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Stichworte zu Adorno und zu „Kulturindustrie“
2022/2024
Der Begriff Kulturindustrie bezeichnet die industrialisierte Produktion von Kultur, also von „Kulturgütern". Er steht im Zentrum der „kritischen Theorie“ von Theodor W. Adorno. Mit diesem Begriff ersetzten Adorno und Max Horkheimer bei der Veröffentlichung der „Dialektik der Aufklärung" (1947) den Begriff der „Massenkultur“. Den verwendete Adorno noch im Manuskript „Philosophische Fragmente“, das 1944 in kleiner Auflage verbreitet wurde. Kulturindustrie ist für Adorno/Horkheimer die „willentliche Integration ihrer Abnehmer von oben".
Kulturindustrie verhindert die Ausbildung der Fähigkeit zu kritischem Denken. Kulturindustrie wirkt also Herrschaft stabilisierend, das ist Wesen der Kulturindustrie. Adorno dazu in „Minima Moralia”: „Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, dass jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzensschreie nicht mehr."
Das Bürger-Ich
In seiner Aphorismen-Sammlung ‚Minima Moralia‘ hat Theodor Adorno den provokanten Satz formuliert: „Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ In der ‚Dialektik der Aufklärung‘ hat er zu dem „Ich“ erklärt, es sei „in Wahrheit das Produkt sowohl wie die Bedingung der materiellen Existenz. (…) Es erweitert sich und schrumpft mit den Aussichten wirtschaftlicher Selbständigkeit und produktiven Eigentums durch die Reihe der Generationen hindurch. Schließlich geht es von den enteigneten Bürgern auf die totalitären Trustherrn über.“ Der Bürger Adorno kann grundsätzlich nur wirtschaftlich selbstständigen Bürgern die Möglichkeit eine Individualität zusprechen, die aber mit dem – Stefan Zweig nachempfundenen – Niedergang des Bürgertums unwahrscheinlich wird.
In vordemokratischen Gesellschaften haben daher nur die Bürger ein Wahlrecht, konservative Kritiker des allgemeinen Wahlrechts haben das Schlimmste befürchtet von der politischen Emanzipation der „Massen”. Adorno und Horkheimer erklären in der „Dialektik der Aufklärung“ den Absturz in die Barbarei in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mit sozialgeschichtlichen Analysen, sondern mit essayistischen Bezügen auf die Philosophiegeschichte. Durch Verweise auf die Reisen und Mühen des Odysseus, auf Marquis de Sade und Friedrich Nietzsche suchen sie Bestätigung für ihren Eindruck, dass jeder Versuch des Menschen, Kontrolle über die Natur zu erlangen, in der Barbarei enden müsse. Nach der Homerischen Überlieferung wollte Odysseus des zauberhaften Gesang der ‚Sirenen‘ aus Neugier hören, ohne von ihnen zur tödlichen Fahrt auf ihre Insel gelockt zu werden. Auf den Rat einer Zauberin ließ er sich an den Mast des Schiffes binden. So konnte er den Gesang der Sirenen vernehmen, war aber gehindert, ihrem Lockruf zu folgen. Für Adorno ist die Geschichte eine Metapher für die „Dialektik“ der Aufklärung. Die Kehrseite des neugierigen Wissens ist die Bindung.
Der essayistische Stil ist in sich hermetisch, die Assoziationen lassen sich weder begründen noch widerlegen. Dass der Kapitalismus an allem schuld sei, wird einfach so gesagt, eine intensivere Auseinandersetzung mit Karl Mark ist bei Adorno nicht zu erkennen. Auf demselben Niveau der Analogien könnte man sagen, dass die vormoderne kirchliche Machtentfaltung im Grunde ein Vorläufer der „Kulturindustrie“ war. Der essayistische Stil ist typisch für die philosophische Kultursoziologie der Zeit, der Satz von Oswald Spengler könnte genauso gut von Adorno stammen: „Einst durfte man nicht wagen, frei zu denken; jetzt darf man es, aber man kann es nicht mehr.“ Als sich Adorno 1968 der politischen Praxis verweigerte und in hochabstrakte ästhetische Theoriegebäude flüchtete, erfanden die Studierenden dafür das Wort „adornieren“.
Denkmodell aus der Musik - Adornos „Wiener Schule”
„Die ‚Frankfurter Schule‘, soweit sie durch Theodor W. Adorno geprägt wurde, ist zur guten Hälfte eine ‚Wiener Schule‘“, so beginnt Heinz Steinerts Analyse „Adorno in Wien“. Theodor Adorno hat sich in den ersten zwanzig Jahren fast ausschließlich mit Musik befasst. Die Konflikte der Weimarer Republik die in den Nationalsozialismus mündeten, haben ihn offenbar nicht beschäftigt. Arbeiten zur Musik machen den größeren Teil seines Gesamtwerkes aus. Aus dieser Beschäftigung hat er die Denkmodelle gewonnen, ohne die seine „Dialektik der Aufklärung“ nicht verständlich wären. Der junge Adorno kannte „Arbeit" nur als intellektuelle Anstrengung, nicht als verkaufte Arbeitskraft. An der Tätigkeit des Komponisten hat er seinen Begriff von „Arbeit" gewonnen – Auseinandersetzung mit der Sache, mit dem Stoff – ohne Rücksicht auf die Verkäuflichkeit des Produktes. Adorno lebte vom Vermögen seiner Eltern, als klassischer Bildungsbürger war er finanziell sorglos und pflegte sein Gefühl von Bedeutung und Überlegenheit.
Adorno kam erst 1925 nach Wien, um bei dem Schönberg-Schüler Alban Berg zu studieren. Er hatte ein geschöntes Bild vom Wien der Jahrhundertwende. Ihn interessierte nicht das „Rote Wien“, sondern der elitäre Individualismus, wie er ihn bei Arnold Schönberg verwirklicht sah. Schönbergs „Emanzipation der Dissonanz" war für Adorno das Ergebnis einer geglückten Revolution. Die Revolution hatte sich real ereignet – und zwar in der radikalen Hingabe an die „Sache", einer als „zweckfrei" ausgegrenzten Kunst, die sich von dem Verstricktsein in die Warenförmigkeit befreien konnte. Schönberg hatte den Anspruch aufgegeben, das unverständige Publikum an seine Neue Musik heranführen, der Schönberg-Kreis organisierte Konzerte ohne „breites" Publikum. Befreiung ist offenbar Sache einer kleinen Elite, die ihr Produkt und sich selbst von dem Anspruch, eine Masse zu bedienen, befreit. (1)
Das Proletariat hat mit dieser Revolution nichts zu tun, sie ist im Bürgertum und durch das Bürgertum erfolgt. „Vom Proletariat hat Adorno nie groß was erwartet. Es konnte ihn daher gar nicht enttäuschen. Wenn die ‚Dialektik der Aufklärung’ auf einer Enttäuschung beruht, dann ist es nicht die durch das Proletariat, sondern durch Arnold Schönberg.“ (Steinert) Auch die rassistische und antisemitische Kehrseite des Glanzes der „Wiener Moderne“ der Jahrhundertwende hat Adorno nicht beschäftigt.
Die Wiener Intellektuellen der Jahrhundertwende empörten sich über den Ausverkauf des Bürgertums, nicht über das schlechte Leben der Ausgebeuteten. Sie kultivierten die Haltung des in „öffentlicher Einsamkeit" lebenden Anti-Bürgers. „Das ist genau die Haltung, die auch Adorno gepflegt hat.“ (Steinert) bei Adorno kommt manchmal ein Hang zum Aristokratischen hinzu. Der „private" Adorno war in seiner persönlichen Lebensführung ein ungebrochener Bürger. Steinert wirft die Frage auf, wie sich das in seiner Theorie niedergeschlagen hat.
In Wien hatten verschiedene kulturelle Außenseiter-Gruppen ihre eigenen Foren geschaffen, von der Zeitschrift die „Fackel" über die „Secession" bis zu Freud und seinem Kreis oder den Philosophen des „Wiener Kreises“. Es waren Söhne und Töchter eines wirtschaftlich erfolgreichen Bürgertums, die oft mit Hilfe ihrer Familien unabhängig leben konnten. Es ging ihnen um ihre künstlerische und intellektuelle Produktion, der sie sich mit dem Ethos des Dienstes an der Sache widmeten. Der Kult des „Salons" und des „Kaffeehauses" war manchmal aber auch die prosaische Rückseite von ungeheizten Junggesellen-Buden.
Das, was sich mit Schönberg auf dem Gebiet der Kompositionstechnik abgespielt hatte, wurde für Adorno zum Modell dafür, was in der Gesellschaft vor sich geht. Adorno hat sich nie mit der politischen und gesellschaftlichen „Revolution“ beschäftigt, es gibt keine Verweise auf die Revolutionen von 1917 oder von 1918/19. Massenbewegungen waren ihm zuwider, Adel und Großbürgertum sind für Adorno die sozialen Schichten, die über Bildung verfügen und von denen sich Anstand und Kultur erwarten lassen kann. Der Niedergang des Bildungsbürgertums in den Konflikten um die Jahrhundertwende beschreibt Adorno als gattungsgeschichtliches Verhängnis – die Vernunft wendet sich gegen sich selbst. So wie die Kompositions-Revolution von Schönberg gescheitert ist, scheitert auch die aufgeklärte Vernunft. Geschichte ist der das Ringen der Intellektuellen um „Wahrheit".
Adornos Pessimismus beruht nicht auf einer Analyse der zeitgenössischen Wirklichkeit, sondern auf dem musikhistorischen Denkmodell, das er an die Wirklichkeit herantrug. In seinem Denkmodell spielen folgerichtig Analogien eine große Rolle. Warum die instrumentelle Naturbeherrschung, die natürlich auch am Menschen stattfindet, zum Triumpf von Verblendungen und Deformationen führt, gewinnt Adorno nicht aus einer Beschäftigung mit der Anthropologie oder der Geschichte der Technik, sondern aus der Gegenüberstellung der in Arbeit verstrickten Menschen mit den freischwebenden künstlerischen Individuen. Vermutlich hat er immerhin geahnt, dass die gesellschaftliche Arbeit (und Ausbeutung der Arbeitskraft, zum Beispiel durch seine väterliche Firma) auch die materielle Voraussetzung für das Schweben der Intellektuellen ist.
Diese Intellektuellen stehen den der Herrschaft Verfallenen gegenüber, die auf instrumentelle Vernunft und Warenwelt fixiert sind. Wirkliche (künstlerische) „Arbeit" darf für Adorno – Vorbild Schönberg - nicht auf die Verkäuflichkeit ihres Produkts spekulieren. Mit der realen Gesellschaft hat sich Adorno nie befasst, „der Mensch” ist für ihn der freischwebende Intellektuelle, der sich nicht dafür interessiert, unter welchen Bedingungen andere für ihn die Arbeit tun. Dass sich die arbeitende Bevölkerung Kultur und kulturelles Vergnügen (etwa im Film) nur leisten kann, wenn diese industriell produziert und preiswert sind, irritiert Adorno nicht.
Seine aphoristische Technikkritik entnimmt Adorno schlicht dem Zeitgeist. Wo Nietzsche formulierte: „Der Fortschritt ist bloß eine moderne Idee, das heißt eine falsche Idee", heißt es in der „Dialektik der Aufklärung”: „Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression." Das Wort „Dialektik“ ist dabei eine Worthülse für Sprachspiele und vordergründig paradoxe Metaphern. Für Adorno und Horkheimer sind Schrecken und Zivilisation untrennbar. Warum? „Im Zeichen des Henkers stehen Arbeit und Genuss. Dem widersprechen heißt aller Wissenschaft, aller Logik ins Gesicht schlagen. Man kann nicht den Schrecken abschaffen und Zivilisation übrigbehalten. Schon jenen zu lockern bedeutet den Beginn der Auflösung. Verschiedene Konsequenzen können daraus gezogen werden: von der Anbetung faschistischer Barbarei bis zur Zuflucht zu den Höllenkreisen. Es gibt noch eine weitere: der Logik spotten, wenn sie gegen die Menschheit ist.”
Auch die moderne Frau verkörpert kein Zurück zur Natur mehr: „Die Frau schreitet jetzt wie ein Mann, Zigarette im Mund, die Mundwinkel nach unten, die Stirn gefaltet: wie der Herr dieser die Natur zertretenden Zivilisation.“ (Horkheimer)
Lorenz Jäger notiert mit spitzer Feder: Da „… verwandelte sich der Warentausch in einen Universalschlüssel, mit dem vom Partyverhalten in Hollywood bis zur Militärstrategie im Zweiten Weltkrieg alles assoziiert werden konnte. Man kann die Geschichte der kritischen Theorie so beschreiben: Immer weniger Annahmen des Marxismus waren plausibel, aber dem schrumpfenden Bestand wurde Erklärungskraft für immer mehr gesellschaftliche Phänomene zugemutet. Die Geschichte der kritischen Theorie war auch die Geschichte ihrer eigenen Aushöhlung.“
Jäger sieht in der schmalen theoretischen Basis seiner Analyse, in der der Faschismus aus dem (Monopol-)Kapitalismus abgeleitet wird, auch den Grund für das Unverständnis, mit dem Adorno und Horkheimer in Amerika der Massenkultur begegneten. Nazipropaganda und der Stiefeltritt der SS, Hollywoodfilme und Jazz – alles zeigte für sie nur die gleiche Logik der Entmenschlichung. Adorno und Horkheimer hatten keinen Sinn für die Tradition der amerikanischen Demokratie, deren Freiheitsverständnis sie ihre Chance auf Exil verdankten. Den Jazz, in der deutschen Nachkriegsgeschichte als „Negermusik” diskreditiert, konnte Adorno „nicht ausstehen”, wie Steinert bemerkt. Für das „Amerika“, das immerhin den Nationalsozialismus militärisch besiegen konnte, hat sich Adorno nie interessiert. Seine Abneigung gegen Amerika illustrierte er mit einer Episode: Im Gespräch mit einem Verleger habe dieser zuerst einmal gefragt: „Which public are you aiming at?“ Adorno habe sein Manuskript zusammengepackt und sei gegangen - ein Adorno stellt keine Marktüberlegungen an.“ (Steinert) Das war natürlich verlogen. Für seine Vortrags-Auftritte in Wien hat sich Adorno sehr dafür interessiert, wie er ein großes Publikum erreichen - also wie er sich gut „verkaufen” - kann.
Die Kritische Theorie und der Stalinismus
Da saßen zwei Exilanten im sicheren Kalifornien und dachten über das Unheil namens Kapitalismus nach, schreibt Karl Schlögel bitter (in: Moskau 1937). Ihre Einstellung zu den stalinistischen Verbrechen im Namen der Arbeiterklasse entsprach dem, was so mancher linke Intellektuelle auf der Flucht vor dem Nazi-Regime gedacht hat: Solange Hitler lebt, darf es keine Kritik an Stalin geben! Adorno sprach sich ausdrücklich dafür aus, über Stalins monströse Unterdrückung der Linken Opposition Stillschweigen zu bewahren. Auf dem Höhepunkt der Moskauer Prozesse schrieb er, die einzig loyale Haltung bestehe im Moment darin, sich ruhig zu verhalten. In einem Brief an Horkheimer forderte er die Gruppe auf, „Disziplin zu halten und nichts zu publizieren, was Russland zum Schaden ausschlagen kann". Aber auch in dem 10 Jahre nach Feuchtwangers ebenfalls im Querido Verlag in Amsterdam erschienenen Stalinismus-Apologie „Moskau 1937'' (Link) - Feuchtwanger war übrigens Nachbar im kalifornische Exil – findet sich in der Dialektik der Aufklärung zu Stalin – kein Wort. Auch in den 1950er und 1960er Jahren gibt es von den Gründungsvätern der Kritischen Theorie nichts Erhellendes über den Stalinismus.
Dialektik der Aufklärung - Frustration und Verzweiflung
In den Manuskripten der „Dialektik der Aufklärung“, geschrieben 1944, hätten sie die Antwort auf die Frage gesucht, „warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt", schreiben Adorno und Horkheimer in der Vorrede des 1947 erschienen Buches.
Adorno und Horkheimer können in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts nur Absturz in die Barbarei erkennen, im nationalsozialistischen Deutschland und übrigens auch in „Amerika“, das ihnen über Jahre ein freies Exil geboten hat. Die „Dialektik der Aufklärung“ ist aber keine historische Analyse der deutschen oder US-amerikanischen Gesellschaft, sondern ein literarisches Werk, in dem mit Metaphern die politische Frustration und Verzweiflung zum Ausdruck gebracht wird. Adorno hatte in seinem Frühwerk die Möglichkeit des Fortschritts in Texten zu Beethoven, Mahler, der Zweiten Wiener Schule erörtert. Die Enttäuschung illustriert er in der „Dialektik der Aufklärung“ mit dem Hinweis auf die Reisen und Mühen des Odysseus. Adorno und Horkheimer halten Zwiegespräch mit dem französischen Schriftsteller Marquis de Sade und dem deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche, um zu begründen, dass jeder Versuch des Menschen, Kontrolle über die Natur zu erlangen, in der Barbarei enden müsse. Dialektik reduziert sich da auf paradoxe Bonmots wie etwas Nietzsches Satz: „Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression." Ihre Verzweiflung über die Machtlosigkeit des vernünftigen Denkens, von Wissenschaft und Technologie wird in der „Dialektik der Aufklärung“ etikettiert mit Max Webers Begriff der „instrumentelle Vernunft“ – das Zitat wird geradezu zu einem Ersatz für eine Beschäftigung mit der Geschichte der Naturwissenschaft und Technik. Ohne auch nur einen kurzen Ausflug in die Kulturgeschichte des homo sapiens kommen sie zu dem Schluss, dass jeder Versuch, die Natur zu beherrschen, zu Unterdrückung führen müsse: „Schrecken und Zivilisation (sind) untrennbar ... Man kann nicht den Schrecken abschaffen und Zivilisation übrigbehalten." Punkt. Begründung – Fehlanzeige.
Adorno, der Leninist
Irritierend ist in dem Zusammenhang Adornos Weigerung, sich genauer zu der russischen Revolution und insbesondere dann den Moskauer Prozessen zu äußern, die ja eigentlich als Tiefpunkt eines verratenen Fortschrittsglaubens verstanden werden müssten.
Adorno hat in der Sowjetunion nicht nur den Gegner Hitlers gesehen. Er war von Lenins Rolle fasziniert. In einem Brief an Max Horkheimer hat er 1936 geschrieben, Erich Fromm mache „es sich mit dem Begriff der Autorität zu leicht, ohne den ja schließlich weder Lenins Avantgarde noch die Diktatur zu denken ist. Ich würde ihm dringend raten, Lenin zu lesen.“ Und noch 1956 spielte er in einem Gespräch mit Horkheimer mit dem Gedanken eines neuen, „streng leninistischen Manifests“. In einem 1935 verfassten Fragment zeigte sich Adorno fasziniert von dem Metapher eines historischen „Hebelpunktes“: In der „Kerenski-Revolution“ habe Lenin „mit minimaler Kraft die unermessliche Last des Staates“ gehoben. „Denn mit der zaristischen Staatsgewalt es aufzunehmen, war das Proletariat zu schwach“. Lenin war davon überzeugt, dass die Arbeiterklasse aus sich heraus nur ein trade-unionistisches Bewusstsein hervorbringen könne. Nur durch die Klugheit einer revolutionären Avantgarde, die „Hebelpunkte“ zu nutzen weiß, könne es zur Revolution kommen. Auch Adorno war von einer grundsätzlichen Beschränktheit des proletarischen Klassenbewusstseins überzeugt und hat die „Fetischisierung“ des Proletariats kritisiert. Adorno hatte – anders als Herbert Marcuse oder Leo Löwenthal – nie etwas mit der wirklichen Räterepublik oder einer Arbeiterpartei zu tun gehabt.
Die Frage, woher die Avantgardepartei dann ihr privilegiertes Wissen bezieht kann, beantwortete sich für Adorno streng leninistisch: durch die die intellektuelle Theorie-Arbeit. An die Stelle der Lektüre der Klassiker trat bei Adorno allerdings nur die philosophische Durchdringung der Widersprüche im geistigen Überbau. Adorno war fasziniert von der Figur Lenins – als Modell für die Rolle des Intellektuellen. Das Institut für Sozialforschung selbst war ursprünglich als Think Tank der KPD geplant gewesen. Als in der NS-Volksgemeinschaft das klassenbewusste Proletariat verschwand, blieb für die revolutionären Intellektuellen nur Frustration und Verzweiflung.
Aus Adornos „Prolog zum Fernsehen“ (1953):
Adorno spricht in seinem „Prolog zum Fernsehen" von der „fatalen 'Nähe' des Fernsehens", wo sich die Menschen, die sich vor dem Fernsehgerät versammeln, allmählich voneinander entfremden, ohne sich darüber tatsächlich im Klaren zu sein:
„Jene fatale ,Nähe‘ des Fernsehens, Ursache aus der angeblich gemeinschaftsbildenden Wirkung der Apparate, um die Familienangehörige und Freunde, die sich sonst nichts zu sagen wüssten, stumpfsinnig sich versammeln, befriedigt nicht nur eine Begierde, vor der nichts Geistiges bestehen darf, wenn es nicht in Besitz verwandelt, sondern vernebelt obendrein die reale Entfremdung zwischen Menschen und zwischen Menschen und Dingen.“ „Dem Ziel, die gesamte sinnliche Welt in einem alle Organe erreichenden Abbild noch einmal zu haben, dem traumlosen Traum, nähert man sich durchs Fernsehen und vermag zugleich ins Duplikat der Welt unauffällig einzuschmuggeln, was immer man der realen für zuträglich hält. Die Lücke, welche der Privatexistenz vor der Kulturindustrie noch geblieben war, solange diese die Dimension des Sichtbaren nicht allgegenwärtig beherrschte, wird verstopft. Wie man außerhalb der Arbeitszeit kaum mehr einen Schritt tun kann, ohne über eine Kundgebung der Kulturindustrie zu stolpern, so sind deren Medien derart ineinander gepasst, dass keine Besinnung mehr zwischen ihnen Atem schöpfen und dessen innewerden kann, dass ihre Welt nicht die Welt ist.“ Zwar sieht im Grunde jeder für sich Fern, doch muss man diese Tätigkeit als eine gesellschaftliche Erfahrung sehen. Die in der Verarbeitung der Wirklichkeit Fernsehen entstehende Realität beherrscht die gesellschaftliche Kommunikation und durchdringt zunehmend die face-to-face-Kommunikation. Diese neue, „aufregendere" und „spektakuläre" Medienerfahrung prägt Wahrnehmungsmuster.
Gegen Adorno wendete Enzensberger ein:
Der „Aberglaube, als könne der Einzelne im eigenen Bewusstsein, wenn schon nirgends sonst, Herr im Hause bleiben, ist heruntergekommene Philosophie von Descartes bis Husserl, bürgerliche Philosophie zumal, Idealismus in Hausschuhen, reduziert aufs Augenmaß des Privaten“.
Konsumismus statt Kommunismus - Adornos fundamentaler Irrtum
Die Theorie der Kulturindustrie wurde von marxistischen Intellektuellen rezipiert als Erklärung dafür, dass die kapitalistische Gesellschaft, die nach der Theorie in sich widersprüchlich sein sollte, sich als stabil erwiesen hat. Die Kulturindustrie sei der soziale Kitt, wie ihn Erich Fromm nannte, und schien zu erklären, warum die aus kulturmarxistischer Sicht ausgebeutete, unterdrückte Masse nicht rebelliert. Das Individuum wird von der Kulturindustrie auf die Konsumentenrolle reduziert. Die Kulturindustrie will „Masse“ erreichen und speist die Konsumenten mit trivialen, oberflächlichen Nichtigkeiten. In der Tat war es für die marxistische Tradition eine Herausforderung, zu begreifen, warum die proletarischen Massen nach dem Zusammenbruch der Kaiserreiche (in Berlin und in Wien) nicht die Chance einer Revolution per Wahlzettel ergriffen. Die Mehrheit der Unterdrückten hätte das kapitalistische System und seine politischen Repräsentanten einfach abwählen können! Aber nicht das Versprechen einer klassenlosen Gesellschaft verband sich mit dem demokratischen Wahlrecht - sondern das Versprechen auf mehr Konsum. Die wahlberechtigten Staatsbürger schätzen die demokratische Republik nicht wegen der Möglichkeiten des aufgeklärten herrschaftsfreien Diskurses, sondern als politischen Hebel, einen höheren Anteil am Konsum zu erkämpfen und den Reichtum umzuverteilen - ohne das Produktionssystem, in dem den Reichtum selbst produzieren, infrage zu stellen. Die Weimarer Republik ist an dem mehrfach enttäuschten Konsum-Versprechen gescheitert, die Massen wandten sich autoritären Führergestalten zu, Hitler und Stalin. Der Nationalsozialismus hat seine Massenbasis in den 1930er Jahren mit dem zunehmenden Konsum stärken können. Die Bundesrepublik hat sich an dem erfolgreichen Konsumversprechen stabilisiert. Der reale Sozialismus der DDR ist an der Konkurrenz zum Konsum-Paradies BRD gescheitert. Und vielleicht lassen sich sogar die für das europäische Rechts-Links-Schemadenken verwirrenden lateinamerikanischen politischen Bewegungen besser verstehen, wenn man akzeptiert, dass der Wunsch, dem (nord-)amerikanischen Traum näher zu kommen, die Triebfeder der Massenmobilisierung ist - sei es durch den Wunsch einer revolutionären Umverteilung, sei es durch Unterwerfung unter einheimische Verbündete des nordamerikanischen Machtgefüges. Und auch die populistischen Strömungen in Europa nutzen die herrschaftsfreien elektronischen Kommunikationsmedien, um Sozialneid gegen Migranten zu schüren.
So lässt sich der Geist der Zeit in einer schlichten Parole zusammenfassen: Konsumismus statt Kommunismus (und National-Sozialismus „in einem Land“). Nur das, was Adorno als tendenziell faschistoid ablehnte, die Kulturindustrie und ihr Konsum-Versprechen, erweist sich als stabile Grundlage für Demokratie gegen totalitäre Versuchungen.
Adorno/Horkheimer nach 1945: Der Nationalsozialismus besiegt? Undenkbar. Über die Leerstelle der kritischen Theorie
Der Frankfurter Soziologe Helmut König hat sich im Epilog seines Buches „Elemente des Antisemitismus. Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (2016) mit dem Wirken von Adorno und Horkheimer nach 1945 beschäftigt.
Das Zerwürfnis mit der Studentenbewegung 1968, an dem Adorno offenbar sehr litt, wirft die Frage auf, wie sich Adorno und Horkheimer auf die Bundesrepublik eingelassen haben. Der Nationalsozialismus war militärisch besiegt, ausgerechnet von „Amerika“ und der Sowjetunion, was nun? Gab es vielleicht doch Hoffnung auf ein „richtiges Leben“? Den Versuchen, an die Traditionen der deutschen Geistesgeschichte anzuknüpfen, hat Adorno seine radikale Kritik der Aufklärung entgegengehalten. Er betonte: „Der Antisemitismus ist nicht erst von Hitler von außen her in die deutsche Kultur injiziert worden, sondern diese Kultur war bis dorthinein, wo sie am allerkultiviertesten sich vorkam, eben doch mit antisemitischen Vorurteilen durchsetzt.“ (König) Aber wo sollte die Selbstverständigung der Bundesrepublik ihre Bezugspunkte finden? Den Bezug auf „Amerika“ hätte Adorno abgelehnt, dass das Wirtschaftswunder mit seinen Konsummöglichkeiten die sozialgeschichtliche Grundlage einer Demokratie auf deutschem Boden gelegt hat, hätte er als Beispiel für die Verblendungskraft der Kulturindustrie interpretieren müssen. Das bedeutet, dass die Vertreter der Frankfurter Schule durch ihre Analyse der „Dialektik der Aufklärung“ politisch handlungsunfähig waren. Sie stehen in der Tradition von Hegel und Marx, die an spekulativer Geschichtsphilosophie interessiert waren und nicht an politischem Handeln.
Horkheimer war in den 1950er Jahren weitaus stärker im öffentlichen Raum der Bundesrepublik präsent als Adorno. Er warnt davor, in Deutschland zu viel vom Antisemitismus zu sprechen. Seine Sorge ist, dass die Rede von der Bewältigung der Vergangenheit eher Ressentiments befördern könnte. Horkheimers Zukunftserwartung ist von Angst und Bitterkeit geprägt. Die Vorstellung einer Rückkehr totalitärer Tendenzen ist für bedrohlich, die demokratischen Systeme sieht er überall bedroht. Zwei Tage nach einer großen Kundgebung der Anti-Atombewegung auf dem Frankfurter Römer notiert Horkheimer, fest: „Als ob es um die Gefährlichkeit der Atome ginge! Wenn sie die Erde verwüsten, hat niemand mehr Kopfweh.“ (Horkheimer am 22. Mai 1958, „Nachgelassene Notizen“ S. 83)
Seine düsteren Prognosen finden sich in privaten und internen Äußerungen, nicht in Veröffentlichungen. Horkheimer wollte offensichtlich weder seine Skepsis noch die barbarische Vergangenheit der Deutschen öffentlich zum Thema machen. Wer allzu viel über den Antisemitismus rede, tue „ihm wahrscheinlich auch den Gefallen, ihn aufs neue zu erwecken“, meinte Horkheimer. Seine Haltung entspricht dem von Hermann Lübbe angesprochenen „Beschweigen des Nationalsozialismus“. In einem Brief-Entwurf an Eugen Gerstenmaier meinte er 1963: „Ich halte nicht viel davon, die sogenannte jüngste Vergangenheit auf Kosten der anderen dunklen Perioden der blutigen Geschichte allzusehr herauszustellen.“ Noch 1967 schrieb er in einem Text „Bewältigung der Vergangenheit“ für eine Schülerzeitung: „Zur Erkenntnis dessen, was im Dritten Reich geschah, bedarf es nicht der kollektiven Schuldbekenntnisse, sondern ehrlicher gesellschaftlich-historischer Aufklärung nicht nur über das Hitlerreich, sondern über Geschichte schlechthin.“ Als der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich Anfang 1953 um die Aufnahme ins Institut bat, formuliert Horkheimer gegenüber Adorno die Sorge, Mitscherlichs Zugehörigkeit zum Institut könnte „die offenen Attacken auslösen wird, denen wir bis jetzt entgangen sind. Die Rachsucht der Völkischen ist wahrhaft alttestamentarisch, bis ins dritte und vierte Glied.“ Mitscherlich war beteiligt gewesen an der Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses und damit in die Schusslinie der konservativen deutschen Ärzteschaft geraten. Horkheimer plädierte 1958 für die Entfernung des Adorno-Assistenten Jürgen Habermas aus dem Institut mit der Begründung, dessen Bekenntnis zur Tradition des Marxismus würde die Existenz des Instituts bedrohen: „Solche Bekenntnisse im Forschungsbericht eines Instituts, das aus öffentlichen Mitteln dieser … Gesellschaft lebt, sind unmöglich.“ Kritisch merkt Helmut König dazu an, dass weder Horkheimer noch Adorno ihre biografisch begründete Sorge um die gesellschaftliche Zukunft nicht näher vertieft oder durch Untersuchungen zu untermauern versucht haben. (König, Antisemitismus S. 357)
Adorno sucht in den banalsten Gewöhnlichkeiten des Alltags nach Zeichen des Schreckens. Fremdwörter werden zu „Juden der Sprache“ und das „Schema aller Administration und ‚Personalpolitik‘ … tendiert bereits von sich aus … zum Faschismus“. In den Bewegungen, die die Maschinen von Arbeitern verlangen, „liegt schon das Gewaltsame, Zuschlagende, stoßweis Unaufhörliche der faschistischen Mißhandlungen“ (Adorno 1951). Adressiert an die Pädagogen in der Schule behauptet er: „Kinder, die besonders zur Bildung solcher Cliquen tendieren, und unter ihnen wieder die Cliquenführer“, würden besonders „auch zum Antisemitismus neigen“.
Bei aller Wertschätzung der Gedankengänge von Adorno und Horkheimer kommt König zu dem vernichtenden Schluss: „Das Problem besteht im Kern darin, dass Adorno mit einem institutionslosen Gesellschaftsbegriff arbeitet und damit die Gesellschaft als vorpolitische Größe begreift.“ König sieht bei Adorno eine geradezu „archimedische Opferposition“, mit der „exterritoriale Unangreifbarkeit“ und eine „Aura von Heiligkeit“ verbunden sei: „So vergeblich jeglicher Widerstand gegen den Nazi-Terror auf der Seite der Juden gewesen ist, so vergeblich ist (für Adorno) offenbar der Versuch, nach dem Ende des Terrors in der Bundesrepublik am Lauf der Welt wirklich etwas zu ändern.“ Auf Horkheimers spätes Interview über die „Suche nach dem ganz anderen“ (1970) geht König dann nur noch in einer fast spöttischen Nebenbemerkung ein: „Zwischen verzweifelter Ohnmacht und dem hoffnungsvollen Wunder- und Märchenglauben an das ganz Andere scheint es bei Horkheimer und Adorno etwas Drittes nicht zu geben. Darin besteht unter den hier behandelten Gesichtspunkten der große Mangel ihrer Theorie.“ Und: „Die rebellische Studentengeneration, die sich so entschlossen gegen die Zustände in ihrem Land stemmt, trifft gerade an diesem Punkt, an dem sie so dringend begriffliche und gedankliche Unterstützung hätte gebrauchen können, auf eine einzige große Leerstelle.“
Doch richtiges Leben im falschen?
Aber Adorno wäre nicht Adorno, wenn er nicht ein paar Aphorismen zur Verfügung hätte, die im vollständigen Gegensatz zu seiner Theorie das richtige Leben im falschen ermöglichen: „Man sollte, soweit das nur irgendwie möglich ist, so leben, (…) wie man in einer befreiten Welt glaubt leben zu sollen“, und „mit all den unvermeidbaren Widersprüchen und Konflikten, die das nach sich zieht, versuchen, die existenzform vorwegzunehmen, die eigentlich die richtige wäre.“
Am Ende seiner Vorlesung über „Probleme der Moralphilosophie“ erklärte Adorno 1957 – jedenfalls nach einer Stenogramm-Nachschrift: „Man sollte, soweit es nur irgend möglich ist, so leben, wie man in einer befreiten Welt glaubt leben zu sollen, gleichsam durch die Form der eigenen Existenz, mit all den unvermeidbaren Widersprüchen und Konflikten, die das nach sich zieht, versuchen die Existenzform vorwegzunehmen, die die eigentlich richtige wäre. Dieses Bestreben ist notwendig zum Scheitern und zum Widerspruch verurteilt, aber es bleibt nichts anderes übrig, als diesen Widerspruch bis zum bitteren Ende durchzumachen. Die wichtigste Form, die das heute hat, ist der Widerstand, dass man nicht mitmacht“, und dann soll er sehr versöhnlich hinzugefügt haben: „und wenn das nicht möglich ist und wir auf unsere eigene Schwachheit und die Übermacht der Verhältnisse Rücksicht nehmen müssen, sollten wir wenigstens versuchen, dort, wo wir mitmachen müssen, nicht ganz mitzumachen und es ein bisschen anders tun als die, die es von ganzem Herzen tun“.
Das klingt nach der großen Verweigerung von Marcuse und wenn man Adornos ungebrochen bildungsbürgerliches Privatleben befragt, dann könnte man zu dem Schluss kommen, dass seine eigene persönliche Schwachheit sehr groß war. Diesen theoretischen Ansatz hat Adorno, wenn denn die stenografische Mitschrift korrekt ist, nie weiterverfolgt. Zehn Jahre später in seinem öffentlichen Vortrag über „Erziehung nach Auschwitz“ (1966) formuliert er kategorisch: „Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, dass Auschwitz nicht sich wiederhole.“ Und „Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern.“ Also Kapitalismus und im Grunde Zivilisation, denn: „Wenn im Zivilisationsprinzip selbst die Barbarei angelegt ist, dann hat es etwas Desperates, dagegen aufzubegehren. (…) Je dichter das Netz, desto mehr will man heraus, während gerade seine Dichte verwehrt, daß man herauskann. Das verstärkt die Wut gegen die Zivilisation. Gewalttätig und irrational wird gegen sie aufbegehrt.“
Massenkultur – Kulturindustrie
Die Begriffe „Massenkultur” und „Kulturindustrie” sind werden oft als Synonyme behandelt. Der Begriff der „Massenkultur” ist wesentlich älter ist und die mit ihr verbundenen Phänomene wurden am Ende des 19.Jahrhunderts von Gabriel Tarde (1890), Scipio Sighele (1891) und Gustave Le Bon (1895) beschrieben. Besondere soziologische und philosophische Bedeutung erlangte die „Massenkultur"-Diskussion jedoch erst in den 1920er Jahren mit Siegfried Kracauer und Walter Benjamin, die sich auf der Basis der Essays des Soziologen Georg Simmel mit den Frühformen der kommerziellen Massenkultur wie Film, Werbung, Mode etc. beschäftigten. Das Aufkommen des „Massenkultur"-Begriffs war somit eng gekoppelt an die Erscheinungsformen der anbrechenden kulturellen Moderne.
Angeregt von Walter Benjamin begann sich auch Theodor W. Adorno Ende der 1920er Jahre mit der Massenkultur zu beschäftigen. In der 1947 erschienenen „Dialektik der Aufklärung” ersetzte er gemeinsam mit Horkheimer den Begriff der „Massenkultur“ durch den der „Kulturindustrie", „um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache genehm ist: dass es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst. Von einer solchen unterscheidet Kulturindustrie sich aufs äußerste.”
Zum Begriff der Kulturindustrie
Theodor W. Adorno gilt als Autor des Kulturindustrie-Kapitels in der „Dialektik der Aufklärung”. Seine Thesen sind beeinflusst von der Konfrontation mit der Massenkultur in den USA der dreißiger/vierziger Jahre, die Theorie soll aber allgemeiner gelten und aufzeigen, dass das System der industriellen Massenkultur, welches er als „Kulturindustrie” bezeichnet, ein totalitäres ist, welches die Menschen unterwirft. Die Konsumenten der kulturindustriellen Waren werden ihrer Vorstellungskraft und Phantasie beraubt und so entmündigt.
Adorno geht von einem in sich geschlossenen System der kulturindustriellen Medien, also Film, Radio und Magazinen aus. Der Verbraucher selbst wird zum statistischen Material, die Rationalität der Technik entpuppt sich als Rationalität der Herrschaft. „Sie ist der Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft.”
Der Mensch wird seiner Individualität beraubt, er wird zum austauschbaren Objekt. „Die Industrie ist an den Menschen bloß als an ihren Kunden und Angestellten interessiert und hat in der Tat die Menschheit als ganze wie jedes ihrer Elemente auf diese erschöpfende Formel gebracht.”
Die Kulturindustrie manipuliert ihre Rezipienten, indem sie ihnen beständig vorgaukelt, ihre Interessen, ihre Eigenschaften, ihre Träume stünden im Mittelpunkt des Geschehens. „Der Kunde ist nicht, wie die Kulturindustrie glauben machen möchte, König, nicht ihr Subjekt, sondern ihr Objekt.” Die Kulturindustrie „benutzt und fördert zugleich die Ich-Schwäche der ihrem Trommelfeuer Ausgelieferten“, sie „mobilisiert so einerseits die autoritäre Charakterdisposition für die sadomasochistische Unterstützung des Bestehenden und kanalisiert andererseits die systemtranszendenten Triebwünsche in anti-intellektuelle, antimodernistische und andere tendenziell reaktionäre Phantasmagorien.”
Durch die Doppelung der Realität und die Sucht nach den Waren der Kulturindustrie entsteht bei den Konsumenten ein falsches Bewusstsein und somit Adornos berühmtes „falsches Leben”, in dem es kein richtiges mehr gibt. Das Individuum werde zum Untertan eines totalitären Systems, welches vor allem über die Medien eine viel subtilere und effektivere Gewalt ausübt als durch Waffen, zumal die Konsumenten mit der Manipulation sogar einverstanden sind. Die Welt will betrogen werden, das heißt, sie weiß „unbewusst” um ihren Betrug. Adorno verweist auf „die alte Erfahrung des Kinobesuchers, der die Straße draußen als Fortsetzung des gerade verlassenen Lichtspiels wahrnimmt“. Es gelinge „die Täuschung, dass die Welt draußen die bruchlose Verlängerung derer sei, die man im Lichtspiel kennenlernt. Seit der schlagartigen Einführung des Tonfilms ist die mechanische Vervielfältigung ganz und gar diesem Vorhaben dienstbar geworden.” Das entscheidende Mittel zur Umsetzung dieser Absicht ist die sich stets weiter fortentwickelnde Technik, der es im Laufe des 20. Jahrhunderts immer besser gelingt, die Wirklichkeit zu kopieren und so eine zweite Wirklichkeit, nämlich die der kulturindustriellen Waren zu erzeugen. Gelebt werde an der Oberfläche, Gefühle zu zeigen gelte als Schwäche.
Etwa um die gleiche Zeit wie die „Dialektik der Aufklärung” entstanden Theodor W.Adornos „Minima Moralia - Reflexionen aus dem beschädigten Leben.” Einige der 153 Aphorismen haben auch die Kulturindustrie-These oder deren Teilbereiche zum Inhalt.
Beide Schriften sind stark geprägt vom Eindruck der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland, Adorno versteht sie jedoch als allgemein gültige Zustandsbeschreibung aller kapitalistischen Industriegesellschaften der westlichen Welt. „Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten, und ein gerader Weg führt vom Evangelium der Lebensfreude zur Errichtung von Menschenschlachthäusern so weit hinten in Polen, dass jeder der eigenen Volksgenossen sich einreden kann, er höre die Schmerzensschreie nicht mehr." Der zivilisierte Mensch wird von den Bequemlichkeiten körperlich und geistig derart in Anspruch genommen und durch sie so eng in das technische Kollektiv eingebunden, dass er für „wahre Kultur” weder Zeit noch Kraft hat und den inneren Zwang, außer zivilisiert auch noch kultiviert zu sein, nicht mehr verspürt.
Der einfache Mann wird zum direkten Handlanger des totalitären Staates. „Der Widersinn wird durch sich selbst perpetuiert: Herrschaft erbt sich fort durch die Beherrschten hindurch.”
Wahre Kunst und Kulturindustrie
Die Kunst hatte für Adorno ihren Wert vor allem in sich gehabt - war Gebrauchswert in der Hinsicht, dass das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit erfüllte. Sie wird mit der Kulturindustrie zu einem Produkt des Marktes. Kunst hat ihren autonomen Charakter verloren, wird als Mittel zum Zweck (Gewinn) produziert. Jedes Kulturprodukt, darunter die Massenmedien im Besonderen, ist laut Adorno der Kulturindustrie ausgeliefert - und umgekehrt. Die gesamte Praxis der Kulturindustrie überträgt das Profitmotiv blank auf das geistige Gebilde. Geistige Gebilde werden „durch und durch“ zu Waren.
Reklame
Für Adorno entlarvt sich die Oberflächlichkeit der Kulturindustrie in ihrer Abhängigkeit von der Reklame. Diese soll den Konzernen ursprünglich dazu dienen, über ihre Waren zu informieren, selbige anzupreisen und bei den Konsumenten neue Bedürfnisse zu wecken. Die eigentliche Qualität des Produkts tritt in den Hintergrund, der Verkaufserfolg hängt nur noch an der Qualität der Reklame. Sie „wird zur Kunst schlechthin, … , l’art pour l’art, Reklame für sich selber, reine Darstellung der gesellschaftlichen Macht.” Reklame verspricht ihren Rezipienten Genuss, enthält diesen letztendlich jedoch vor. Die Werbung verdoppelt die Realität, stellt sich als ideale Wirklichkeit dar, der die Masse hinterher hetzt, und bleibt doch Hülle ohne echten Inhalt.
Kulturindustrie und Kapitalismus
Adorno sieht die Kultur nicht erst durch Hitler vernichtet, sondern schreibt ihr schon vor dessen Machtübernahme einen unechten Charakter, eine Rolle zu, in der sie nicht ernst genommen werden kann. „Was Hitler an Kunst und Gedanken ausgerottet hat, führte längst zuvor die abgespaltene und apokryphe Existenz, deren letzte Schlupfwinkel der Faschismus ausfegte.” Zu stark schon war die Kultur von kapitalistischen Zügen und Formen der Massenbewegung durchsetzt, als dass sie noch als autonome bestehen könnte. So erwartet Adorno auch nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft keinen wirklichen Neuaufbau der Kultur, eher eine Rückkehr zum vorfaschistischen Zustand. „Wer gegen den Kulturfaschismus anwill, muss schon mit Weimar, den „Bomben auf Monte Carlo” und dem Presseball anfangen ...” „Der Manipulationszusammenhang kann also nicht vom Rezipienten selbst durchbrochen werden, er ist `perfekt’.”
Escape- und message-Filme
Im Aphorismus 130, „Grau und grau", untersucht Adorno zwei Spielarten der Kulturindustrie, die sich besonders deutlich am Beispiel ihres Hauptmediums, des Films, darstellen lassen. Filme werden von vornherein ideologisiert, und dies zu akzeptieren ist „selber schon verbreitete Ideologie.” Sie werden in zwei Schubladen unterteilt, nämlich in „escape” und „conveying a message”. Erstere Kategorie wird gebildet von den reinen Unterhaltungsfilmen, die ohne größeren Anspruch sind und dem Zuschauer keine geistigen Leistungen abverlangen. Sie dienen der Entspannung, dem Abschalten, ja der kurzzeitigen Flucht vor dem Grau des Alltags. In die zweite Kategorie gehören alle Filme, die ihrem Publikum eine wie auch immer geartete Botschaft, eine message übermitteln wollen. Adorno wendet sich gegen diese undifferenzierte Schwarz-Weiß-Malerei, da beide Kategorien seiner Ansicht nach etwas von der anderen enthalten. „Die prompte Subsumtion unter escape und message drückt die Unwahrheit beider Typen aus.” Die escape-Filme sind in ihrer Flucht vor der Realität nicht konsequent genug, da sie selbst in ihrer Fiktionalität immer wieder Helden vorführen, die nach genau den Hierarchien und Verhaltensschemata der Wirklichkeit handeln. So ist ein Superman nur ein Abziehbild, eine Projektion aller Moralvorstellungen der US-amerikanischen Gesellschaft. Er dient nur dazu, den Rezipienten der Kulturindustrie selbst in ihren „Träumen” immer wieder die von ihr stets aufs neue propagierten „Werte” in Erinnerung zu bringen. „Nichts praktischer als escape, nichts dem Betrieb inniger anverlobt: es wird in die Ferne entführt nur, um aus der Distanz die Gesetze empiristischer Lebensführung ungestört von empirischen Ausweichungen ins Bewusstsein zu hämmern. Das escape ist voller message.”
Umgekehrt sind die message-Filme voller escape. Sie geben vor, Parameter für ein gutes, vielleicht sogar besseres Leben zu geben, möglicherweise sogar Lösungsvorschläge für eine bessere Welt. Indem sie dies tun, gaukeln sie ihren Zuschauern vor, es könnte so etwas wie einen universellen Gesamtwillen, ein kollektives Subjekt geben. Obwohl diese Vorstellung einer niemals erreichbaren Utopie gleichkommt, beruhigt sie die Konsumenten der Kulturindustrie und schweißt sie noch enger mit ihr zusammen. Die Welt, so wie sie jetzt gerade existiert, wird noch mehr akzeptiert, da sie, im Falle eines Falles, die Möglichkeit zur Bildung eines gesamtgesellschaftlichen Subjekts eröffnet, welches einen Ausweg finden wird.
Der praktische Geist des message, die handfeste Demonstration dessen, wie es besser zu machen sei, paktiert mit dem System in der Fiktion, dass ein gesamtgesellschaftliches Subjekt, das es als solches in der Gegenwart gar nicht gibt, alles in Ordnung bringen kann, wenn man nur jeweils sich zusammensetzt und über die Wurzel des Übels ins Reine kommt. … Message wird zum escape.” Daher auch der Titel des Aphorismus „Grau und grau”. Beide Filmkategorien verschwimmen ineinander in einem grauen „Einerlei”; escape kann letztendlich dem „Grau” des Alltags nicht entkommen und message keine Botschaften vermitteln, die dazu dienen könnten, selbigen zu überwinden. Die Erkenntnis, dass die message verheißenden Filme im Grunde keine Botschaften enthalten, die die bestehende Ordnung in Frage stellen, wird an der Tatsache deutlich, dass solche mit „zuviel” message zumindest in totalitären Systemen, aber längst nicht nur dort von der Zensur verboten wurden.
Volkskunst
Ein weiterer Kritikpunkt Adornos am „drastischsten Medium der Kulturindustrie", dem Film, kommt im Aphorismus 131, „Wolf als Großmutter", zum Tragen. Das, was dem Film am meisten schadet, ist, dass ihm von seinen Verfechtern das Etikett der Volkskunst angeklebt wird. „Je mehr der Film Kunst prätendiert, um so talmihafter wird er.” Aus zwei Gründen ist die Titulierung des Films als Volkskunst falsch. Erstens hat sich im Verlauf der Industrialisierung der Kultur eine Kulturelite herausgebildet, deren Medien darauf zugeschnitten sind, die Wünsche der Masse zu befriedigen. „Entsprechend ihrer eigenen strukturell diffusen Lage produzieren sie auch nicht mehr für Ihresgleichen, sondern eben für die „Masse", zu der sie sozialökonomisch zum Teil selbst gehören. Massenkultur ist eine Angebotsökonomie. Und das ist sicherlich der Hauptunterschied zu jeder Art von Volkskultur ...”
Zweitens ist es der Charakter der Volkskunst, etwas zu repräsentieren, was ohne äußere Einwirkung aus dem Volk selbst heraus geschaffen wurde, wie etwa Märchen, Sagen, Legenden etc. Gerade diesen Charakter jedoch spricht Adorno der Kulturindustrie ab. Der Film besitzt wie alle anderen Medien der Kulturindustrie deren Eigenschaften: er betrügt seine Rezipienten um das, was sie sich von ihm erhoffen, er fingiert die Reaktionen der Zuschauer, die überhaupt nur noch aus Gewohnheit, aus Reflex reagieren, er konzipiert den Massengeschmack, er ist wie die Volkskunst voller Stereotypie und trotzdem nicht dasselbe. „Deren Idee ist an agrarischen Verhältnissen oder der einfachen Warenwirtschaft gebildet.” Auf den ersten Blick entspricht solche Gesellschaft der massenkulturellen Industriegesellschaft, doch unterscheidet sie von letzterer, dass „ihre Mitglieder … noch nicht von der Totalstruktur umklammert” sind, „welche die einzelnen Subjekte erst zu bloßen Momenten reduziert, um sie dann als Ohnmächtige und Abgetrennte, zum Kollektiv zu vereinen.”
Wahrheit und Lüge
Der Massenbetrug gelingt dem Film so perfekt, dass sich seine Rezipienten, die durch die Dauerberieselung mit den mainstream-Produkten kaum noch in der Lage sind, aus diesem auszubrechen, des Zustands ihrer Manipulation auch noch erfreuen. Der „Wolf", in diesem Fall die „Märchenerzähler” der Kulturindustrie, also die Produzenten, erscheint den Zuhörern als „Großmutter", die ihnen mit ihren Geschichten ständig die „Gerechtigkeit jeglicher Weltordnung” vor Augen hält. Das Böse wird zum Guten, indem es seine Stimme verstellt und so die Verblendeten in ihr Verderben führt. „Dem Film ist die Verwandlung der Subjekte so differenzlos gelungen, dass die ganz Erfassten, keines Konflikts mehr eingedenk, die eigene Entmenschlichung als Menschliches, als Glück der Wärme genießen.”
Diese unheimliche Verblendung des Menschen erklärt Adorno im Aphorismus 71, „Pseudomenos", aus dem objektiv bestimmten Verfall der logischen Evidenz als solcher.” Da die Kulturindustrie das ganze System menschlicher Kommunikation in allen seinen Facetten strukturiert und prägt, erscheint alles, was von diesem Stil sich unterscheidet, als unwahr.
Selbst wenn jemand die Wahrheit spricht, findet diese kein Gehör, wenn sie nicht in das massenkulturelle Schema passt und folglich auch nicht von dessen Medien verbreitet wird. Dagegen erhält der größte Unsinn den Anschein von Wahrheit, wenn er nur von den Apparaten der Kulturindustrie publiziert wird. „Es ist dahin gekommen, dass Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge.” Dies Prinzip kam auch den Nationalsozialisten zugute, da von ihren Verbrechen lange Zeit nicht einmal in der ausländischen Presse berichtet wurde und sich im Zuge dessen Gerüchte über einen möglichen Völkermord in etwaigen Konzentrationslagern so unglaubwürdig anhörten, dass sich selbst Menschen, die davon wussten, einredeten, die Wahrheit sei so ungeheuerlich, dass sie sie als Unwahrheit ansahen. Gleiches lässt sich dann auch in der Kultur beobachten. „So desperat aber sind die Menschen in der Kultur geworden, dass sie auf Abruf das hinfällige Bessere fortwerfen, wenn nur die Welt ihrer Bosheit den Gefallen tut zu bekennen, wie böse sie ist.” Dem System der Kulturindustrie ist es gelungen, Wahrheit und Lüge so zu vermischen, dass es kaum noch möglich ist, beide auseinanderzuhalten, was zur Folge hat, dass selbst diejenigen, die die massenkulturelle Manipulation durchschauen, bedroht sind, sich zu verlieren. Wenn man Wahrheit und Lüge nicht mehr unterscheiden kann, verliert man die wichtigsten Parameter zur Orientierung in der Welt und damit die Erkenntnisfähigkeit. In diesem Fall hätten die Apologeten der Logik gesiegt. „Die Umsetzung aller Fragen der Wahrheit in solche der Macht, der Wahrheit selber nicht sich entziehen kann, wenn sie nicht von der Macht vernichtet werden will, unterdrückt sie nicht bloß, sondern hat bis ins Innerste die Disjunktion von Wahr und Falsch ergriffen, an deren Abschaffung die Söldlinge der Logik ohnehin emsig mitwirken.”
Zu dieser Vertauschung von Wahrheit und Lüge trägt auch noch der naturalistische Charakter der technischen Reproduktion des Films bei. Im Aphorismus 93, „Intention und Abbild", kommt Adorno zu dem Schluss, dass „der Pseudorealismus der Kulturindustrie … unter den herrschenden Bedingungen der Produktion vom Stilprinzip des Naturalismus selber erzwungen” wird. Durch die Vervielfältigung geht die Echtheit, der künstlerische Wert des Originals, sei es nun im Film oder in der Musik, verloren und somit auch dessen eigentliche Intention. „Der Interpret `vermittelt’ nicht mehr, er `verdoppelt’ bloß noch.” Würde der Film ohne jegliche vorher festgelegte Regieanweisungen, ohne Schauspieler, ohne Gesten, ohne Kulissen, also ohne Intention die Realität abbilden, könnte der nicht-gelenkte Zuschauer möglicherweise eine auf seine Persönlichkeit zugeschnittene Intention entdecken. Man muss ihm nur Raum für eine subjektive Interpretation des Gezeigten lassen, dann würde Film wieder Sinn machen. So aber wird „in dem lückenlosen Gefüge der Verdoppelung der Realität durch die technische Apparatur des Films … jede Intention, und wäre es selbst die Wahrheit, zur Lüge.”
1) Selbst das Scheitern der Revolution begriff Adorno am Fall Schönberg. Der große Kritiker und doch Verehrer Adornos, Heinz Steinert, schreibt dazu: „An Schönberg hat Adorno aber auch die Unmöglichkeit von Fortschritt gezeigt. Seine Errungenschaften wurden vom bürgerlichen Publikum abgelehnt und nur von wenigen anderen Komponisten, Schönbergs Schülern, übernommen. Der Hauptstrom der Kunst des musikalischen Komponierens ließ sie links liegen und zog in andere Richtungen, die Adorno „neoklassisch“ und ‚surrealistisch‘ nannte, vor allem aber als Gebrauchsmusik identifizierte. Das Bürgertum erkannte ‚seine‘ Musik, den gültigen Ausdruck seiner Situation, den Schönberg ihm bot, nicht wieder und wollte lieber mit Epigonentum und warenförmiger Unterhaltung versorgt werden. Der musikalischen Revolution folgte keine Verallgemeinerung auf die Gesellschaft, sie wurde verkapselt und ‚weit draußen‘ zurückgelassen. Schönberg verriet die Freiheit, deren Möglichkeit er gefunden hatte, indem er daraus ein neues Regelwerk der Komposition mit zwölf Tönen machte, einen lehrbaren Schematismus, der seinerseits normativ verstanden wurde – eine neue Herrschaft. Die Denkfigur der Dialektik der Aufklärung, dass Befreiung sich zu neuer Herrschaft verfestigt, wurde an Schönberg unmittelbarer erfahren als an den historischen politischen Revolutionen, in denen dieses Motiv wiedererkannt und bestätigt wurde. (...) Wie voraussetzungsvoll und immer gefährdet dieser immerhin mögliche Fortschritt ist, wie hart und konsequent die Arbeit, in der er gewonnen werden kann, hat Adorno nirgends schöner beschrieben als in dem kleinen Aufsatz Der dialektische Komponist von 1934, einem Beitrag in einer Festschrift zu Schönbergs 60. Geburtstag. “ Christine Resch / Heinz Steinert, Der Fortschritt der Kritischen Theorie (ÖZG, 2009)
Lit.: Lorenz Jäger, Adorno. Eine politische Biographie (dt. 2003) Helmut König, „Elemente des Antisemitismus. Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (2016) Heinz Steinert, Adorno in Wien. Über die (Un-)Möglichkeit von Kunst, Kultur und Befreiung (1989/2003) Heinz Steinert, Die Entdeckung der Kulturindustrie – oder: Warum Professor Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte (1992) Helge Miethe, Theodor W. Adornos’ Kulturindustrie-These (1997)
zu Adorno siehe auch den Trentmann-Text „Radiorevolution” MG-Link
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