Kommunikation als verbales Kraulen
2020
„Ungefähr zwei Drittel der Unterhaltungen drehen sich um zwischenmenschliche Belange. Wer was mit wem tut, und ob es gut oder schlecht ist. Wer wichtig ist und wer nicht und warum“, sagt der britische Psychologe Robin Dunbar. Diese Kommunikation, in der es scheinbar um nichts Wichtiges ging, war es nicht wert, in Schriftstücken dokumentiert zu werden. Die Geschichte dieser Kommunikationsform lässt sich nur aus indirekten Hinweisen rekonstruieren – insbesondere, wenn sich gelehrte Menschen über den „Tratsch“ der einfachen Leute in Schriften beschwerten.
Der polnische Sozialanthropologe Bronislaw Malinowski hat dafür 1923 auf Grundlage seiner Beobachtungen auf den Trobriand-Inseln den Begriff der phatischen Kommunikation geprägt, um die Bedeutung dieser „Art der Rede, bei der durch den bloßen Austausch von Wörtern Bande der Gemeinsamkeit geschaffen werden“, zu unterstreichen. Nicht nur der Tausch von Gaben ist vor allem ein symbolischer Austausch, sondern auch der Austausch von Sätzen - unabhängig vom Inhalt, also auch von scheinbar nutzlosen, redundanten und überflüssigen Sprech-Äußerungen. Der Austausch der Grußformel „guten Tag” ist dafür das schlichteste Beispiel und meint eigentlich: „Ich führe nichts Böses im Schilde.“ Solche Kommunikationsformen dienen der Anbahnung, Stabilisierung und Intensivierung zwischenmenschlicher Beziehungen. Beim geselligen Zusammensein und im plaudernden Gespräch, so Malinowski, „benutzen wir die Sprache, um Bande der persönlichen Gemeinsamkeit herzustellen“. Erst die differenzierte Sprache in einem späteren Stadium der Sprachentwicklung konnte als Mittel genutzt werden, sich über Dinge auszutauschen, die nicht präsent und sichtbar sind, oder allgemeine und abstrakte Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Die soziale, Gemeinschaft stiftende Funktion des Sprechens bleibt ein Bestandteil der „instrumentellen“ Rede und verschwindet nie ganz hinter der nackten Nachricht oder Information. Unabhängig davon, was gesagt wird, bedeutet das Wort an jemanden zu richten immer, mit einem anderen Menschen in eine soziale Beziehung zu treten.
Robin Dunbar geht soweit, in dem menschlichen Sprechen eine Ergänzung und einen Ersatz für das gegenseitigen Kraulen der Primaten bei wachsenden Gruppengrößen zusehen – und damit käme dieser Kommunikationsform eine wesentliche Bedeutung bei der menschlichen Sprachentwicklung zu. Dunbar: „Sprache ist entstanden, damit wir tratschen können.“ Primaten verbringen bis zu 20 Prozent ihrer Wachzeit mit dem Kraulen, das neben dem reinigenden Hygiene-Effekt ganz wesentlich eine kommunikative Funktion hat – wer wen kraulen darf oder muss ist für die Hierarchie von großer Bedeutung. Größere Gruppen, so Dunbar, erforderten andere Formen der Bindungskommunikation. Das funktioniert auch ganz ohne Inhalt wie das „Brabbeln“ eines Säuglings und das „Sprechen“ der Mutter mit ihrem Säugling zeigen. Unter sprachkundigen Menschen muss diese soziale Kommunikation aber mit „interessanten“ Informationen angereichert werden. Der Austausch von politischen Nachrichten, die die Sprechenden in keinster Weise wirklich direkt „betreffen“ und höchstens dem Abgleich von Weltbildern dienen, gilt als ein „interessanter“ Inhalt, genauso sind Klatsch-Nachrichten über das soziale Verhalten entfernter oder nahestehender Menschen ein Inhalt, der die Bindekraft der sozialen Kommunikation verstärkt.
Leibliche Kommunikation
Dem kommunikativen Kraulen geht die direkte „leibliche Kommunikation“ voraus. Eigenleibliches Spüren und affektives Betroffensein, so formuliert der Kieler Philosoph Hermann Schmitz, sind die Formen der ganzheitlichen Wahrnehmung. Leibliche Kommunikation ist die grundlegende Form der gegenseitigen Wahrnehmung, ein „bemerken, was los ist“ – bevor spezifischen Empfindungen aus Sinnesreizen aufgenommen und affektiv verarbeitet werden. Leibliche Kommunikation geschieht überwiegend präpersonal, d.h. nicht bewusst. Der Schreck ist ein typisches Beispiel leiblicher Kommunikation, wir „verstehen“ eine schreckhafte Reaktion, auch wenn wir nichts über die Hintergründe der Gründe wissen. Der Schreck wirkt unmittelbar ansteckend, ohne dass wir ihn nach Ursache und Angemessenheit analysiert und rational begriffen haben.
Schmitz versucht, mit neuen Worten neue Blickwinkel zu eröffnen. Er unterscheidet den „Körper“ vom „Leib“. Diese Unterscheidung ist umso wichtiger, als in den digitalen Medien die Begegnungen ohne präsenten Leib zunehmen. Die Bilder können den Körper zeigen, nicht den Leib. Was macht den Unterschied aus, warum ist es sinnvoll, „Körper“ und „Leib“ zu unterscheiden?
Der biologisch-medizinische Blick hat aus dem „Körper“ ein Objekt gemacht, einen sicht- und tastbaren Gegenstand, ein nach außen abgeschlossenes Objekt der Betrachtung, Überlegung und Benutzung. Was wir sehen können, ist die Oberfläche. Leib ist für Schmitz dagegen das, was nur der betreffende Mensch selbst spüren kann, „ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne, besonders des Sehens und Tastens, zu verlassen“. (Schmitz) Der Mensch empfindet seinen Leib als unteilbar, als Ganzen. Der Leib ist das Gefühlte Ich, das sich anderen Menschen nur schwer mitteilen lässt und das ich vor allem mit geschlossenen Augen deutlich spüren kann.
Der Säugling ist, was er spürt, empfindet und fühlt in der Symbiose mit dem Mutterleib. Erst wenn er sich im Spiegelbild erkennen kann, sagt man ihm: Das ist dein Körper. In den letzten 200 Jahren haben die zunehmenden biologischen und medizinischen Kenntnisse von dem „Körper“, mit dem wir umgehen können, den subjektiv gespürten Leib verdrängt. In dem Gegensatz von „Unterleib“ und „Oberkörper“ lebt die alte Terminologie weiter.
Am Leib spüre ich, so Schmitz, den Schreck, die Angst, den Schmerz, die Wollust, die Kraftanstrengung, Ekel, Hunger, Durst, Müdigkeit, Frische, Erleichterung. Ich bin ergriffen von Freude, Trauer, Zorn, Scham, Furcht, Liebe, wobei diese Gefühle nicht einfach „in mir“ sind, sondern wie „Atmosphären“ (Schmitz) den Raum erfüllen. Wenn ich mit trauriger Gestimmtheit in einem Raum allgemeiner Ausgelassenheit eintrete, steckt mich dieses Gefühl an – oder ich muss panisch den Raum verlassen. Der Leib ist ein flächenloser Raum wie der Schall oder die Stille. Für den gespürten Leib gibt es keine Punkte oder Linien, keine körperlichen Begrenzungen, keine durch Lagen und Abstände bestimmten Orte. In flächenlosen Räumen gibt es Enge und Weite. All diese gespürten Empfindungen entziehen sich den Begrifflichkeiten der Geometrie und der Mechanik und daher sind sie nicht zu Objekten der wissenschaftlichen Betrachtung gemacht worden.
Für die Beschreibung der leibliche Kommunikation verwendet Schmitz neue Begriffe. Die natürlichen Einheiten der Wahrnehmung etwa sind für Schmitz „Situationen“. Eine Situation wird nicht als Menge einzelner Sinnesdaten oder Dinge wahrgenommen, sondern als natürliche Einheit der erlebten Ganzheit. Situationen sind subjektive Tatsachen, um sie zu beschreiben brauchte es Romane. Eine Situation ist „binnendiffus“, d.h. in ihr ist nicht alles (eventuell gar nichts) einzeln erkennbar und benennbar. Eine Situation wird durch ihre Bedeutsamkeit zusammengehalten. Die Bedeutsamkeit von Situationen vermittelt sich spontan durch leibliche Kommunikation.
Der Leib ist nicht an anatomische Grenzen gebunden, leibliche Kommunikation durch Tasten, Sehen und Hören kann die eigenen Grenzen überschreiten. In der Begegnung mit anderen bildet sich dabei ein gewissermaßen gemeinsamer, übergreifender Leib. Reiter und Pferd, die Mannschaft der Rudern, zwei Tänzer oder eine Gruppe gemeinsam singender Menschen wären Beispiele für das Empfinden dieses übergreifenden Leibes, „Einleibung“ nennt Schmitz das. Voraussetzung ist eine große Intensität der leiblichen Kommunikation.
vgl. auch meine Texte zu Körper haben, Leib sein MG-Link Über die Entstehung von Sprache, Klatsch und Tratsch M-G-Link Kommunikation konstruiert Wirklichkeitsbewusstsein M-G-Link Das japanische Zwischen-Ich als „Du von Du” und die Digitalisierung der Gesellschaft MG-Link Das gespürte Ich - der Tastsinn MG-Link Über die Ursprünge von Sprache und Musik M-G-Link Was ist Sprache - oder besser: Was die Hirnforschung über die Sprache weiß MG-Link Über das Denken in Anschauungsformen, in Schriftsprach-Symbolen und in Mythen MG-Link
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