsverhalten erscheint im romantischen Selbstverständnis als ein höchst individuelles Verhalten und doch erweist es sich in der gezählten Form als gesellschaftlich beschreibbares Muster-Verhalten – soziale Schichtung, Alter, ökonomischer Status, Körpermerkmale passen in der Regel und vom Alltagsverstand werden nur Abweichungen thematisiert. Diese Muster sind die Arbeitsgrundlage von Partnerbörsen und „digitalisiertes Dating“ bedeutet, dass die Beteiligten ihre Datenspuren für diese Muster viel differenziert selbst erzeugen und diese Muster dann in extrem großen statistischen Mengen verarbeitet werden.
Man sagt leichthin, das Netz bringe Leute zusammen, die sonst nicht zusammenkämen. Das ist aber nur die quantitative Vermehrung dessen, was insbesondere die Stadt-Gesellschaft immer ausgemacht hat. Das Neue des Netzes ist, dass es Daten von Menschen zusammenbringt, ohne dass die Menschen körperlich zusammenkommen und ohne dass die Menschen, die da verbunden werden, davon wissen. Big Data konstruiert aus Datenprofilen eine Persönlichkeit und zerlegt solche Datenpakete, um sie mit ausgesuchten Datenpaketen anderer zu kombinieren - „sinnvoll“ im Sinne der Datenverarbeitung. Die technische Digitalisierung erschafft neue Realitäten der Gesellschaft unter der Oberfläche der analogen Wahrnehmungsmuster. Die Daten, die unser Alltagsverstand zu der Wahrnehmung von „Gemeinschaft“ veranlasst, sind nur ein kleines Paket im Verhältnis zu den Datenmengen, die im Hintergrund die moderne Gesellschaft steuern. Moderne „Gemeinschaften“ sind durch Big Data konstruiert.
Die Werbebotschaft von Facebook war „Connecting people“, cheinbar kostenlos. Das Geschäftsmodell dahinter aber war „connecting data“, also die Erfassung und Verbindung von Informationen. Hinter unserem Rücken werden durch unsere alltägliche Nutzung digitalisierter Techniken Informationen gesammelt und in Daten verwandelt. In der Wirklichkeit von „Big Data“ entstehen statistische Gruppen, die in der analogen Welt so gar nicht vorkommen - etwa Risikogruppen für bestimmte Krankheiten, potentielle Käufer bestimmter Produkte, Verdächtige in Rasterfahndungen. Aus den Daten lassen sich statistische Normalitäten herauslesen, Normalität der individuellen Lebensführung erweist sich nun nicht mehr im Vergleich mit den Predigten der guten alten Sitten und einer vernünftigen Lebensführung, sondern aus dem Vergleich mit dem, was andere tun. Wenn ich am Bildschirm eine Internetseite mit Nachrichten aufrufe, bekomme ich vielfach eine Liste von Texten des Portals, die „am meisten“ geklickt wurden. Es ist also normal, wenn ich das auch lesen möchte. Auf subtile Weise führt die Selbstbeobachtung durch Big Data also fort, was Ärzte, Juristen, Lehrer, Professoren und Sozialplaner, die Polizei und das Strafsystem in der Neuzeit begonnen haben: Die freien Subjekte werden angehalten, sich wie vernünftige Menschen zu verhalten, sich um ihre Gesundheit zu sorgen, sich an die Regeln zu halten und ihre Lernerfolge an guten Noten zu messen. Schon die Sozialtechniken der modernen Gesellschaft haben Fremdkontrolle durch scheinbare Selbstkontrolle ersetzt. Mit der digitalen Technik wird die Selbstkontrolle perfektioniert, es ist kaum noch spürbar, dass die Muster der Selbstkontrolle im Grunde Fremdkontrolle bedeuten.
Was sich für den Einzelnen als Eigensinn und „romantischer Individualismus" anfühlt, jeder und jede will authentisch und originell sein, erscheint beim Blick von außen als großer Konformismus: Die Formen der Selbst-Inszenierung sind dieselben, weltweit. In dem scheinbar einzigartigen „ICH“ steckt viel „WIR“. Und das, was digital kein Gewicht mehr hat, die Welt der Gefühle und die Bindung an den unergründlichen Leib, wird von den digitalen „Techniken des Selbst“ als Körperkult besetzt. Der visuell perfektionierte Körper unterstreicht den optimistisches Imperativ der Selbstinszenierung, der lautet: „Stets gut drauf sein!“
Die digitale Technik ist so erfolgreich, weil sie anknüpft an gesellschaftliche Praktiken des 20. Jahrhunderts und weil sie – meist jendenfalls – funktioniert. Und die Nutzung digitaler „Produkte“ ist so einfach, dass niemand dafür zehn Jahre in die Schule gehen muss. Die Einfachheit der digitalen Benutzeroberflächen macht es schwer, die Digitalisierung als Macht zu begreifen , die die Gesellschaft unterwirft, Arbeit entwertet, Arbeitsplätze vernichtet, die Individuum aus ihrer natürlichen Lebensumwelt herausreißt und an den Bildschirm fesselt.
Medienrevolution Buchdruck: Exkurs über Drucktechnik und Reformation
Beim Verständnis der neuen Mechanismen der Digitalisierung helfen manchmal die Vergleiche mit den Folgen der alten Medienrevolution des „Buchdrucks“. Die Drucktechnik wurde erfunden in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem die Wahrnehmung der Wirklichkeit durch das Schema von unten und oben passierte. Dass die Bauern (unten) die Reichen (oben) ernähren und ihnen dienen mussten, dass die Oben mehr Rechte hatten als die Unten und das Wissen verwalteten, das war selbstverständlich und als göttliche Ordnung von oben sanktioniert. Das war auch für die Bauern leicht zu begreifen: „Oben ist oben, und unten ist unten, gleichviel, ob man von oben oder von unten schaut.“ (Nassehi)
Solange der Drucker Johannes Gensfleisch Gutenberg 1450 vor allem lateinische Bibeln oder Ablass-Zettel für die Kirche druckte, war diese Welt in Ordnung. Die Ordnung geriet ins Wanken, als Wissen zur Beschreibung und das Verstehens der Wirklichkeit unabhängig von der Ordnung des oben und unten verbreitete – auf Flugzetteln. Die Reformation bemächtigte sich der Drucktechnik 70 Jahre nach Gutenberg in einer Weise, an die der Erfinder nie gedacht hätte. Wenn der kleine Mönch Luther erklärt, dass nur das wahr ist, was in der Bibel steht und auf den Flugzetteln verbreitet werden konnte, dann verlieren die oben ihre Macht über das Wissen. Der Buchdruck wurde so zur Technik einer neuen Ordnung des Wissens und wurde zur Voraussetzung der Emanzipation weltlicher von kirchlicher Herrschaft. „Wahrheitsfragen begannen sich von Rangfragen vorsichtig zu emanzipieren, politische Macht und religiöses Heil wurden wenigstens unterscheidbar, und der Buchdruck und die Literalität der Bevölkerung ermöglichten es, Wahrheiten voneinander zu unterscheiden.“ (Nassehi)
In einem parallelen Prozess wurde die Ordnung des (bäuerlichen) Unten und (adeligen) Oben erschüttert durch die Kaufleute, die nicht durch Landbesitz und Ausbeutung der Bauern, sondern durch ihre ökonomischen Kalküle des Handels zu Reichtum kamen.
Daraus entwickelte sich eine „Neuzeit“-Gesellschaft, in der nicht mehr alles nach Unten/Oben wohlgeordnet war und in der ein Handwerkersohn durch seine Erziehung und Bildung zu Ansehen kommen konnte und sein „Wissen“ nicht selbstverständlich die gesellschaftliche Stellung des Oben gegenüber dem Unten repräsentierte und rechtfertigte. Wer lesen kann, entdeckt das Argument, und der Rang des Sprechers kann in den Hintergrund treten.
Renaissance und Reformation haben die alten Wissens-Ordnung zerstört – aber wie sollte der Mensch diese neue Zeit begreifen? Wo gab es Wahrheit, wenn nicht mehr bei den Herrschaften der Kirche? Kennzeichnend für die Neuzeit wurde die „Neugier“, die von der Kirche als Sünde verächtlich gemacht worden war, und die Neugier unterstellte, dass die Ordnung der Welt keineswegs selbstverständlich ist. Neues Wissen musste mühsam geschaffen werden, das ist die Geburtsstunde der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Streitkultur.
Wissenschaft unterstellt, dass es unter der Oberfläche des Sichtbaren eine komplexere Wirklichkeit gibt. Und Begreifen dieser komplexen Wirklichkeit bedeutete, sie gedanklich zu ordnen, etwa die biologische Vielfalt in eine Ordnung zu bringen) und in der Komplexität einfache Strukturen zu entdecken, „Gesetze“, Naturgesetze. Je einfacher die Modelle sind, mit denen Wirklichkeit geordnet wird, desto plausibler erscheinen sie dem menschlichen Verstand. Der alte Demokrit muss sehr glücklich gewesen sein, als ihm der Gedanke kam, dass alle Materie aus zusammengesetzten Atomen besteht und dass jedes Atom die Form eines regelmäßigen geometrischen Körpers hat. Genauso glücklich muss René Descatres gewesen sein, als er sein „Ich denke also bin ich“ formulierte oder Albert Einstein sein „E=mc²“.
Das digitale „Wir“ als neue soziale Haut für das Ich
Die Beschreibung von Mustern mit Hilfe digitaler Technik kann in diesem Sinne nahtlos an das anknüpfen, was der wissenschaftliche Verstand immer schon gemacht hat. Die Digitalisierung kann größere Datenmengen verarbeiten und dadurch weitere Regelmäßigkeiten sichtbar machen - Muster, die unser Verhalten oder auch gesellschaftliche Prozesse als „regelhaft“ erscheinen lassen. Der Soziologe Nassehi empfindet sich als Individuum und er muss bekennen, die soziologische Analyse zeigt ihm, dass nahezu alles, „mein Lebensstil, meine alltagsästhetischen Vorlieben, mein Einrichtungs- und Musikgeschmack, meine Konsumgewohnheiten, die Marken meiner Kleidung, meiner Schreibgeräte, meiner elektronischen Geräte, die ich besitze, meine Mediennutzung, meine politischen Überzeugungen, selbst das Automobil, das ich fahre“ irgendwie typisch sind, gesellschaftlichen Mustern entsprechen. Die digitale Datenerfassung objektiviert nur das, was der Soziologe auf Grundlage von Phänomenologie und die Statistik geahnt hatte.
Schon die verinnerlichte Selbstoptimierung, die die manifeste Fremdkontrolle des Sozialverhaltens durch präsente Mächte des „Oben“ abgelöst hat, verdankt ihre Verbreitung dem Umgang mit Schriftstücken - vom Tagebuch bis zur Lektüre von Romanen, die Lebensgeschichten vorführten. Der Fisch weiß nichts vom Wasser, Lebewesen sehen Dinge, aber nicht das Licht, hören Töne, aber nicht die Luft. So arbeitet das Gehirn, ohne seine Verarbeitungsprozesse dem Menschen bewusst zu machen. Schriftstücke, Radio und Fernsehen und eben auch der Computer vermitteln Eindrücke einer medial konstruierten Realität, die im Gehirn mit den über die „natürlichen Sinnesorgane vermittelten Eindrücken des „Originals“ verschmelzen. So entsteht vor unserem geistigen Auge eine Wirklichkeits-Wahrnehmung, deren mediale Anteile nicht mehr klar abgrenzbar sind. Schon die Schriftlichkeit hat ein Netz von Sichtweisen über die Wahrnehmung der Realität gelegt, sie hat eine gemeinsame Welt simuliert, aus der die Geister vertrieben wurden und in der nur das als „wahr“ Anerkennung finden sollte, wofür es schriftsprachliche Worte gab und was dem kühlen Verstand „klar und deutlich erkennbar“ ist. Dazu gehörten natürlich auch kulturelle Konstruktionen bis hin zu den konstruierten Nationen und nationalen Zugehörigkeiten, mit denen Ordnung geschaffen wurden in einer über Jahrtausende selbstverständlich multi-ethnischen und multi-kulturellen Welt.
Was bewirkt die digitale Technik?
Zum Bespiel die selbstfahrenden Autos. Der Autoverkehr gilt als „individualisierter“ Verkehr und doch darf nur derjenige ein Auto „führen“, der einen Führerschein erworben hat und bereit ist, sich an komplizierte Regeln zu halten, damit die Individuen auf den öffentlichen Straßen ohne Kollision aneinander vorbei kommen. Die komplexen Wahrnehmungen, die der „Führer“ eines Automobils als Grundlage seiner Fahrkunst begreift, werden nun immer mehr automatisiert. Auf das Tempolimit achtet die App und neuerdings auch auf die Einhaltung individuell erforderlicher Pausen – eine App zeigt an, wenn das Fahrverhalten auf Müdigkeit schließen lässt. Das „autonome“ Fahren erfordert viel Technologie, um die Komplexität der Wahrnehmungen, die einem geübten Fahrer offenbar intuitiv und automatisch gelingen, einer Maschinen beizubringen. Diese „menschliche“ Fahrkunst wird von einem Fahr-Computer aber nur gefordert, solange Menschen andere Autos steuern. So wie das Hauptproblem der Weltraumforschung bei den Problemen liegt, die der Mensch im Weltraum darstellt, wäre ein vollautomatisierter Verkehr, in der es keine menschlichen Stör-Risiken gibt, vergleichsweise einfach zu realisieren.
In ähnlicher Weise könnte man diskutieren, wie viele der Gesundheitsprobleme der Menschen eigentlich nur dadurch zustande kommen, dass Menschen eigenwillig „falsch“ leben. Das preiswerteste Modell wäre für die Krankenkassen, wenn schon bei der Zeugung eines Menschen genetische Risiken minimiert würden, wenn die Ernährung digital optimiert würde und auch die Risiken aus dem Sozialverhalten – Rauchen, Alkohol, gewaltsame Streitigkeiten, Stress – automatisiert ausgeschlossen oder zumindest minimiert würden. Die oft vergeblichen Ratgeber für das gute gesunde Leben müssten mit einer zwingenden Autorität versehen werden, und ihre Einhaltung zumindest könnte digital überwacht werden. Selbst stressiger Liebeskummer könnte minimiert werden, wenn die Partnerfindung über Big Data „gematcht“ würde.
Diese Beispiele zeigen, dass eine ganz neue Qualität der Digitalisierung darin liegt, den menschlichen Individuen mit einer digitalen sozialen Haut zu optimieren, mit einem intelligenten „Wir“ neu zu formen. Die Metapher vom „digitalen Schatten“ trifft das nicht, die digitale Realität verschmilzt mit der alten Kohlenstoff-Realität zu einer Einheit. Wir nehmen die Dienste der digitalen Apps dankbar an und merken kaum, dass wir durch Google Maps die Gewohnheit, uns selbst zu orientieren, verlernen oder durch die „Kontakte“ in der Smartphone-App uns keine Telefonnummern mehr merken müssen. Wer einmal sein Smartphone verloren hat, weiß, wie sehr wir im Alltag heute schon davon abhängig sind, und wehe, wenn nicht nur das Gas knapp wird, sondern auch der Strom ausfällt - das wäre der Super-Gau.
Lit.: Armin Nassehi, Muster: Theorie der digitalen Gesellschaft (2021)
siehe auch meine Texte: Wahrheit und Krise - zur „analogen” Oberfläche der komplexen Gesellschaft MG-Link Digitale Realität - Über die Begrenztheit der menschlichen Wahrnehmungs-Sinne und die neue Dimension des Digitalen MG-Link Digitale Erlebnisse in der Mediengesellschaft MG-Link Notizen zur Kulturgeschichte der Zahl MG-Link Denken mit Zahlen MG-Link
|