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Lyrik der Liebe, Kommunikation der Begierde, Geschichte der Lust
Das Medium der Liebe ist das Bild, der Film. Das Medium des Redens über Liebe ist die bildhafte Sprache der Literatur. Im Zeitalter der Vernunft taten sich die Aufklärer schwer mit der Liebe. Hier sind Beispiele der Kommunikation der Liebe und der Begierde gesammelt – aus dem Altertum, dem Mittelalter, der Neuzeit
(zu meinen Text „Was ist Liebe“ MG-Link) 2022
„Die Triebe sind mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit.“ Sigmund Freud
Was wir haben über die Geschichte der Lust, sind neben den Bildern vor allem schriftsprachliche Zeugnisse. In Gesellschaften, in denen keine Schriftsprache gesprochen wird, sind schriftliche Zeugnisse von Emotionen kaum repräsentativ für gelebte Gefühle. Gefühle gelten bis heute als „unaussprechlich“. Wenn es in alten Kulturen dafür nur „grobe“ Metaphern gab, kann das darauf hindeuten, dass auch die Praktiken der Lust „grob“ waren – jedenfalls nach den Kriterien der empfindsameren Jahrhunderte. Aber die aktuelle Sado-Maso-Szene zeigt, was alles durchaus „menschlich“ sein kann.
Der Botaniker August Henschel hat 1820 in seinem Buch „Von der Sexualität der Pflanzen“ den Begriff der „Sexualität“ geprägt, mit dem seitdem die geschlechtlich motivierten Bedürfnisse, Ansprüche und Verhaltensweisen auch beim Menschen zusammengefasst und damit in einen Zusammenhang gebracht werden.
Ein kurzer Vor-Blick auf die islamische Tradition Begierde und Sünde
An den überlieferten Quellen zur arabischen und islamischen Kultur der Liebe wird deutlich, dass die christlich-europäische Konstruktion einer prinzipiellen Ablehnung der sexuellen Begierde, wie sie in der Erzählung von der Erbsünde zusammengefasst ist, kulturgeschichtlich eine Besonderheit darstellt, auf die hier kurz verwiesen werden soll. Der Koran hat in diesem Punkt die christliche Tradition nicht übernommen, zu seiner Paradiesbeschreibung gehören nicht nur schöne Frauen (hūr), sondern auch schöne Knaben. Der leibliche Genuss in Form von Essen und Trinken oder sexueller Lust ist aus islamischer Sicht ein Geschenk Gottes und ein Vorgeschmack auf das Paradies. In einem Hadith wird diese Position auf ein Machtwort von Mohammed selbst zurückgeführt, der vehement darauf bestanden habe, sowohl Fleisch zu essen wie zur Befriedigung seiner sexuellen Begierde Frauen zu heiraten. Die sexuellen Sünden haben in den islamischen Sündenkatalogen keinen herausgehobenen Stellenwert, Völlerei konnte genauso schlimme Folgen haben und galt zuweilen als letzte Ursache auch von sexuellen Verfehlungen. Im Selbstverständnis der vormodernen islamischen Tradition war sexuelles Fehlverhalten nicht Ausdruck von Neigungen, die auf einen schlechten Menschen hindeuten und zu einer ewig andauernden göttlichen Verdammnis führen müssen. Der sexuelle Trieb galt als eine natürliche Kraft, das Überschreiteng der Grenze des Erlaubten durch unzulässige Handlungen war nur ein Hinweis auf unzureichende Vernunftkontrolle. So wird die sexuelle Verfehlung nicht als Hinweis auf die Identität eines schlechten Menschen verstanden, sondern als verwerfliche Handlung, die durch die durchaus menschliche und gottgewollte Begierde erklärlich sind. Wenn keine weitere Person Schaden genommen hat, war das Fehlverhalten leicht zu sühnen. Reue war formlos möglich, man konnte sich diskret von dem begangenen Fehlverhalten distanzieren. Sündenverfolgung und Sündenbekämpfung gehörte – in deutlichem Kontrast zu den christlichen Machthabern - nicht zu den Prioritäten der muslimischen Theologen und Juristen. Die Reue konnte zwischen den betroffenen Familien ohne Beteiligung einer vermittelnden Autorität stattfinden. Die Kontrolle über das sexuelle Verhalten war Sache der Familien, für die religiös-staatlichen Autoritäten haben die sexuellen Normen keine herausragende Bedeutung. Die Väter und die Brüder und später die Ehemänner wachen über die strikte Geschlechtersegregation und über die Vollverschleierung, mit der das Aussenden von Reizen vermieden werden soll. Die Familie versuchte, das Risiko eines unehelichen Geschlechtsverkehrs durch Verheiratung in einem jungen Alter auszuschließen.
Während die frühen heterosexuellen Kontakte einer strikten Kontrolle unterlagen, waren homoerotische Beziehungen unter Männern oder mit Jugendlichen durchaus akzeptiert. „Es ist die transzendentale Funktion der Liebe, die es dem Mystiker erlaubt, mit dem Schüler Zärtlichkeiten auszutauschen, ihn in der Öffentlichkeit zu küssen und nachts mit ihm unter einer Decke zu schlafen, ohne dass seine gesellschaftliche Umgebung ihm unterstellen konnte, dadurch die Grenzen des Zulässigen überschritten zu haben.“ (Arash Guitoo, Die Geschichte der mann-männlichen Begierde in Iran von der Vormoderne bis heute, 2020) Der berühmte islamische Gelehrte Al-Ġazālī (1058-1111) hat formuliert, das Anschauen von Jungen sei zulässig, wenn sie zu einer Befriedigung führe, „die man beim Anblick des grünen Grases oder einer Blume oder einer schönen Zeichnung empfindet“. Denn „auch wenn die Blumen schön sind, hat man trotzdem kein Bedürfnis, sie zu küssen oder anzufassen.“ Verderblich sei nur das Bedürfnis nach Nähe.
Sexuelle Handlungen und Identität
Offenbar sind sexuelle Handlungen in der islamischen Tradition - teilweise bis heute - nicht zwingend Teil einer dadurch gekennzeichneten Persönlichkeit. Wer durch seine Handlung eine Norm verletzt hat, wird dadurch nicht zum „Sünder“.
Diese Haltung zum Eros hat in der griechischen Antike seinen Ursprung. In Hesiods „Theogonie“ (700 v.u.Z.) hat Eros keine Eltern, er ist der Schönste unter den Göttern. Die Menschen und die Götter sind ihm ausgeliefert. Und Eros war die reine rücksichtslos Begierde, durch keine Vernunft und keine Freundschaft zu zähmen. In den griechischen Göttergeschichten gibt es keine romantische Liebe. Und noch bei den Epikureern galt die Begierde als akzeptabel, wenn sie der Befriedigung eines sexuellen Bedürfnisses diente und nicht zu emotionalen Verwicklungen führte. Von erotischen Liebesbeziehungen wollten auch die Kyniker nichts wissen.
Wenn man unterstellt, dass diese fehlende Psychologisierung auch für vormoderne europäische Gesellschaften typisch gewesen ist, dann erschließen sich die unterschiedlichen literarischen Hinweise auf die Kultur der Begierde in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Texten. Dass Befriedigung sexueller Lust eben als Handlung begriffen wird und nicht als Element einer intimen Beziehung einander verbundenen Menschen, ist bis heute kennzeichnend für das Bordell, das offenbar ein zeitloses universelles, ökonomisches und kulturelles Erfolgsmodell darstellt. Was sich offenbar verschoben hat, ist die gesellschaftliche Akzeptanz von männlichen Bordell-Besuchen oder Kurtisanen. Umgekehrt ist zum Beispiel die Minnelyrik ein Hinweis darauf, dass auch intime Gefühle nicht als Teil einer intimen Verbindung zweier Personen verstanden wurden, sondern als Teil eines erotischen Spiels, das seinen Platz außerhalb der ehelichen Lebensgemeinschaft haben konnte. Hochzeit und Ehe waren bestimmt von dem Interesse, Nachkommen zu zeugen und die familiäre Arbeit aufzuteilen. Die sexuelle Begierde in der bäuerlichen und der bäuerlich geprägten Kultur der Industriearbeiter hatte ihren Ort nicht zwingend innerhalb der ehelichen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft.
In seinen „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ hat Sigmund Freud 1905 darauf hingewiesen, dass „die Antike den Akzent auf den Trieb selbst, wir aber auf dessen Objekt verlegen. Die Alten feierten den Trieb und waren bereit, auch ein minderwertiges Objekt durch ihn zu adeln, während wir die Triebbetätigung an sich gering schätzen und sie nur durch die Vorzüge des Objekts entschuldigen.“ Schon der Pietismus, dann vor allem die europäische Romantik unterwirft die sexuelle Begierde dem Pathos der Liebe.
Liebesgeschichten aus archaischen Hochkulturen
Die Sozialhistoriker streiten darüber, wie viel die alten romantischen Text-Zeugnisse über die alltägliche Wirklichkeit der geschlechtlichen Liebe sagen. Die überlieferten Texte sind aus ganz unterschiedlichen Motiven entstanden, aus welchen Motiven sie von lesekundigen Zeitgenossen kolportiert wurden, wäre eine zweite Frage. Vermutlich haben die einfachen Leute im antiken Ägypten volkstümliche mündliche Fassungen der erotischen ägyptischen Verse gekannt. Vermutlich haben sie Hochzeitslieder von der Art gekannt, wie sie schriftlich über das „Schir ha-Schirim“, das „Lied der Lieder“, fixiert und für uns dokumentiert sind und es gibt keinen Grund anzunehmen, einfache Menschen hätten sie wie – angeblich - die Mönche in ihren Klosterzellen im Mittelalter auf das Verhältnis zu Christus bezogen.
In den frühen Hochkulturen wurden erstaunlich „romantische“ Geschichten mit den Metaphern aus der Landwirtschaft erzählt – gleichwohl scheint die Realität der Geschlechterbeziehung nach den überlieferten Quellen überwiegend doch von männlicher Gewalt und wenig sublimierter Sexualität geprägt gewesen zu sein. Adalbert Podlech hat in seinem dreibändigen kommentierenden Wörterbuch über „Sex, Erotik, Liebe“ zahllose Dokumente der gewalttätigen, von patriarchalischer Sexualität geprägten Alltagssprache gesammelt. Die Griechen haben sich sogar ihre Götter als skrupellose Bande von Vergewaltigern vorgestellt. „Seit dem Beginn der Hochkulturen bis zum Ende der Römerzeit hatte der freie Mann schon als pubertierender Knabe immer Frauen, die er sexuell benützen konnte, wann und wie er wollte – Sklavinnen.“ (Podlech) Hera ist die griechische Göttin, die es nicht ertragen konnte, dass Gott Zeus (ihr Mann) immer wieder andere Frauen vergewaltigte.
Inanna, der Göttin der Liebe, und ihr Geliebter Dumuzi - Mesopotamien Ein sumerischer Hymnus ist überliefert, der ein Zwiegespräch zwischen Inanna, der Göttin der Liebe, Fruchtbarkeit und Vegetation, und ihrem Geliebten Dumuzi, wiedergibt: „Inanna preist ihn, [komponiert] einen Gesang auf ihre Vulva (Furche): ,Die Vulva, sie ist .. . wie ein Horn, sie ... am großen Wagen, sie ist das ,Boot des Himmels', das die Seile festmacht ... , wie die neue Mondsichel Leidenschaft ... ; sie ist ein Feld, das der Uz-Vogel ... der Uz-Vogel; sie ist ein hohes Feld14 , mein(e) ... , wie für mich, meine Vulva ist ein ... Hügel, - für mich; ich, das Mädchen (die Jungfrau), wer wird ihr (sc. der Vulva) Pflüger sein? Meine Vulva ist ... nasser Boden für mich, ich, die Königin, wer wird dort den Stier aufstellen?'" Dumuzi in Gestalt des Königs antwortet, er werde sie „für Euch pflügen.“ Darauf Inanna: „Pflüge meine Vulva, mein Liebster.“
Die Geschichte der Lilith In den romantischen Vorstellungen der Beziehung zwischen Mann und Frau war die Frau übrigens durchaus gleichberechtigt. Und diese romantische Idee des Geschlechterverhältnisses wurde als Gott-gewollt gedacht. Das zeigt die Geschichte der Lilith, einer semitischen Gestalt, die auch im Golgamesh-Epos erwähnt wird. Lilith war nach der alten babylonischen und der neueren hebräischen Mythologie die erste Frau von Adam.
In Sohar, einem bedeutenden Schriftwerk der Kabbala aus dem 13. Jahrhundert, liest sich das so: „Als Gott Adam erschuf, sagte er: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Daher erschuf er für ihn eine Gehilfin, aus der gleichen Erde und nannte sie Lilith. Ihr Haar ist lang und rot wie eine Rose, ihre Wangen sind weiss und rot, an den Ohren hängen sechs Schmuckstücke.... Ihr Mund ist wie eine schmale Tür gesetzt, angenehm in seiner Zier, ihre Zunge scharf wie ein Schwert, ihre Worte glatt wie Öl, ihre Lippen sind rot wie eine Rose und süß von aller Süße dieser Welt. Sobald sie geschaffen war, begann sie einen Streit und sagte: Weshalb sollte ich unten liegen? Ich bin ebenso viel wert wie du, wir sind beide aus Erde geschaffen. Als aber Lilith sah, dass sie Adam nicht überwältigen konnte, sprach sie den unaussprechlichen Gottesnamen aus und flog in die Luft.“ Eva ist danach erst das Ersatz-Weib: „Das zweite Weib Adams – Eva – schuf Gott aus der Rippe. Dabei sprach Er: Ich werde sie nicht aus dem Kopf des Mannes machen, sonst wird sie ihren Kopf in hochmütigem Stolz tragen; und nicht aus dem Auge, sonst wird sie lüsterne Blicke bekommen; und nicht aus dem Ohr, sonst wird sie überheblich; und nicht aus dem Mund, sonst wird sie eine Schwätzerin; und nicht aus dem Herzen, sonst wird sie zu Neid neigen; und nicht aus der Hand, sonst mischt sie sich in fremde Angelegenheiten; und nicht aus dem Fuß, sonst wird sie eine Herumtreiberin." „Aus der Rippe, die dem Auge des Menschen entzogen und stets unter der Hülle des Kleides verborgen ist, aus ihr schuf Gott das Weib. Denn die Zierde des Weibes ist die stille Zurückgezogenheit, die sittsame Beschränkung auf den häuslichen Kreis mit seinen Pflichten und seinem lauteren Glück. Und zu jedem Glied des Körpers sprach Gott, als er es machte: Sei keusch! Sei keusch!“
Offenbar konnte Gott der Allmächtige nicht verhindern, dass Eva sich gegen seine Schöpfungs-Idee auflehnte.
Der Mythos von den Kugelmenschen Gott gewollt, harmonisch und gleichberechtigt ist das Liebesverhältnis der Geschlechter auch bei der von Platon überlieferten Erzählung des Aristophanes über den Kugelmenschen.
Eines Tages wurde es den Göttern am Olymp langweilig und sie beschlossen, ein Ebenbild von ihnen zu schaffen. Dieses sollte sie amüsieren und ihnen Abwechslung in die Ewigkeit bringen. So formten die Götter also ein Ebenbild von ihnen, mit einer großen Ausnahme: Von all den Eigenschaften die jeder einzelne besaß, nahmen sie nur das Beste: Die Gerechtigkeit der Athene, die Güte von Hera, die Liebe der Aphrodite, die Größe des Zeus, usw. So schickten sie diese Kugelmenschen, die mit vier Armen, vier Beinen, zwei Köpfen, zwei Herzen ausgestattet waren, den Olymp herab, um auf der Erde, auf Mutter Gaia, Leben zu führen. Doch bald merkten die Götter, dass der Kugelmensch zu perfekt war. Er machte keine Fehler, wie die Götter es bisweilen taten, er stritt auch nie, wie das die Götter des öfteren taten. So trafen die Götter wieder zusammen, um einen Entschluss zu fassen. Der Kugelmensch, das Wesen, welches sie geschaffen hatten, sollte fortan nur noch als Hälfte umherirren und das ganze Leben mit der Suche nach seiner anderen Hälfte verbringen müssen.
Ein ganz besonderes Dokument romantischer Liebeist das alttestamentarische „Hohe Lied Salomos“, das „Lied der Lieder“. Es beschreibt die begehrende Liebe mit den Metaphern des Landlebens:
„Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich. Süßer als Wein ist deine Liebe (...) Zieh mich her hinter dir! Lass uns eilen! Der König führt mich in seine Gemächer. Jauchzen lasst uns, deiner uns freuen, deine Liebe höher rühmen als Wein. Dich liebt man zu Recht. Schön sind deine Wangen zwischen den Kettchen…“ „Siehe, du bist schön, meine Freundin, siehe, du bist schön: Deine Augen sind Tauben hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die an den Abhängen des Gebirges Gilead lagern. Deine Zähne sind wie eine Herde geschorener Schafe, die aus der Schwemme heraufkommen, welche allzumal Zwillinge gebären, und keines unter ihnen ist unfruchtbar. Deine Lippen sind wie eine Karmesinschnur, und dein Mund ist zierlich. Wie ein Schnittstück einer Granate ist deine Schläfe hinter deinem Schleier. Dein Hals ist wie der Turm Davids, der in Terrassen gebaut ist: tausend Schilde hängen daran, alle Schilde der Helden. Deine beiden Brüste sind wie ein Zwillingspaar junger Gazellen, die unter den Lilien weiden. Bis der Tag sich kühlt und die Schatten fliehen, will ich zum Myrrhenberge hingehen und zum Weihrauchhügel. Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir.“
Diese Sätze enthalten viele Anspielungen auf literarische Texte des alten Orients und des griechischen Kulturraumes. Es sind nicht schlichte populäre Hochzeitskleider, in ihnen fehlt vollkommen, was für populäre Hochzeiten entscheidend war: Die Frau wird nicht als potentielle Mutter gelobt, sondern als Geliebte. Das wird insbesondere durch den Vergleich mit den ansonsten vergleichbaren babylonischen Omina deutlich: Die Omina beschreiben einen Katalog stereotyper Eigenschaften, da geht es um die ideale Ehefrau. Da soll der Unterleib umfangreich sein, das Gesäß, die Schamlippen dick und die Unterschenkel groß. Aus den Körpermerkmalen insbesondere des Gesichtes wird zwingend auf den Charakter geschlossen - die wünschenswerten Charaktereigenschaften der idealen Ehefrau sind aus ihren körperlichen Merkmalen ablesbar. Wichtig ist, dass sie ihr Haus nicht vernachlässigen wird und ob sie unproblematische Schwangerschaften haben wird. Die Texte des Hohenliedes hingegen beschreiben eine Geliebte. Der Mann bewundert, was er sieht, er macht die Frau zu einem Objekt, welches er bewundernd anstarrt. Ein Hinweis auf ihre Weisheit, wie er der Beschreibung der Schönheit Saras im Genesis Apokryphon aus Qumran angefügt ist, fehlt. „Du hast mich des Verstandes beraubt, meine Schwester Braut“, sagt er. Er lobt ihr schwarzes Haar, ihre weißen Zähnen und das tiefe Rot der Lippen. Und die Frau formuliert ihre Sehnsucht. Sie ist nicht Objekt eines Heiratsvertrages, sondern gleichberechtigtes Subjekt einer Liebesbeziehung.
Antike römische Heiratsstrategien und romantische Gefühle
In den besseren Kreisen der antiken Gesellschaft, die literarisch gebildet waren und die schönen Geschichten kannten, war Heirat normalerweise eine familienpolitische Strategie einflussreicher Männer - was Sexualität und Liebe aber nicht zwingend ein- oder ausschloss.
So berichtet Plutarch, dass der 69 Jahre alte Redner Hortensius an den berühmten Cato herangetreten sei und um darum gebeten habe, dessen Tochter – wenigstens zeitweise – heiraten zu können. Die Tochter war verheiratet, was Hortensius offenbar nicht weiter störte. Cato lehnte ab. Da bat Hortensius ersatzweise um Überlassung von Catos Frau. Cato stimmte (mit Einwilligung ihres Vaters) zu, obwohl seine Frau gerade schwanger war. Als Hortensius gestorben war, heiratete Cato seine Frau wieder.
Aber auch aus der römischen Zeit gibt es aber ganz andere Zeugnisse über Liebe. Petronius etwa formuliert in einer seiner Satyricon-Verse: „Wir legten uns zusammen hin und strebten in tausendfachem Kussgeplänkel (mille osculis) dem Kampfziel der Wollust entgegen“.
Nach den von Männern verfassten literarischen Zeugnissen waren die Männer die aktiven Partner, aber nicht immer. Von Nikarchos ist die Bemerkung überliefert: „Hübsch, die Alte? Sie verlangte Geld, als sie jung war, jetzt legt sie es selbst hin, wenn einer sie hinlegt.“
Von der Ehe des Pompjus mit der Cäsar-Tochter Julia – sicherlich eine von den Familienoberhäuptern arrangierte Ehe – berichtet Plutarch, dass diese Liebe ihn ganz schlapp gemacht habe und er sich aus dem politischen Engagement zurückzog, um sich ein schönes Leben auf seinen Gütern „in den lieblichsten Gegenden Italiens“ zu machen. Die Geschichte war Stadtklatsch und das Volk von Rom erzwang ein Staatsbegräbnis für Julia auf dem Marsfeld.
War Romantik eine realistische Erwartung von Normalsterblichen in der Vorstellungswelt früherer Zeiten? Jedenfalls war sie im Volk lebendig. Und sie war Teil der kultivierten Phantasie einer gebildeten Oberschicht, eine Passion von Privilegierten.
Gern erzählt wurde im römischen Imperium die Geschichte von Apollonius, dem König von Tyros – eine Tränen rührende Story von der Odyssee einer Kleinfamilie, die vom Schicksal aller denkbaren Abscheulichkeiten (Inzest, Habgier, Zwangsprostitution) entzweit wird und durch göttliche Fügung doch wieder zueinander findet – Vater, Mutter, Tochter. Noch im Mittelalter erfreute sich der Stoff großer Beliebtheit. Die Popularität dieser Geschichten zeigt: Romantische Liebe konnte durchaus die Phantasie der Völker beflügeln.
Noch heute warnen Ehe-Ratgeber gleichzeitig davor, sich bei Wahl des Lebenspartners von dem romantischen Liebescode den klaren Kopf vernebeln zu lassen: Liebe macht blind. Diese Warnung stammt von dem römischen Dichter Sextius Propertius (geb. 55 v.u.Z.): „Ach, wen Liebe betört, dem ist das Auge verhängt! Wer wahnsinnig verliebt ist, sieht nicht (klar).“ Auch die Weisheiten eines Ovid (geb. 43 v.u.Z.) kennen schon die Differenz zwischen der limerence- und einer commitment-Liebe: „Sicher ist die Liebe, die dem Charakter gilt; die körperliche Schönheit aber fällt dem Alter zum Opfer.“ (Certus amor morum est; formam populabitur aetas.) Ovids Metamorphosen waren offenbar populär unter dem Lesekundigen, und das waren in der römischen Antike nicht wenige. Er hat die romantische Liebe, die es offenbar gab, unvernünftig und töricht gescholten und erklärt, der Mann solle die Frau mit kühlem Kopf jagen. Man darf davon ausgehen, dass es Gelegenheiten gab, Ovid laut zu lesen und laut vorzulesen. An den Wänden der unter dem Vulkan eingefrorenen Stadt Pompeji werben leicht bekleidete Mädchen um ihre Freier. Auch auf den Skulpturen des Alltags, den Vasen und anderen Gefäßen, sind die Verkörperungen der lustvollen Begierde erhalten.
In den griechischen und römischen Gesellschaften spielte Eros (die begehrliche Liebe) offenbar eine bedeutende Rolle. Der Eros war das kosmische Prinzip, das für die Fruchtbarkeit des Bodens sowie die Fortpflanzung der Tiere und Menschen notwendig war. Die Philosophen warnten gleichzeitig vor seiner gefährlichen und ungestümen Seite, eros wurde als eine Naturgewalt verstanden, die die gesellschaftliche Ordnung bedrohte. Daher war die Kontrolle des eros durch Selbstbeherrschung, Mäßigung und Beherrschung der Begierden das Ideal der griechischen Antike. Mit den Stoikern teilte das frühe Christentum den Argwohn gegenüber allen Leidenschaften und der ‚Fleischlichkeit‘ des Menschen. Die Pythagoreer sahen in der sexuellen Lust den Hauptgrund für die körperlich-seelische Disharmonie. Leib- und Lebenslust war aus Sicht der Gnostiker böse und unerwünscht. Dass Stoiker, Pythagoreer und Gnostiker sich über Jahrhunderte als elitäre kleine Zirkel mit solchen Polemiken gegen die fleischliche Begierde vom Volk absetzen konnte, ist ein Hinweis darauf, was der normale Umgang der Bevölkerung mit sexuellen Begierden war. Ihre sexualfeindliche Botschaft wurde vom Christentum aufgegriffen und fortgeführt, durchsetzen ließ sie sich auch mit der christlichen Staatsgewalt nicht wirklich.
Die christlichen Kirchenväter und die Begierden der Liebe
Das Ideal des Christentums war nicht mehr nur die Kontrolle der Handlungen, sondern die Unterdrückung des Begehrens. In der Vorstellungswelt der „Seele“ wurden die Motive des Handelns zum eigentlichen Vergehen, das als „Sünde“ den Menschen in seinem jenseitigen Leben festlegte. Die christliche Lehre konnte sich dabei auf den Evangelisten Markus stützen, der Jesus sagen lässt: „denn von innen, aus dem Herzen der Menschen, gehen heraus böse Gedanken; Ehebruch, Hurerei, Mord, Dieberei, Geiz, Schalkheit, List, Unzucht, Schalksauge, Gotteslästerung, Hoffart, Unvernunft“. (Markus 7,21) Diese Vorstellung vom sündigen Inneren des Menschen verpflichtet den Sünder zur psychologisierenden Selbst-Beobachtung, zur permanenten Selbsterforschung und Selbstobjektivierung. Die kirchlichen Schriften haben versucht, im Anschluss an die Evangelien und vor allem an Paulus zu erklären, wie unter dem Dach des Wertes der Keuschheit dem sexuellen Bedürfnis Rechnung getragen werden könnte. Und das sowohl im Hinblick auf die notwendige Fortpflanzung wie auf die Gefahr sexueller Ausschweifungen. Die Ehe ist in diesem Diskurs die zweitbeste Regelung.
In der kirchlichen Tradition galt die Ehe als verdammenswert, der Kirchenvater Hieronymus (gest. 420) konnte sich dabei direkt auch Paulus beziehen „Die Unverheiratete denkt an das, was Gottes ist, wie sie Gott gefalle; die Verheiratete aber ist auf das Weltliche bedacht und darauf, wie sie ihrem Mann gefalle." (1. Korinther)
Augustinus (354-430) Bischof und Kirchenvater, berichtet in seinen „Confessiones“ von seiner Konkubine, mit der er jahrelang „das Lager teilte“ und die ihm einen Sohn gebar. Sie bleibt namenlos. Die Beziehung wurde beendet, um eine für Augustins Karriere äußerst vorteilhafte Eheschließung zu ermöglichen. Augustinus hing offenbar an der Konkubine:
„Und als man die Gefährtin, mit der ich sonst mein Lager teilte, als Ehehindernis gewaltsam von mir trennte, zerriss es mir das Herz, das an ihr hing, und es blutete mir ob der tiefen Wunde.“ Augustinus über die ihm offenbar vermittelte reiche Braut: „Man müsste sich nur eine Frau mit beträchtlichem Vermögen nehmen, damit der nötige Aufwand nicht weiter lästig fiele, und wäre dann wohl am Ziel seiner Wünsche.“ Die Braut war aber noch ein kleines Mädchen und nicht im heiratsfähigen Alter. Augustinus verkürzte sich die Verlobungszeit mit einer anderen, ebenfalls namenlosen Frau. Er beschreibt recht drastisch die Begierde: „Nein, nun stiegen Dünste auf aus dem Sumpf fleischlicher Begierde, dem Sprudel erwachender Männlichkeit und umnebelten und verdunkelten meine Herz, dass es den Glanz reiner Liebe nicht unterscheiden konnte von der Düsternis der Wollust. (…) Ich hastete, stürmte, trieb schäumend und brausend dahin in meiner unkeuschen Sinnlichkeit“. Augustinus beschreibt später in „De bono coniugali“ sein Verhalten selbstkritisch so: „Wenn nämlich ein Mann sich eine Frau auf Zeit holt, bis er eine andere, seinem Amte und seiner Vermögenslage entsprechende findet, die er als ebenbürtig heiraten möchte, so bricht er der persönlichen Gesinnung nach die Ehe, zwar nicht mit jener, die er zu erwerben begehrt, sondern mit dieser Frau, mit der er nicht nach der Ordnung ehelicher Gemeinschaft Geschlechtsverkehr pflegt …” Augustinus trennte sich von der zweiten Konkubine, mit der Hochzeit scheint es aber nicht geklappt zu haben – er wird Bischof und theoretisiert über die Liebe und die Ehe, dass da „Seele sich zu Seele findet“.
Als Bischof unterschied Augustinus streng zwischen der Frau als (geschlechtslosem, enthaltsamen) Menschen und der Frau als Frau. Die Existenzberechtigung der Frau liegt für ihn in ihrer Rolle als Gebärerin seiner Nachkommen: „Ich finde also keine andere Hilfeleistung, für die dem Mann ein Weib erschaffen wurde, wenn nicht die, ihm Kinder zu gebären.” Dennoch war für Augustinus das Wesen einer Ehe weder primär noch essentiell durch Sexualität bestimmt. „Männlich“ oder „weiblich“ ist nur der Leib, nicht aber die Seele. Die eheliche Gemeinschaft sollte in der Freundschaft begründet sein. In der Ehe enthaltsamen Frauen stellte er die besondere Art der Seligkeit in Aussicht, die Jungfrauen erwartete. Maria pries er als Vorbild für Nonnen und Witwen als auch für keusch lebende Ehefrauen. Als Frau war die Frau ihrem Ehemann unterstellt, nicht jedoch als Christin. Die enthaltsam lebende Frau war dem Manne ebenbürtig: Der treue Mann werde weder seine Frau entlassen noch nach einer anderen verlangen, sei diese andere auch noch so schön, gesund, reich oder fruchtbar. Die „Unauflöslichkeit der Ehe“ war in Augustinus’ Zeit vor allem für die Männer eine Zumutung. Der Kirchenvater hatte gleichzeitig viel Verständnis für ihre Gelüste und beschreibt die gesellschaftliche Realität mit drastischen Worten: „Dirnen in der Stadt gleichen Abwasserrinnen im Palast. Nimmst Du sie heraus, stinkt das ganze Schloss.“ (zu Augustinus vgl. MG-Link
Die Kirchenväter beschäftigten sich in der Folge von Augustinus unablässig mit der Ehe als dem kleineren Übel und bemühten sich, Einfluss zu nehmen. Die Priester suchten sich in das Ehe-Zeremoniell einzumischen – am Ende der Entwicklung steht im 12. Jahrhundert die Ehe als „Sakrament“ – und der Zölibat der Kleriker.
Eheliche Liebe (amor coniugalis) bezeichnet nach katholischer Lehre bis heute „nicht vor allem Gefühl, sie ist dagegen wesentlich eine Verpflichtung gegenüber der anderen Person; eine Verpflichtung, die man durch einen bestimmten Willensakt übernimmt“ (Papst Johannes Paul, 1999). Die Ehegatten sind verpflichtet, einander liebevoll (d.h. fürsorglich und mit Respekt) zu behandeln. Das Versprechen der katholischen Trauformel kommt aus dem Lehensrecht: „Ich will dich lieben, achten und ehren, bis dass der Tod uns scheidet.“
Ganz selbstverständlich musste sich in der höfischen Vorstellungswelt der Ritter die Liebe der edlen Frau „verdienen“ - besonderer Mut und Tapferkeit galten als „Liebesbeweis“. Das bedeutet keineswegs, dass solche Ehen emotionslos sein müssen. Emotionen der Liebe sind kulturell wandelbare Konstruktionen sozialer Beziehungen. Warum sollen Ehen, die arrangiert beginnen, nicht in Liebe enden - insbesondere dann, wenn für die Verheirateten keine andere Wahl besteht als sich zu arrangieren?
Die theologischen Theoretiker des Mittelalters haben viel Mühe aufgewendet, um das sexuelle Bedürfnis wenigstens in ihren Theorien aus dem Ehealltag zu verdrängen. Die hochgeistigen Interpretationen, die geschlechtliche Erotik aus dem Hohen Lied der Liebe hinauszuinterpretieren, geben Zeugnis davon und sie sind ein Hinweis darauf, dass das Liebesleben der einfachen Menschen schwer mit den theoretischen Idealen in Einklang zu bringen war.
Keine ewige Sünde in der islamischen Welt
Die größte der sieben Hauptsünden im Islam ist, andere Götter neben Allah zu verehren. Danach kommen die Zauberei, das Töten (außer mit einem rechten triftigen Grund), der Zinswucher, der Missbrauch des Eigentums der Waisen, die Flucht in der Schlacht und die Verleumdung der unschuldigen, unachtsamen gläubigen Frauen. Unzucht und Homosexualität sind nicht dabei. Lust wird in der islamischen Tradition als eine natürliche Kraft gesehen wurde, die es zu kontrollieren gilt, die aber an sich etwas Bedrohliches ist. Den Christen wird ein Paradies frei von Lust versprochen, den Muslimen eine Erweiterung der sexuellen Möglichkeiten: Alle Männer sollen im Paradies so viele Partnerinnen zur Verfügung haben wie Herrscher auf Erden, es soll keine Impotenz mehr geben. In der vormodernen persischen Aufheiterungsliteratur ist der Mann, der nur stimuliert wird, wenn er mit dem Penis des passiven Partners spielt, eine verbreitete Erzählfigur. Von Obeyd Zākānī, einem persischen Poeten der mongolischen Zeit, wird der Witz erzählt, ein Mann habe von einem Zuhälter einen Knaben verlangt und der habe ihm eine Konkubine gebracht. Er beschwert sich, Zuhälter antwortet: „Lege ihr eine Gurke zwischen die Schenkel und hänge daran zwei Zwiebeln, nimm sie von hinten und stell dir vor, sie wäre ein Knabe.“ In der Sammlung Maqāmāt-e ḥamīdī aus dem 12. Jahrhundert taucht das Motiv des Gesprächs zwischen dem Sodomiten und dem Ehebrecher über die beste sexuelle Befriedigung auf. Der Erzähler berichtet aus seiner Jugend, in der seine Haare schwarz wie die Raben und der Bart noch nicht weiß war, das er beschlossen hat, das wollüstige Selbst von den Fesseln des Verstandes zu befreien, um in den Genuss der Schönheiten dieser Welt zu kommen. Um sich über die Möglichkeiten zu orientieren, befragt er einen Fachkundigen. Offensichtlich hat er eine Vorstellungen von einem natürlichen Weg der Befriedigung des Sexualtriebs, die Wahl des Sexualpartners bzw. der Sexualpartnerin ist eine bewusste Entscheidung. Homosexualität ist für ihn keine Persönlichkeitsstruktur, sondern eine Handlungsoption.
Die Liebe im Volk und die christliche Kirche des Mittelalters
Wie die einfachen Menschen im europäischen Mittelalter die Liebe wirklich erfahren haben, wie zärtlich oder gewalttätig sie sich begegneten, wissen wir also nicht. Wir kennen nur literarische Traditionen - also Texte, die nicht als „Sozialgeschichte“ aufgeschrieben wurden, sondern als philosophisch-pädagogische Herrschaftsdiskurse und Wegweiser.
Im frühen Mittelalter hatte „amor“, „Liebe“, je nach dem Kontext eine unterschiedliche Bedeutung. Die Symbolsprache der Liebe galt keineswegs exklusiv für die sexuelle Liebe. Wenn zwischen Herrschern ein Friedenspakt geschlossen wurde, konnte der durch einen Kuss auf den Mund besiegelt werden und in dem Kontext wurde dann von „Liebe“ gesprochen. Das ist etwas anderes als die Liebe der einfachen Leute, die mit „amor“ immer auch „sexuelles Verlangen“ meinten. An diese Wortgeschichte erinnert heute noch das Sprachmuster „Liebe machen“.
Im frühen Mittelalter war die Heirat ein weltliches Problem, dominiert von der Sorge der Familien, ihr Vermögen zusammenzuhalten und den Nachkommen den Rang (Ehre) mitzugeben. Die dorf-öffentlichen Rituale der Trauung führten zur Hochzeitsnacht, zur Inbesitznahme der Frau. Mit der Hochzeit verbunden waren Verabredungen, die die Frau für den Fall der Verstoßung oder der Witwenschaft absichern sollten.
Erst ab dem 12. Jahrhundert gelang es der Kirche zunehmend, ihre Macht über die Seelen der kleinen Sünder zu konsolidieren und Selbstbefriedigung (mollities), Bestialität (bestialitas), andersgeschlechtlicher Anal- und Oralverkehr (concobitus indebitus) und Geschlechtsverkehr zwischen Männern (vicium sodomiticum) als Verbrechen zu diskreditieren. Die Kirche bemühte sich um den Zugriff auf die weltliche Ehepraxis durch die Dokumentation und Kontrolle der Heirat (und damit der Scheidung) und die Regulierung des Sexuallebens (Verbot an bestimmten Wochentagen und Kirchenfesten). Die regelmäßige Beichte wurde als Geständniszwang eingeführt, um das Sexualleben des Einzelnen der kirchlichen Moral zu unterwerfen.
Die Kirche versuchte gleichzeitig, das Einverständnis beider Ehepartner als Bedingung einer Eheschließung durchzusetzen. Die Konsensehe sollte die Eheschließung der familiären Kontrolle entziehen – die kirchliche Verfügung über die Ehe war verbunden mit dem Versprechen, dass die Partner selbst nach Zuneigung ihre Lebenspartner aussuchen dürften. Das war ein Angebot vor allem an die Frauen, sich gegen erzwungene Verlöbnisse zur Wehr zu setzen. Offenbar war im 12. Jahrhundert die Heirat aus persönlicher Neigung durchaus ein soziales Modell, auf das sich die Kirche in ihrem Machtdiskurs beziehen konnte.
Diese Idee einer Heirat als persönlicher Beziehung kommt im 12. Jahrhundert auch in einer neuen ,Hohelied'-Interpretation zum Ausdruck. Die kirchen-offizielle frühmittelalterliche Bibelexegese Bezog das Wechselspiel von Begegnung und Trennung der Hochzeitslieder Salomons auf das das Verhältnis Christi zur Kirche. Man darf davon ausgehen, dass außerhalb der offiziellen Kirchenliteratur diese alten Lied-Texte immer als Liebeslieder verstanden worden sind. In der radikalen Subjektivierung der religiösen Erfahrung drückt sich eine Subjektivierung der persönlichen Empfindung aus. Die Subjektivierung wird an der neuen erotischen Literatur des 12. Jahrhunderts deutlich, die die Geschlechterliebe zu ihrem zentralen Thema macht. Auch wenn sich diese Literatur auf Ovid und/oder die arabisch-spanischen Ursprünge des provenzalischen Minnesang beziehen kann, ist sie doch radikal neu: Es ist die Geburtsstunde der romantischen Liebesidee. Hier wird Erfüllung des Lebens in einer erotischen Beziehung zwischen Mann und Frau gesucht. Wo es sich bei den Autoren um Kleriker oder jedenfalls klerikal gebildeten Literaten handelt, wird die Erotik in die Form der Christus-Liebe oder der Liebe Gottes zu dem Menschen gekleidet. Peter Dintzelbacher spricht geradezu von einer „Entdeckung der Liebe im Hochmittelalter”. Diese Literatur hat einen Gegenentwurf sich zu der adeligen Ehepraxis wie zum kirchlichen Ehe-Diskurs formuliert. Dass sich diese neue Liebesidee in den volksnahen Schwankdichtungen niedergeschlagen hat, kann man nur vermuten – die Hinweise auf diese Schwankdichtungen in den gebildeten Kreisen ergötzen sich vor allem an der Thematisierung der eher unromantischen, gewaltförmigen Form der Sexualität.
Ein für die Zeit typischer Schwank, der die Naturkraft des Sexuellen illustriert, ist die Geschichte von Aristoteles und Phyllis. Der Schüler Alexander entbrennt in Liebe zu der reizenden Phyllis und vernachlässigt seine Studien. Aristoteles unterbindet die Liebe. Um sich zu rächen präsentiert sich Phyllis vor dem Philosophen im lockeren Gewand. Aristoteles kann ihrer Versuchung nicht widerstehen, doch sie fordert als Bedingung für ein Schäferstündchen, dass er sich auf alle Viere niederlasse und sie ihm einen Zaum in den Mund legen und durch den Garten reiten dürfe. Der Philosoph willigt ein, im Garten warten die lachenden Zuschauer… Die (anonym überlieferte) Geschichte macht zudem deutlich, wie selbstbewusst sich die orale Volksliteratur über die hochtrabenden Diskurse der Gelehrten lustig machen konnte.
Viele der Mären nehmen die Pfaffen aufs Korn – bei dem Thema scheint das Volk seiner (männlich geprägten) Phantasie und gleichzeitig seiner Abneigung gegen die kirchlichen Sexualdiskurse freien Lauf gegönnt zu haben. Pfaffen werden animalisch triebhaft dargestellt, unbedingt erotisch. In vielen Mären sind die Frauen dem Angebot des Zölibats- und Ehebruchs in keiner Weise abgeneigt, zumal wenn dieser von den Geistlichen mit einem Griff in den Klingelbeutel entlohnt wurde. Der Beichtstuhl war in der Phantasie der Mären der natürliche Ort für die sexuellen Abenteuer der Pfaffen. Von Unterdrückung der Frau ist in diesen Volks-Geschichten nicht die Rede, oft sind sie einverstanden oder fallen im entscheidenden Moment „in Ohnmacht“, bleiben also unschuldig. Die Rache geht immer von dem betrogenen Mann aus. Bei „minne“ mit einer Nonne gibt es keinen Rächer, das Vergehen wog weniger schwer.
Walther von der Vogelweide hat dann den Begriff der „herzeliebe“ geprägt, einer Liebe, an der das Herz beteiligt ist, Liebe als personale Bindung. Hier beginnt eine Tradition der Dichtung, die die Unkalkulierbarkeit des Eros nicht nur als Naturtrieb darstellt, sondern als Teil einer Geist und Körper ergreifenden personalen Beziehung. Nicht der Verzicht auf das Sexuelle verspricht den Zugang zur Transzendenz, sondern das sexuelle Einssein. Personale Liebe wird zur Kraft, die den Menschen zur vollkommen Glückseligkeit führen kann.
Im Vorwort zu Gottfried von Straßburgs Tristan (um 1210) wird die Episode der Minnegrotte erzählt. Tristan und Isolde fliehen in eine Grotte, die von Riesen in der Vorzeit in einen Felsen gemeißelt worden ist – als Kuppelrotunde, die Wände schneeweiß, der Boden aus grünem Marmor, oben im Gewölbe eine edelsteinbesetzte Krone. Die Grotte ist ein Werk der Vollkommenheit, und in der Mitte der Grotte steht das kristallene Bett der Liebe. Der sexuelle Akt, das Körperliche, das Geschlechtliche führt zur Vollendung des Menschen.
Viele „Mären“ des Mittelalters, mundartliche und volkstümliche kurze Verserzählungen aus dem 13.-15. Jahrhundert, zeugen von der Sehnsucht nach romantischer Liebe. In der volkssprachlichen Literatur ist es oft ein Zauber, der als Erklärung für die Liebe herhalten muss, „Krankheit“, ein Liebestrank (Tristan) oder ein magisches Liebesfeuer der Venus. Bei Hartmann von der Aues „Iwein“ ist es der Blick, der ihn ihm die Liebe entzündet: Blick auf Laudine, die Witwe des Ritters, den er erschlagen hatte. Als sie sich aus Schmerz ihre Kleider vom Leibe reißt und er ihren nackten Körper sieht, raubt es ihm die Sinne. Als Laudine die Nachricht überbracht wird, dass der Mörder ihres Gatten sie zur Frau begehrt, zögert sie zunächst. Sie stimmt dann zu, weil Iwein ein standsgemäßer Ehemann ist, der ihr Land schützen kann – „geburt“, „jugent“ und „tugent“ stimmen. Nachdem sie zugestimmt hat und das erste Treffen bevorsteht, will sie Iwein dann doch schnell sehen – wird rot und bleich vor Erwartung. In der Iwein-Geschichte stehen der Gatten-Mord und das Arrangement der Liebes-Werbung nicht romantischen Gefühlen der Witwe zum Mörder ihres Mannes entgegen.
Dass romantische Liebe ein wichtiges Motiv für einfache Leute war, die keine Rücksicht auf Besitzstand und Standesfragen nehmen mussten, zeigt die Verfolgung der „ungenoßsamen ehen“: Gesinde durften nicht aus dem leibherrlichen Hofverband ausheiraten. Menschen taten das aber offenbar immer wieder gern. Die Frage, wem die Kinder aus solchen Beziehungen gehören (Arbeitskräfte!), sorgte für Streit unter den Lehnsherren.
Eine andere Frau, deren Texte überliefert sind, ist die adelige Marie de France (1135- 1200) Sie schrieb über die Schwierigkeiten Liebender, zueinander zu kommen und beieinander zu bleiben. In einem ihrer Texte heißt es: „Sie gewährt ihm ohne Aufschub ihre Liebe. Und er küsst sie. Sie liegen beisammen und plaudern und küssen und umarmen einander oft. Das Übrige soll ihnen allein überlassen sein.“ Über ihre Ehe schrieb sie: „Mein Schicksal ist sehr hart. In diesem Turm bin ich gefangen. Nie werde ich da herauskommen. Dieser eifersüchtige Alte. Verflucht seien meine Eltern, die mich ihm zur Frau gaben.“
Hugo von St. Victor hatte im 12. Jahrhundert in seiner Abhandlung „Über die glückliche Jungfrau Maria“ ein anderes Problem entdeckt:
„Wenn aber die Ehe nichts anderes ist als eine Gemeinschaft, in der sich zwei Menschen ganz einander hingeben und sich verpflichten, die unauflösliche Einheit und Treue ihres Bundes zu bewahren und sich ihr nicht zu entziehen, dabei jedoch in beiderseitigem Einvernehmen den fleischlichen verkehr miteinander ausschließen können – wenn also die Ehe nichts anderes ist als eine solche Gemeinschaft: Warum kann dann nicht auch unter Personen des gleichen Geschlechtes höchst richtig und heilig eine Ehe eingegangen und ein unauflöslicher Bund lobenswerter Liebe geschlossen werden?“ Sein Ausweg für die katholische Kirche im Mittelalter, für die Homosexualität ein Verbrechen war: Eheliche Liebe kann nur zwischen Partnern bestehen, die ihrer Natur nach nicht auf gleicher Stufe stehen.
Der geistliche Autor Andreas Capellanus hat in seiner Schrift „De Amore“ in den achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts die erotische Verführungskunst in all ihren Facetten ausgebreitet. Capellanus begreift Liebe (amor) als eine aus dem körperlichen Begehren erwachsende Leidenschaft. Das lateinische Traktat „De amore“ aus dem späten 12. Jahrhundert gehört zu den umstrittensten Texten im Mittelalter. Der Zölibat war 1022 verkündet worden, aber längst nicht voll durchgesetzt. Da feiert Capellanus die begehrende Liebe, deren Basis Schönheit und „gegenseitiges Einverständnis“ sein sollen – eine freie Liebe außerhalb der Ehevorstellung, die die Kirche formen wollte. Die freie Liebe ist sogar frei von Erbsünde:
„Die Liebe ist eine angeborene Leidenschaft, die durch den Anblick der Schönheit des anderen Geschlechts und durch ständiges Nachdenken (cogitatio, Betrachtung) darüber entsteht und weswegen jemand über alles begehrt, in den Umarmungen des anderen aufgesogen zu werden und im gegenseitigen Einverständnis in der Umarmung des anderen die Verheißungen der Liebe erfüllt zu erhalten.“
Für Capellanus gibt es vier Stufen der Liebe (gradus amoris): Die invitatio, Einladung, Grund ist die Schönheit („formositas“) der Frau. Gestattet die Frau das Werben, dann gestattet sie ihm Küsse (exhibitio osculi). Darauf folgt als dritte Stufe die Umarmung (amor purus). Sie geht bis zur Umschlingung der nackten Körper und Berührung der Schamteile. Als vierte stufe folgt amor mixtus, „die alle Lustbarkeiten des Fleisches gewährt“, und bei der die Frau ihren Körper dem Manne „überlässt“. Hier gibt es kein Zurück mehr – und „die über die Liebenden hereinbrechende Ehe treibt die Liebe aus“ (fugat amorem).
Der geistliche Autor des „De Amore“ blickt dabei herab auf den Stand der Bauern, dessen „natürliche Bestimmung“ ihm in „reiner Sinnenlust und körperlicher Arbeit“ zu bestehen scheint. Bauern werden „wie ein Pferd und ein Maultier zu den Werken der Venus getrieben“. Sie stehen außerhalb der adeligen Liebeslehre. Dennoch scheinen Bauersfrauen gegenüber den Vergewaltigungs-Gelüsten des Adels eine gewisse „Scham“ an den Tag zu legen. Capellanus empfiehlt dem Herrn, wenn es denn einmal sein muss, „sie gewaltsam zu nehmen“, zumindest „einen sanften Zwang“ anzuwenden, um ihre „nach außen unbeugsame Haltung“ zu überwinden.
Sehr konkret wird zum Beispiel im Rosenroman von Jean de Meun (um 1250-1305) erklärt, wie Liebende beim Geschlechtsakt sorgsam miteinander umgehen sollten, damit sich für beide Seiten der Lustgewinn einstellt: „Und wenn sie (Mann und Frau) sich ans Werk (Geschlechtsakt) gemacht haben, dann handele ein jeder von ihnen so klug und so genau, dass es nicht fehlen kann, dass der Genuss der einen und der anderen Seite sich gemeinsam einstellt, bevor sie von dem Werk gelassen haben, und sie müssen gegenseitig auf den andern warten, um gemeinsam ihrer Grenze zuzustreben. Der eine darf den anderen nicht verlassen, und sie dürfen nicht aufhören zu schwimmen, bis sie gemeinsam zum Hafen gelangen: Dann werden sie vollständige Lust haben.“ (Guillaume de Lorris und Jean de Meun, 2. Bd., 779) Die heftige Kritik von Christine de Pizian richtete sich gegen Formulierungen im „Rosenroman“ wie der, die Frau sei dazu geschaffen, den Männern zu dienen „wie die Kühe den Stieren“.
Christine de Pizan (1364–1429) hat um 1404 ein umfangreiches Werk „Le Livre de la Cité des Dames“ (Das Buch von der Stadt der Frauen) zur Verteidigung der Rechte der Frauen geschrieben. „Die Natur hat die Frauen mit ebenso vielen körperlichen und geistigen Gaben ausgestattet wie die weisesten und erfahrensten Männer.“ „Diejenigen, die Frauen aus Missgunst verleumdet haben, sind Kleingeister“, heißt es darin, „die zahlreichen ihnen an Klugheit und Vornehmheit überlegenen Frauen begegnet sind.“ Christine de Pizan ist in Venedig geboren und war als vierjähriges Mädchen mit ihrem Vater nach Paris gezogen, als der dort zum Astrologen und Leibarzt von König Karl V. berufen wurde. Ihrem Vater verdankte sie eine umfassende Bildung in Latein, Geometrie und Arithmetik. Von 1404 datiert auch ein Traktat zur richtigen Erziehung der Mädchen, „Le Livre des trois vertus“. (Link)
Die Erotik der Mystikerinnen
In Anlehnung an die Liebesdichtungen des alttestamentlichen „Liedes der Lieder” hat die mittelalterliche Mystik eine Kultur erotischer Beschreibungen der Gotteserfahrung entwickelt. Man darf getrost davon ausgehen, dass ähnliche erotische Phantasien verbreitet waren - nur dass wir schriftliche Überlieferungen haben, verdanken wir der verfremdenden Einbettung der Erotik in mystisches Erleben besonderer Frauen.
So wird Hildegard von Bingens (1098-1179) Dichtung „Favus distillans“ als anschauliche Beschreibung des weiblichen Orgasmus interpretiert:
„Eine triefende Wabe / war die Jungfrau Ursula, / die das Lamm Gottes zu umfangen begehrte, / Honig und Milch unter der Zunge."
Liebesmystik prägte im 13. Jahrhundert das Buch „Das fließende Licht der Gottheit“ von Mechthild von Magdeburg (1207-1287): Sie begehren einander, vereinigen sich und sehnen sich nach einer absoluten Einswerdung, der keine Trennung mehr folgt. So entstehen Erzählmuster einer romantischen Liebe, die unschwer zu übertragen sind. Mechthild von Magdeburg etwa sieht, wie die Seele als „vollerwachsene Braut" vor dem Bräutigam steht – ausdrücklich „nakend". Die Seele will sich „nackt in Gottes Arm legen", „je enger die Umarmung, desto süßer der Geschmack des Mundkusses". Peter Dinzelbacher hat verschiedene Beispiele in seine „Psychohistorie der Unio mystica“ ausgebreitet. Da dichtet Mechthild:
„Er (der Geliebte Jesus) durchküßt sie mit seinem göttlichen Munde Wohl Dir, ja mehr als wohl, ob der überherrlichen Stunde! Er liebt sie mit aller Macht auf dem Lager der Minne Und sie kommt in die höchste Wonne Und in das innigste Weh Wird sie seiner recht inne.“ Oder: „Herr, du bist mein Geliebter, meine Sehnsucht, mein fließender Brunnen, meine Sonne, und ich bin dein Spiegel." Und: „Ja; Herr, liebe mich so, dass es wehtut. Liebe mich oft, und liebe mich lange! (...) Je häufiger du mich liebst, umso schöner werde ich; je länger du mich liebst, um so heiliger werde ich hier auf Erden. - Dass ich dich bis zum Schmerz liebe, das habe ich aus meiner Natur, denn ich selbst bin die Liebe. Dass ich dich oft liebe, das habe ich von meinem Begehren, denn ich begehre, dass man mich bis zum Schmerz liebt."
Die Beginen-Mystikerin Hadewijch beschrieb in der Mitte des 13.Jahrhunderts ihre erotische Sehnsucht in mittelniederländischer Sprache mit den Worten: „Eines Pfingsttages wurde mir im Morgengrauen [eine Vision] gezeigt, und mein Herz und meine Adern und alle meine Glieder zitterten und bebten vor Begierde, und mir war so zu Mute, wie schon oft, so rasend und so schrecklich, daß mir alle die Glieder, die ich hatte, einzeln zu brechen schienen, und alle meine Adern bewegten sich, eine jede voller Schmerz. Ich begehrte, meinen Geliebten vollkommen zu besitzen und zu erkennen und seine Menschennatur im Genuß mit meiner ganz und gar zu schmecken und die meine darin zu lassen..." Die Erscheidung kam „selbst zu mir und nahm mich ganz in seine Arme und zwang mich an sich, und alle Glieder, die ich hatte, fühlten die seinen in all ihren Wonnen nach meines Herzens Begehren, nach meiner Menschennatur. Da ward ich von außen zur Gänze zufriedengestellt... Danach blieb ich in einem Aufgehen in meinem Geliebten, so daß ich ganz in ihm verschmolz und mir von meinem Selbst nichts blieb." Solche mystischen Texte bedienten sich des populären erotischen Wortschaftes.
Von der Karmelitin Teresa de Jesús de Cepeda y Ahumada (1515-1582) ist eine eigenhändig geschriebene Autobiographie erhalten. Sie berichtet dort von einer Engels-Vision: „In dieser Vision ließ mich ihn der Herr so sehen: nicht groß war er, sondern klein, sehr schön, sein Gesicht war so entflammt, daß er einer der ganz hohen Engel schien, die alle entzündet erscheinen. Das müssen die sein, die man Cherubim nennt... In seinen Händen sah ich einen langen Goldpfeil, und an der Eisenspitze schien er mir etwas Feuer zu haben. Diesen schien er mir einige Male ins Herz zu tauchen, und daß er mich bis in die Eingeweide verwundete. Beim Herausziehen, schien mir, nahm er sie mit sich und verließ mich ganz entflammt in große Gottesliebe. So groß war der Schmerz, daß ich mehrmals aufstöhnte, und so überwältigend die Süße, in die mich dieser sehr tiefe Schmerz versetzte, daß man nicht wünschen kann, er möge aufhören. Die Seele ist dann mit nichts anderem als mit Gott zufrieden. Kein körperlicher, sondern ein geistiger Schmerz ist dies, obschon der Körper daran Anteil hat, und zwar ziemlichen..." Die Inquisition hat die Veröffentlichung dieses Textes erst sechs Jahre nach Teresas Tod ermöglicht.
Die Dominikanerin Margareta Ebnerin (um 1291-1351) aus Medingen (Bistum Augsburg) berichtet von ihren mystischen Ekstasen mit dem Gekreuzigten: Wenn „ich mich uf die selben stat lege oder mit der hant anrüere, oder etwas daruf lege oder druk, so enphinde ich ainer so gar süezzen genade, diu mir in elliu miniu lider (Glieder) gat..." Heimlich nimmt sie einen große Plastik des Gekreuzigten mit ins Bett „und von dem lust und von der süezzen genade, die ich da zuo han, mag ich ez nimmer enphinden und druck doch as vast, daz mir totmal [blaue Flecken] werdent an minem herzen und an minem libe."
In dem strukturierten Familienverband des Hofes oder „ganzen Hauses“, dem mehrere Generationen oder auch Verwandte und Gesinde angehörten, gab es für eine romantische Zweier-Beziehung wenig Rückzugsmöglichkeit. Gleichwohl gibt es literarische Zeugnisse wie etwa die Geschichte von Abaelard und Héloise, in der ein „privater Innenraum“ in kompromissloser Weise eingefordert wird für Liebesverhältnisse, die gesellschaftlich völlig unmöglich sind. Solch ein Leben hätte die Ordnung der Familienverbände in Frage gestellt – die Liebe durfte daher nicht gelingen.
Der Onkel der 18-jährigen Heloisa, der Kanoniker Fulbert, hatte den 38-jährigen Abaelard im Jahre 1117 als Hauslehrer seiner Nichte eingestellt. Abaelard beschrieb diese Zeit nach 16 Jahren so:
„In unserer Gier genossen wir jede Abstufung des Liebens, wir bereicherten unser Liebesspiel mit allen Reizen, welche die Erfinderlust ersonnen. Wir hatten diese Freuden bis dahin nicht gekostet und genossen sie nun unersättlich in glühender Hingabe.“ Und weiter: „Ich ging sogar so weit, Dich durch Drohungen und Schläge des öfteren gefügig zu machen, wenn Du nicht mithalten wolltest, wenn Du Dich zur Wehr setztest, soweit es Deine schwache Kraft zuließ, und wenn Du, das schwache Weib, mich batest, einmal zu verzichten..." Heloisa wurde schwanger, beide heirateten heimlich. Abaelard wollte weiterhin wissenschaftlich tätig sein, er versteckte Heloisa und den Sohn Astrolabius im Kloster Argenteuil. Heloisas Onkel erfuhr dennoch von dem Kind und ließ Abaelard entmannen. Er zwang Heloisa, ins Kloster zu gehen. Sie schreibt ihm: „Die Liebesfreuden, die wir zusammen genossen, sie brachten so viel beseligende Süße, ich kann sie nicht verwerfen, ich kann sie kaum aus meinen Gedanken verdrängen. Ich kann gehen, wohin ich will, immer tanzen die lockenden Bilder vor meinen Augen.“ Sie gesteht ihm „wollüstige Phantasiegebilde“ und erinnert an die „Reizungen meiner Sinnlichkeit“. Abaelard kommuniziert dasselbe so: „Ich wälzte mich geradezu wie ein Tier in diesem Morast, sogar in der Karwoche und an den höchsten Festtagen, ohne auf die mahnende Stimme des Schamgefühls und der Gottesfurcht zu hören.“
Im Anschluss an arabische Dichtungen gelangte die Sprache der Sentimentalität und des Begehrens in die Dichtung des hochmittelaIterlichen Minnesangs, in dem allerdings Rollenspiele besungen werde, nicht sentimentale Liebe zwischen Individuen.
Der italienische Dichter und Erzähler Francesco Petrarca (1304-1374) gilt mit Dante Alighieri (1265-1321) und Giovanni Boccaccio (1313-1375) als Begründer der italienischen Literatur des Renaissance-Humanismus. Nach ihm wird seit dem 17. Jahrhundert eine Form der Liebeslyrik, die die Minne-Lyrik ablöste, als „Petrarkismus“ bezeichnet. Petrarcas „Canzoniere“ repräsentieren dabei den männlichen Blick auf das Verhältnis Mann-Frau. Nach einem u.a. durch Augustinus verbreiteten Rollenklischee sieht der Mann die Frau als Hure - oder als Heilige. Augustinus verehrte seine Mutter wie eine Heilige und Erlöserin, während er seine Konkubine als Hure benutzte. Die Liebeslyrik des Petrarkismus folgt dabei oft einem Schema, der Mann erleidet Liebesqualen, sein Herz wird von der Liebesglut verzehrt, die Frau ist kalt und grausam. So heißt es etwa in einer Canzone:
„Werd' ich zu Schnee in eurer Strahlen Brande, Vielleicht, daß meine Schande In euch dann einen edeln Zorn entbindet. Ach! ging in solchen Leiden Vorüber nicht die Gluth, so mich entzündet, Stürb' ich wohl gern; denn lieber will ich scheiden In ihrer Näh', als leben und sie meiden.“
Der sozialgeschichtliche Hintergrund des italienischen Humanismus ist die Etablierung der Händler- und Bankiersfamilien in den norditalienischen Stadtstaaten als selbstbewusstes Bürgertum, das seine Palazzi und Geschlechtertürme neben den Anwesen alter Adelsfamilien errichten konnte. Die Grenzen zwischen den beiden Gruppen waren fließend, alte Adelsfamilien beteiligten sich an der Gründung von Handelsunternehmen und Banken, die „neuen Reichen" erwarben Ländereien und bemühten sich um eindrucksvolle Stammbäume. Waren in der feudalen Ordnung vor allem transpersonale Zusammenhänge konstitutiv für das Selbstbild auch der reichen Stadtbürger, so formulierten die Renaissance-Humanisten im 13. Jahrhundert Trecento individuelle Eigenschaften, Erfahrungen, Wahrnehmungen, Reflexionen und Befindlichkeiten als Elemente einer neuen bürgerlichen Subjektivität. Dantes „Divina Comedia" beschreibt die alten Geflechte mit heftiger Kritik an kirchlichen und feudalen Missständen. In Petrarcas „Canzoniere" wird ein neues Beziehungsmuster entfaltet, das Individualität mit dem Risiko des Scheiterns verbindet. Auch angesichts der Pestwelle von 1347 gibt es einzelne Menschen, die ihr Schicksal selbstbestimmt meistern können. Bei Boccaccio zeigt sich die Zuwendung der Kunst zur Alltagswelt. Sein „Decamerone" stellt eine frühe Erzählung der bürgerlichen Subjektivität dar, die die mittelalterliche Ordo verdrängt – seine Subjekte eignen sich mit ihren Geschichten, Irrtümern und Wahrheiten ihre Welt an.
Offenbar gab es im Stile des Minnesangs auch „weibliche” Dichtungen, ein Beispiel wäre die Adelige Louise Labé (1524-1566) aus Lyon. Einer ihrer schönsten Texte lautet:
„KÜSS mich noch einmal, küß mich wieder, küsse mich ohne Ende. Diesen will ich schmecken, in dem will ich an deiner Glut erschrecken, und vier für einen will ich, Überflüsse will ich dir wiedergeben. Warte, zehn noch glühendere; bist du nun zufrieden? O daß wir also, kaum mehr unterschieden, glückströmend ineinander übergehn. In jedem wird das Leben doppelt sein. Im Freunde und in sich ist einem jeden jetzt Raum bereitet. Laß mich Unsinn reden: Ich halt mich ja so mühsam in mir ein und lebe nur und komme nur zu Freude, wenn ich, aus mir ausbrechend, mich vergeude.“
Solche Gefühle sind über die Jahrhunderte immer wieder schriftlich geäußert worden.
Die gebildete Kurtisane Tullia d‘Aragona (1510-1556) hat in ihrem Buch „Dialogo della infinitá di amore“ (Dialog über die Unendlichkeit der Liebe, Venedig 1547) in „sokratischen“ Dialogen dargelegt, dass Mann und Frau die Vernunft teilen. Liebe – „von dem, was ich oft von anderen gehört habe und von dem, was ich wissen kann - ist nichts anderes als ein Verlangen nach Genuss und Vereinigung, das ein Wesen weiterträgt, das wirklich schön ist oder das für den, der liebt, schön aussieht." Sie unterschied „vulgäre Liebe“, die das Geliebte genießen will und nur wie die Tiere auf Fortpflanzung aus ist, von der „tugendhaften Liebe“, deren Zweck die "gegenseitige Transformation" der Liebenden sei. Diese tugendhafte Liebe brauche die Sinnlichkeit, verbinde die beiden Liebenden aber auch auf der Ebene ihrer intellektuellen Fähigkeiten.
Eine konsequente Praktikerin der Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der Frauen im frühen 17. Jahrhundert war die englische Adlige Maria Ward (1585-1645). Sie war eine englische Ordensschwester in der römisch-katholischen Kirche. Sie gilt als Wegbereiterin einer besseren Bildung für Mädchen.
Der Philosoph François Poullain de La Barre hat zwischen 1673 und 1675 drei Abhandlungen verfasst, in denen er sich auf Grundlage der Philosophie von Descartes für die Gleichheit der Geschlechter einsetzte. In „De l’Egalite des deux Sexes“ (1673) plädierte für eine Verbesserung der Frauenbildung, denn „der Verstand hat kein Geschlecht“. Seine Publikationen fanden aber wenig Beachtung.
Liebe im Handlungsmuster in der Neuzeit
Mit der zunehmenden Macht der Kirche wurden alle sexuellen Aktivitäten außerhalb der Ehe schließlich in die weltlichen Strafkataloge aufgenommen – in die „Peinliche Halsgerichtsordnung des Heiligen Römischen Reichs“ (Constitutio Criminalis Carolina) von 1532 oder der in den „Buggery Act“ von 1533 in England. Die Regulierung des sexuellen Lebens der Gesellschaftsmitglieder wurde zu einem Thema der Politikgestaltung der europäischen Staaten, was zur Entstehung des modernen sexuellen Subjekts auch außerhalb christlicher Gemeinschaften maßgeblich beigetragen hat.
Die Befreiung des sexuellen Lebens von den Zwängen der Religion führte daher nicht zwingend zur Befreiung der Lust, sie blieb eine bedrohliche Kraft, die gezähmt und überwacht werden müsse.
Im 18. Jahrhundert wurde die Idee einer Kontrolle der Lust durch das Prinzip der Selbstkontrolle zu einer kulturellen Voraussetzung bei der Expansion der Städte als Ersatz durch die äußere soziale Kontrolle der feudal-bäuerlichen Gemeinschaften. Die jungen, unverheirateten Männer, befreit von der Überwachung und dem Druck ihres Dorfes, konnte ein weitgehend anonymes Leben führen und mussten lernen, ihre als ganz persönliche Begierde wahrgenommenen Affekte zu kontrollieren.
Zwischen den frühen Formulierungen der romantischen Liebe und der schichtenspezifisch verzögerten Verbreitung der Vorstellung, subjektive Liebe sei das wesentliche Motiv für Heirat und Lebenspartnerschaft, liegen Jahrhunderte kultureller Entwicklung des Menschen – insbesondere seiner Vereinzelung vor dem Hintergrund eines Rückganges familiärer Zwänge und sozialer Kontrolle. Die „romantische Liebe“, über Jahrhunderte eher semantischer Code für amouröse Abenteuer und Phantasien, wird erst in Romanen des 17./18. Jahrhunderts zum legitimen Ehemotiv. Der entfaltete romantische Liebes-Code kündet von der massenhafte Suche nach Einzigartigkeit – wenn auch sonst nichts im Leben einzigartig ist, dann soll das wenigstens in der Liebe gelingen.
Programmatisch fordert das schon Friedrich Schlegel, wenn er seinen Julius gegenüber Lucinde (1799) das Rollenspiel loben lässt mit den Worten, es sei eine Allegorie auf „Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit“. Die „Durchschnittsehe“ beschreibt Julius (polemisch) mit der Bemerkung:
„Da liebt der Mann in der Frau nur die Gattung, die Frau im Mann nur den Grad seiner natürlichen Qualitäten und seiner bürgerlichen Existenz.“ Sicherlich ist auch bei Schlegel noch der Mann der literarische romantische Held und die Frau die Gefährtin der Liebe.
„Genormte Unwahrscheinlichkeit“ nennt Luhmann den Sprachcode der romantische Liebe. Da die Erwartungen so unwahrscheinlich sind, schließt sich die Kommunikation darüber hermetisch ab. Über die Liebe ist eben vernünftig mit Dritten nicht zu reden. Erst der Code der romantischen Liebe, der eigentlich mehr bezeichnet als erklärt, markiert eine „exklusive Gefühlsqualität“, er behauptet eine persönliche Relevanz der geliebten Person, die keineswegs nur „austauschbarer Rollenträger“ sein soll, sie verspricht dem Subjekt einen geschützten sozialen Ort, an dem sich als „echt“ bzw authentisch erlebbar machen kann.
Keine Aufklärung der Geschlechterdifferenz
Die Freisetzung des einzelnen Menschen aus den familiären und ökonomischen Bindungen des „Hauses“ war zunächst vor allem eine der Männer. Was die Liebe begründet, ist eine ungleiche Lebenspartnerschaft – der Mann sollte sich selbst verwirklichen, während die Frau aufopferungsvoll sich um Kinder und Haushalt kümmert. Die großen Philosophen haben sich mit der Rechtfertigung dieser gesellschaftlichen Ungleichheit abgemüht. Die Dichter und Denker dieser Zeit hatten für das weibliche Geschlecht wenig schmeichelhafte Zuweisungen. Auffallend ist, wie wenig „modern“ die meisten namhaften Philosophen über die Gleichberechtigung der Frau gedacht haben. Das literarische Modell der romantische Liebe entwickelte sich in solchen Kontroversen, wie sie Fichte, Kant, Schlegel etc. ausgetragen haben.
Bei Baruch Spinoza (1632-1677) etwa heißt es: „Wären die Frauen von Natur den Männern gleichwertig (...), so müsste es doch unter so vielen und so verschiedenen Völkern einige geben, wo beide Geschlechter nebeneinander, und andere wo Frauen Männer regierten. Da dies aber nirgends der Fall, so darf man entschieden behaupten, dass Frauen nicht das gleiche Recht haben wie Männer."
Autoren mit weniger philosophischen Ambitionen - wie etwa der Adolf Freiherr von Knigge (1752-1796) in seinem Ratgeber „Über den Umgang mit Menschen“ (1788) - postulierten in derselben Zeitepoche das gleiche Recht auf „Befriedigung aller Bedürfnisse“ in der Ehe.
„Nicht weniger unglücklich ist dies Band, wenn auch nur von einer Seite Unzufriedenheit und Abneigung die Ehe verbittern, wenn nicht freie Wahl, sondern politische, ökonomische Rücksichten, Zwang, Verzweiflung, Not, Dankbarkeit, dépit amoureux, ein Ungefähr, eine Grille oder nur körperliches Bedürfnis, wobei das Herz nicht war, dieselbe geknüpft hat, wenn der eine Teil immer nur empfangen, nie geben will, unaufhörlich fordert, Befriedigung aller Bedürfnisse, Hilfe, Rat, Aufmerksamkeit, Unterhaltung, Vergnügen, Trost im Leiden – und dagegen nichts leistet.“
Die romantische Idee der „Liebe” kommt in diesen nüchternen und sehr präzise formulierten Lebensweisheiten vor allem dann vor, wenn Knigge vor „blinder Liebe” warnt.
Der Aufklärungs-Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) war überzeugt: „Die Eheleute müssen sich selbst wählen. Gegenseitige Zuneigung muss das erste Band sein.“ Aber in der Vereinigung der Geschlechter ist der Mann aktiv und stark. „Nicht allein das Interesse der Ehegatten, sondern auch das allgemeine Anliegen aller Menschen erfordert es, dass die Reinheit des Ehestandes nicht verdorben wird.“
Rousseau hat Mann und Frau als physisch und psychisch völlig verschiedene, allerdings auf Ergänzung angelegte Wesen definiert. Die Ungleichheit ist durch „die natürlichen Gesetze der Vernunft" gerechtfertigt. Die Natur hat die Frau entsprechend ausgerüstet: Sie ist passiv, unterwürfig und emotional, während der Mann das aktive, schöpferische Prinzip vertritt. In seinen posthum 1782 veröffentlichten „Bekenntnissen“ heißt es:
„Aus diesem zur Gewohnheit gewordenen Zwang entsteht eine Folgsamkeit, welche die Frauen ihr ganzes Leben hindurch nötig haben, weil sie niemals aufhören, entweder einem Manne oder den Urteilen der Menschen unterworfen zu sein, und es ihnen niemals erlaubt ist, sich über diese Urteile hinwegzusetzen.“
Rousseau hat Mann und Frau als physisch und psychisch völlig verschiedene, allerdings auf Ergänzung angelegte Wesen definiert. Die Ungleichheit ist durch „die natürlichen Gesetze der Vernunft" gerechtfertigt. Die Natur hat die Frau entsprechend ausgerüstet: Sie ist passiv, unterwürfig und emotional, während der Mann das aktive, schöpferische Prinzip vertritt. In seinen posthum 1782 veröffentlichten „Bekenntnissen“ heißt es:
„Aus diesem zur Gewohnheit gewordenen Zwang entsteht eine Folgsamkeit, welche die Frauen ihr ganzes Leben hindurch nötig haben, weil sie niemals aufhören, entweder einem Manne oder den Urteilen der Menschen unterworfen zu sein, und es ihnen niemals erlaubt ist, sich über diese Urteile hinwegzusetzen.“
Zu Zeiten von Rousseau gab es auch ganz andere Aufklärer – etwa Julien Offray de la Mettrie (1709-1751). Der Mensch, so argumentierte de la Mettrie, ist eine biologische Maschine, die darauf aus ist, Genuss zu suchen und Schmerz zu meiden: „Der Übergang von den Tieren zum Menschen ist kein gewaltsamer ... Was war der Mensch vor der Erfindung der Wörter und der Kenntnis der Sprachen? Ein Tier seiner Art, das ... sich nicht mehr vom Affen und den anderen Tieren unterschied als der Affe selbst von diesen.“ Seine Philosophie hatte Folgen für die Einstellung zum Leben: „Ich folgere daraus, dass das Glück wie auch die Lust jedermann zugänglich ist, den Guten ebenso wie den Bösen; und dass die Tugendhaftesten nicht zugleich auch die Glücklichsten sind, bzw. dass sie nur in dem Maße glücklich sind, in dem sie ihr Leben und Handeln als lustvoll empfinden.“ Da waren sogar die liberalen Holländer entsetzt, la Mettrie musste wiederum das Land verlassen. Seine Schrift „Die Kunst, Wollust zu empfinden“ erschien anonym in seinem Todesjahr 1751.
Eliza Haywood (1693 – 1756) war eine erfolgreiche Autorin im Zeitalter der männlich dominierten Aufklärung. Ihr gelang es, eine Zeitschrift für weibliches Publikum herauszubringen - The Female Spectator (1744–1755). Beliebt war sie auch wegen der offen erotischen Formulierungen in ihren Romane, etwa: „Sie war nur mit einem dünnen seidenen Nachthemd bekleidet. Das sich öffnete, als er sic in seinen Armen auffing. Er spürte, wie sich ihre bebende Brust hob, um sich an die seine zu pressen. Und jeder Pulsschlag verriet den Wunsch, sich zu ergeben. Die Sinne schwanden ihr, die schneeweißen Arme umschlangen ihr unbewusst seinen Nacken, kurz gesagt, es lag nur ein Wimpernschlag zwischen ihr - und dem Ruin.“
In der Anthropologie von Immanuel Kant (1724-1804) dagegen gilt die Forderung nach vernünftiger Selbstbestimmung des Menschen nicht für die Frau:
„Kinder sind natürlicherweise unmündig und ihre Eltern ihre natürlichen Vormünder. Das Weib in jedem Alter wird für bürgerlich-unmündig erklärt. Der Ehemann ist ihr natürlicher Curator."
Wer eine andere Person nur aus „Geschlechterneigung“ liebe, so heißt es bei Kant in seiner „Vorlesung zur Moralphilosophie“, der mache sie zum „Objekt ihres Appetits“ – und das sei eine „Erniedrigung des Menschen“. Kant fand es daher notwendig, das sexuelle Begehren durch das Institut der Ehe einzuhegen, auf das allein das Recht gründe, von der „Geschlechterneigung Gebrauch zu machen“.
Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) glaubt, dass „das Weib .. unterworfen (ist) durch ihren eigenen fortdauernden notwendigen und ihre Moralität bedingenden Wunsch, unterworfen zu sein." Und: „Im unverdorbenen Weibe äußert sich kein Geschlechtstrieb, sondern nur Liebe. Seine Befriedigung ist nicht die sinnliche Befriedigung des Weibes, sondern die des Mannes. Für das Weib ist es nur Befriedigung des Herzens.“ Der Romantiker und Idealist Fichte begründete in seinem Grundriß des Familienrechts (1797):
Der Romantiker und Idealist Johann Gottlieb Fichte begründete in seinem Grundriß des Familienrechts (1797):
„Im unverdorbenen Weibe äußert sich kein Geschlechtstrieb, und wohnt kein Geschlechtstrieb, sondern nur Liebe, und diese Liebe ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen.“ Die Frau müsse sich „unterwerfen um ihrer eigenen Ehre willen“, meinte er: „Im Begriff der Ehe liegt die unbegrenzteste Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes.“ Dabei ist sie „unterworfen durch ihren eigenen fortdauernden notwendigen und ihre Moralität bedingten Wunsch, unterworfen zu sein." Darin liegt ihre Bestimmung: „Nur auf ihren Mann und ihre Kinder kann eine vernünftige Frau stolz sein; nicht auf sich selbst, denn sie vergisst sich in jenen."
Fichte folgerte daraus auch den Ausschluss der Frau von Bildungsinstitutionen.
Nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) können Frauen
„Einfälle, Geschmack, Zierlichkeit haben, aber das Ideale haben sie nicht. Der Unterschied zwischen Mann und Frau ist der des Tieres und der Pflanze.“ Woraus folgt: „Stehen Frauen an der Spitze der Regierung, so ist der Staat in Gefahr, denn sie handeln nicht nach den Anforderungen der Allgemeinheit, sondern nach zufälliger Neigung und Meinung." (Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821)
Bei Arthur Schopenhauer (1788-1860) bricht dann der Hass auf die Frau offen aus: „Zu Pflegerinnen und Erzieherinnen unserer ersten Kindheit eignen die Weiber sich gerade dadurch, dass sie selbst kindisch, läppisch und kurzsichtig, mit einem Worte, Zeit Lebens große Kinder sind; eine Art Mittelstufe zwischen dem Kind und dem Manne, welcher der eigentliche Mensch ist."
Der Philosoph Otto Weininger (1880-1903) wusste: „Das Weib geht im Geschlechtsleben, in der Sphäre der Begattung und Fortpflanzung vollständig auf (...) Ich meine keineswegs, dass die Frau den Geschlechtsteil des Mannes schön oder auch nur hübsch findet. Sie empfindet ihn vielmehr wie der Vogel die Schlange, er übt auf sie eine hypnotisierende, bannende, faszinierende Wirkung. (...) Der Phallus ist das, was die Frau absolut und endgültig unfrei macht. (...) Das Weib ist nichts als Sexualität, der Mann ist sexuell und noch etwas darüber."
Unter den Philosophen gabt es immer wieder rühmliche Ausnahmen. Der englische Denker John Stuart Mill (1806-1873) hat sich entschieden für die Rechte der Frau eingesetzt. In seinem Text über die „Hörigkeit der Frau" heißt es: „Jede Frau wird von frühester Jugend an erzogen in dem Glauben, das Ideal eines weiblichen Charakters sei ein solcher, welcher sich im geraden Gegensatz zu dem des Mannes befinde; kein eigener Wille, keine Herrschaft über sich durch Selbstbestimmung, sondern Unterwerfung, Fügsamkeit in die Bestimmung Anderer. Jede Sittenlehre predigt ihnen, die Pflicht der Frau sei, für Andere zu leben, sich selbst vollständig aufzugeben und keine andere Existenz als in und durch die Liebe zu haben." Das, was anerzogen sei, werde aber als Wesen ausgegeben, „um den weiblichen Geist niederzuhalten."
Wie patriarchalisch-konservativ solche „philosophischen“ Rechtfertigungen waren, wird deutlich, wenn man sie damit konfrontiert, was Frauen wie die Weber-Tochter Mary Wollstonecraft (1759-1797) in derselben Zeit formuliert haben. Ihre Streitschrift „Vindication of the Rights of Woman“ (1792) ist der Versuch, die Frauen als gleichberechtigte Menschen in die politische Diskussion der Zeit einklinken. Von ihr stammen Sätze wie: „Die Tyrannei der Männer ist Ursache fast aller Geisteskrankheiten der Frauen“ oder: „Ich wünsche für die Frauen keine Macht über Männer, aber die Macht über sich selbst.“
Der Anspruch der Frau, den historischen Individualisierungsprozess nachzuholen und als empfindendes, denkendes Individuum anerkannt und behandelt zu werden, spiegelt sich auch in den konservativen Kritikern. So schrieb Emil Durkheim 1893: „Schraubt man die sexuelle Arbeitsteilung unter einen bestimmten Punkt herab, so verflüchtigt sich die Ehe und lässt nur mehr äußerst kurzlebige sexuelle Beziehungen zurück.“
Es war also wenig originell, wenn Friedrich Nietzsche Ende des Jahrhunderts zusammenfasste: „Das Glück des Weibes heißt: Er will!“ Gern zitiert wird in gebildeten bürgerlichen Kreisen auch das Bonmot: „Wenn du zum Weibe gehst, vergiss die Peitsche nicht!“ Vielfach wird der Satz männlich fehlinterpretiert - jedenfalls wenn er sich auf Nietzsches Erfahrung mit Lou Andreas-Salomé bezieht. Es gibt ein Foto, dass Nietzsche mit Paul Rée zeigt - da hält Salomé die Peitsche. Vergiß nicht, dass die Frauen die Peitsche haben, würde auch Nietsches Lebenserfahrung mit Frauen eher entsprechen.
Wer hat bitteschön hier die Peitsche? Lou Andreas-Salomé, Paul Rée, Friedrich Nietzsche
Oswald Spengler polemisierte in seinem Buch „Vom Untergang des Abendlandes“ noch 1918 verzweifelt gegen die sich durchsetzende Gleichstellung der Frau: „Statt der Kinder haben sie seelische Konflikte, die Ehe ist eine kunstgewerbliche Aufgabe und es kommt darauf an, sich gegenseitig zu verstehen.“ In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg liefen die öffentlichen Diskussion der Sexualtheorie (Wilhelm Reich) und der Prozess der Frauenemanzipation noch weitgehend nebeneinander her. In den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts verbanden sich beide Prozesse zu einem wichtigen Motor gesellschaftlichen Wandels.
Der Soziologe Nobert Bolz hat 2006 Spenglers konservatives Motiv in Reaktion auf diese zweite Welle der Frauen-Emanzipation im 20. Jahrhundert noch einmal aufgenommen: „Vor allem die Frauen rebellieren gegen das Schicksal der Biologie“, schreibt er, Frauen seien die „Helden der Familie”.
vgl. dazu auch meine Blog-Texte Was ist Liebe? MG-Link Was ist Glück? MG-Link Selbst im Netz MG-Link Sprache der Gefühle MG-Link
Literaturtipps: Manuel Braun, Ehe, Liebe, Freundschaft: Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman (2001) Georges Duby , Die Frau ohne Stimme. Liebe und Ehe im Mittelalter (1989) Peter Dinzelbacher, Die Psychohistorie der Unio mystica, in: Jahrbuch für Psychohistorische Forschung, 2 (2001), S. 45–76 Mattes Verlag, Heidelberg Peter Dinzelbacher, Über die Entdeckung der Liebe im Hochmittelalter, in: Saeculum 32, 1981, S.185–209 online zusammenfassend dazu: Carla Meyer und Christian Schneider, Liebes-Wahrnehmungen und Liebes-Konzeptionen in der deutschen Literatur des Mittelalters (Ausstellungskatalog, 2019) online Anne Fleig, Entstehung und Konzeption der Gefühle in Aufklärung und Empfindsamkeit, in: Hermann Kappelhoff u.a. (Hg.) Emotionen. Ein interdisziplinäres Handbuch (2019) Doris Guth und Elisabeth Priedl (Hg), Bilder der Liebe. Liebe, Begehren und Geschlechterverhältnisse in der Kunst der Frühen Neuzeit (2012) Hubert Herkommer, Der Tristanroman im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der frühen Neuzeit aus: Walter Haug Die höfische Liebe im Horizont der erotischen Diskurse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (2000) Adalbert Podlech, Sex, Erotik, Liebe. Der Umgang der Männer mit Frauen durch die Jahrtausende, ermittelt aus Sprachen und Texten: Sex, Erotik, Liebe, Bd. 1-3 (2007) Adalbert Podlech, Abaelard und Heloisa oder Die Theologie der Liebe (1990) Rüdiger Schnell, Die höfische Liebe als Gegenstand von Psychohistoire, Sozial- und Mentalitätsgeschichte - Eine Standortbestimmung (1991)
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