Klaus Wolschner 

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Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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II
Politik
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Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
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Wenn der Pöbel
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Über die
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Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
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Scheitern des Marxismus

Der aus Prag stammende englische Soziologe Ernest Gellner hat das
Scheitern des „realen Sozialismus” beschrieben
und mit dem Begriff der pluralistischen „Zivilgesellschaft” die Voraussetzungen von
Freiheit in Gesellschaften mit kapitalistischer Ökonomie beschrieben
Warum soziale Revolutionen scheitern müssen, erklärt Hannah Arendt

2020

Marx spielte in seinen jungen Jahren mit der romantischen Idee einer harmonischen Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. In den Texten des jungen Marx, darunter auch solchen, die er nie selbst veröffentlicht hatte, wird der moralische Impetus deutlich, den er später wissenschaftlich begründen wollte: die messianische Sehnsucht nach einer gänzlich unkorrumpierten Welt und einer harmonischen Gesellschaft, in der der Mensch eins mit sich sein kann. Die marxistische Utopie gehört, so Ernest Gellner, „zur Welt der Romantik des 19. Jahrhunderts. Ihr Ton ist der des Leiden des jungen Werther. Der Mensch möchte ganz sein und klagt bitterlich, dass seine Seele zwischen dem Politischen und dem Ökonomischen hin- und hergerissen ist. Der Marxismus wollte, dass der Mensch der Trennung des ökonomischen und eigensüchtigen Menschen von dem politischen und moralischen überhoben sei. Seelische Einheit war die zugrunde liegende Idee.“

Die Trennung der Lebenswelt in verschiedene Sphären, einer, in der das Individuum privat ist und herumphilosophieren und fischen kann, einer anderen, in der es arbeitet und damit dem Zwang der Ökonomie und der Rationalität der Profit-Produktion unterworfen ist, wollte der romantische Marx nicht akzeptieren. Die Aufspaltung in eine politische Welt der Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz auf der einen und eine Produktionswelt auf der anderen Seite, die vom Arbeiter nur die Arbeitskraft will und ihn zum Anhängsel der Maschine macht, betrachtete Marx nicht als Errungenschaft der bürgerlichen Moderne, sondern als neue Stufe von Entfremdung des Menschen von „sich selbst“.

Die „reale Erfahrung der Gesellschaften, die sich daran machten, diese Vision zu verwirklichen, kompromittierte sie schließlich“, fasst Gellner zusammen. In der Praxis habe der Marxismus überall, wo seine Anhänger an die Macht kamen, zu einem „Cäsaro-Papismus-Mammonismus“ geführt, zur Verschmelzung der politischen, ideologischen und ökonomischen Hierarchien. Im sowjetischen Osteuropa überlagerten sich eine byzantinische Theologie und Tradition mit der absolutistischen Manie, die Wirtschaft wie einen Teil des Staatsapparates zu behandeln und steuern zu wollen.

Der Versuch misslang. Denn die Menschen „lernten, den Plan auszutricksen, statt die Produktion zu erhöhen“, schreibt Gellner:  „Das System schuf keineswegs einen neuen, gesellschaftlichen, von egoistischer Gier, Konsumfetischismus und Konkurrenzdenken befreiten Menschen, wie die Marxisten gehofft hatten, sondern  isolierte, amoralische, zynische Individualisten mit total begrenzten Möglichkeiten, geübt in Double-talk und der Anpassung an das System, aber unfähig zu aktivem Unternehmungsgeist.“

Gerade der „Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital“, Konkurrenz und Konflikt sind die Mütter allen Fortschritts. Wobei die Gleichsetzung der abstrakten theoretischen Begriffe von Arbeit und Kapital mit den konkreten Arbeitern und Kapitalisten zu vielen Missverständnissen in der politischen Praxis führt. Denn es liegt überhaupt nicht im Interesse der Arbeiter, „das Kapital“ zu bekämpfen, sie konkurrieren um einen Anteil an der im kapitalistischen Interesse erreichten Produktivität. Sie wollen einen „gerechten“ Anteil haben am Genuss des Reichtums – und konkurrieren so mit dem Genuss-Anteil der Kapitalbesitzer, nicht mit den Investitionen in Produktivität. Der „Widerspruch“ zwischen Genuss und Investition ist ein Motor des Fortschritts und kein Widerspruch, sondern ein Konflikt. Dass Konflikte als „Widersprüche“ definiert werden, die überwunden werden müssten, gehört zu den großen Irrtümern idealistischer Philosophie.

Der zerstörerische, oft von Willkür bestimmte Terror des Stalinismus sollte die schlechten Menschen in die gute Ordnung zwingen und den neuen Menschen aus den alten herausprügeln – es gab nur einen, der die Weisheit hatte, dieses möderische Menschenexperiment zu steuern – Stalin, der Parteiführer. Der Terror pulverisierte die überkommenen Strukturen und Bindungen der Gesellschaft, es war unmöglich, einen Philatelisten-Verein zu gründen, ohne politisch überwacht zu werden.

Nicht nur die menschliche, auch die ökonomische Bilanz war verheerend -  der reale Sozialismus wurde im Konsum- wie im Rüstungswettlauf geschlagen.

Wie sehr die Nomenklatura der herrschenden Partei selbst verwahrlost war, zeigt das Ende des sozialistischen Menschenexperiments. „Wenn Gesellschaftsordnungen und Glaubenssysteme zerfallen, gibt es gewöhnlich einige treue Anhänger, die bis zum letzten Atemzug weiterkämpfen. Nicht so im Reich der Bolschewik“, schreibt Gellner, „die Nachfolger kämpften manchmal noch um die Beute und aus nationalistischen Gründen oder um sich einige der Nebeneinkünfte zu sichern, aber praktisch niemand bewahrte genug Eifer oder Loyalität, um für den Orden und den Glauben selbst zu kämpfen.“

„Die alte Nomenklatura verwandelte sich mit imponierender und empörender Geschwindigkeit in Chauvinivsten oder Opportunisten-Kapitalisten... Nie wurde ein sinkendes Schiff so bereitwillig und so einmütig verlassen, nie wurde ein Experiment so endgültig verdammt.“

Wobei auffällig ist, dass in der Phase des stalinistischen Terrors und Massenmordes die allgemeine Überzeugung, dass man auf dem guten Wege zum Kommunismus sei, weniger stark beschädigt wurde als in der Phase der Verwahrlosung der Breschnew-Ära. „Solange die Nomenklatura sich gegenseitig umbrachte und das mörderische Wüten mit offensichtlich verlogenem politischen Theater begleitete, überlebte der Glaube; aber als die Nomenklatura dazu überging, sich gegenseitig zu bestechen, statt sich gegenseitig zu erschießen, verflüchtigte sich der Glaube.“

In die postkommunistische Welt brachten die Kader des realen Sozialismus vor allem eine mafiose Intrigen-Ethik ein.

Der marxistische Materialismus geht davon aus, dass die „Zivilgesellschaft“ ein Schwindel sei, eine Fassade für die verborgene und bösartige Herrschaft „des Kapitals“. Ausgerechnet diese „Zivilgesellschaft“ wurde eine Parole beim Abriss der marxistischen Gesellschaft. Der Begriff der Zivilgesellschaft wurde in den postkommunistischen Gesellschaften zu einer Metapher für die Befreiung von dem Wahrheits- und Informationsmonopol, von dem Monopol der politischen und gesellschaftlichen Ordnung, von dem Versuch einer zentralistischen Steuerung des ökonomischen Handelns - also kurz von all dem, was den „real existierenden Sozialismus“ ausmachte.

Vormodernen Staatsapparaten fehlte das Instrumentarium, um die Gesellschaften zu pulverisieren und unter ihre Kontrolle zu bringen, sie mussten autonome Sub-Gemeinschaften respektieren und mit familialen, ethnischen oder lokalen Gemeinschaften kooperieren. Erst der moderne Staat verfügt über die Mittel, eine Gesellschaft totalitär zu kontrollieren. In dem Begriff der „Zivilgesellschaft“ fasst Gellner das Netz ganz verschiedener nicht-staatlicher Institutionen zusammen, die die Grenzen staatlicher Macht in ihren jeweiligen Bereichen markieren  und von politischer Kontrolle weitgehend freie Lebensbereiche ermöglichen. Mit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums wurde deutlich, dass die Menschen das, was der  Marxismus für Betrug erklärt hatte – die „Zivilgesellschaft“ - als etwas höchst Begehrenswertes verstanden, als ihr kleines Reich der Freiheit. „Zivilgesellschaft“ bedeutet, dass es Bereiche gibt, in denen individuelle Eigeninteressen und private Zwecke verfolgt werden dürfen – und dass diese Eigeninteressen nicht mit Argwohn von der staatlichen Macht betrachtet werden, sondern als Partner akzeptiert werden von einer staatlichen Macht, die sich ihrer Grenzen bewusst ist.

Die große Frage des 21. Jahrhunderts ist es, ob diese Schlussfolgerungen des sowjetischen Experiments auch in China gelten.

Die Unmöglichkeit der sozialen Revolution

Das Problem der – scheinbar erfolgreichen – bolschewistischen Revolution verweist für Hannah Arendt auf ein grundlegendes Problem von Revolutionen, nämlich auf  die „Gefahr, die aus der Armut erwächst“. So schrieb Hannah Arendt 1967 in einem erst 2019 posthum gedruckten Text „Die Freiheit, frei zu sein“. (Link)

In der Amerikanischen Revolution ging es nicht um die Armen, Sklaven zählten nicht als Menschen bei der Formulierung der Menschenrechte. Diese politische Revolution war ein Umsturz der Machtverhältnisse und die weißen Siedler haben eine politische Form gefunden, wie sie die politische Macht gemeinsam ausüben, d.h. delegieren und kontrollieren können. Die „Freiheit, frei zu sein“, blieb das Privileg einiger weniger, so Arendt. Sie schrieben Menschheitsgeschichte als Geschichte weniger Privilegierter.

Les malheureux, die Unglücklichen, traten erst in der Französischen Revolution auf den Plan, einer Revolution, die  nach einer Dekade „krachend scheiterte“ (Arendt). Denn die revolutionäre Republik stand, nachdem sie den König guillotiniert hatte,  vor der Aufgabe, „das Volk insgesamt aus dem Elend zu befreien“, damit es auch politisch frei sein konnte. Es ging nicht nur darum, die  Regierungsform zu ändern und die Macht über die Steuergesetzgebung zu erlangen, sondern darum, die Gesellschaftsordnung zu verändern, es ging um die „soziale Revolution“. An diesem Anspruch scheiterte die Französische Revolution und blieb dennoch für alle späteren Revolutionen das Muster.    

Eine politische Revolution wird von der Aufgabe, in einer überschaubaren kurzen Zeit die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu erneuern mit dem Ziel, spürbar größeren  Reichtum zu erwirtschaften, überfordert. Politische Umstürze mit dem Anspruch, gleichzeitig „soziale Revolution“ zu sein, führen in schöner Regelmäßigkeit, wenn die Aufrührer erfolgreich sind und auf der Straße die Macht gewinnen, in eine Zeit des aufgeklärten Absolutismus. „La Republique? La Monarchie? Je ne connais que la question sociale“,verkündete Robespierre. Das ist das Credo des aufgeklärten Despotismus.

Wenn die überwiegende Zahl der Menschen einer Gesellschaft frei von Not ist, liegt das nicht an irgendwelchen politischen Revolutionen, sondern an langwierigen gesellschaftlichen Innovationsprozessen und der Entwicklung neuer Produktionstechniken. Die Abschaffung alter Besitzverhältnisse und alter Herrschaftsstrukturen kann dafür den Startschuss geben, die Revolutionäre erleben aber in der Regel den ökonomischen Erfolg ihres Umsturzes nicht mehr. Denn die Umverteilung des Reichtums der Wenigen auf die hungrigen Vielen macht die Vielen nicht satt, sondern enttäuscht nur ihre Hoffnungen. 

Die Macht der Straße führt so in eine Sackgasse. Nur diejenigen, die in ihrem Handeln und Denken weder von Not noch Furcht bestimmt sind, können als Gleiche unter Gleichen am öffentlichen politischen Leben teilnehmen und sind im Sinne von Hannah Arendt „frei“. Die Revolutionäre, die die Armut beseitigen sollten, müssen scheitern und hinterlassen ihre revolutionären Ziele nur als Vision – auch wenn sie als Tyrannen endeten, erinnern sich die Menschen an den kurzen Sommer der Anarchie und daran, dass erst ein Leben ohne Not und Furcht ein wirkliches freies Leben sein kann. 

Ein aufgeklärter Absolutismus kann große Infrastruktur-Innovationen herbeiführen, die zu einem höheren wirtschaftlichen Ertrag führen und über die militärischen Ausgaben für die Sicherung ihrer Macht hinausgehenden Reichtum schaffen. Aber die dynamische Entfaltung der Produktivität gelingt offenbar nicht in einem politischen System der kontrollierten Gleichschaltung des gesellschaftlichen Lebens, ihre Basis ist der Spielraum für die ehrgeizigen Eigeninteressen der Einzelnen, wirtschaftlich wie kulturell, und die gesicherte Akzeptanz des seine Eigeninteressen verfolgenden Nächsten - kurz: Spielraum für Wetteifer und Pluralismus. Denn nicht die Harmonie, sondern Konflikt ist die Mutter aller Bewegung, das ahnte schon Heraklit. Der Traum von der Harmonie birgt immer die Gefahr, den Konflikt als Krankheit zu betrachten und als Störung der eigenen Glaubensgewissheit auszumerzen.

War Marx schuld?

Sicherlich ist Karl Marx (gest. 1883) nicht „schuld“ am Scheitern derer, die den „Marxismus“ zur Rechtfertigung ihres politischen Handelns herbeizogen. Aber stehen, das hat sehr scharf Karl Popper formuliert, Mussolini, Hitler und Stalin nicht auf den philosophischen Schultern von Hegel, Marx (und Platon)? Für Popper ist es kein Zufall, dass totalitäre Regimes ihre Politik mit Verweis auf Hegel rechtfertigten. Hinter den „marxistischen Verkleidungen“ stecke „die orakelnde Philosophie Hegels“, der den absolutistischen preußischen Staat legitimieren wollte.

An die Stelle der religiösen Vorsehung tritt bei Hegel der „Weltgeist“, der Konflikte als Widersprüche zwischen These und Antithese sortiert und der sich hinter dem Rücken der Streitenden durchsetzt – als „Synthese“. Weltgeschichte ist für Hegel die Geschichte des Kampfes verschiedener Nationen um die Weltherrschaft, der Staat verlangt Unterordnung des Individuums. In Hegel sieht Popper das Bindeglied zwischen Platons Totalitarismus und modernen Formen totalitären Denkens. Denn der Erfolg oder Misserfolg beim Kampf um die Weltherrschaft bleibt als einziger Maßstab für das Verhalten eines Staates.

Menschliches Handeln ist nicht mehr verantwortlich für den Verlauf der Geschichte, es kann nur „Geburtswehen abkürzen“, so formulierte das Marx einleitend im 1. Band des „Kapital“: „Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist - und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen -, kann sie naturgemäße  Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die Geburtswehen abkürzen und mildern.“

Dass alle Revolutions-Prognosen von Marx sich als falsch erwiesen haben, stört seine gläubigen Anhänger nicht. Sie verwechseln historische Prophezeiung – mit der man falsch liegen kann - mit wissenschaftlicher Prognose – umso schlimmer für die Wirklichkeit, wenn sie sich nicht erfüllt. Die wissenschaftliche Prognose gerät zur Rechtfertigung totalitärer Gewalt.
Offenbar gibt es ein quasireligiöses Bedürfnis, an eine teleologische Geschichtsmetaphysik zu glauben. Woher kommt dieses Glaubensbedürfnis? Für Popper befreit sich das Individuum so von der Last, eigene Entscheidungen zu treffen und zu verantworten, und von dem beunruhigenden Gefühl, allein verantwortlich zu sein für sich, ohne eine Glaubensgemeinschaft, die Gewissheit und Sicherheit verspricht.

Fußnote zu Hegel:

Klaus Vieweg hat jüngst (2019) in einer 824 Seiten starken Biografie Georg Wilhelm Friedrich Hegel zum „Philosoph der Freiheit“ erklärt. Die Zeitgenossen haben den Berliner Philosophen aber nicht so verstanden. Rudolf Hajms hat 1857 die zeitgenössische Wahrnehmung in einer scharfen Kritik (in „Vorlesungen über Hegel und seine Zeit“) so zusammengefasst:

Hegel sei ein „philosophischer Dictator über Deutschland“, er habe die Philosophie zur „wissenschaftlichen Behausung des Geistes preußischer Restauration“ gemacht und im Grunde eine „wissenschaftlich formulierte Rechtfertigung des Karlsbader Polizeisystems und der Demagogenverfolgung“ geliefert. Wenn Hegel den Staat als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ bezeichne und feststelle, man solle ihn „wie ein Irdisch-Göttliches verehren“, dann bedachte den Staat mit den Prädikaten des Göttlichen, des Absoluten, der Vernunft. Während die Aufklärung die Gesellschaft vom Himmel und das Denken von Metaphysik und Theologie befreien sollte, führt Hegels Metaphysik mit ihren logischen Scheinsätzen zurück in ein transzendentales Ordnungsdenken, das die Restauration zu ihrer Rechtfertigung nutzte und benutzen konnte. Hegel spekulierte über den „unerfüllte Punkt des absolut freien Selbst“, um zu erklären, dass das Ergebnis „der allgemeinen Freiheit“ nur ein Tod sein könne – „der kälteste, platteste Tod, ohne mehr Bedeutung als das Durchhauen eines Kohlhaupts“. Was bleibt, ist die Warnung vor der „allgemeinen Freiheit“. Solche Sätze der Metaphysik bringen, wie Rudolf Carnap sehr schön beschrieben hat, mit einem hohen begriffslogischen Aufwand im Grunde nur ein Lebensgefühl zum Ausdruck. Rüdiger Safranski hat das sehr nett und bösartig so beschrieben: „Der alte (Hegel) hätte, wenn er eine gutausgestattete Professur hätte, seinen Frieden gemacht mit der Berliner Republik. Man muss als Philosoph nicht immer auf der Höhe seiner Theorie sein.“

Hegel nimmt dabei mit der Verknüpfung von Freiheit und Tod einen Gedanken von Louis-Gabriel-Ambroise de Bonald auf. Der Philosoph der Restauration hatte schon 1896 erklärt: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - oder der Tod - haben in der Revolution großes Ansehen gehabt. Die Freiheit hat dazu geführt, ganz Frankreich mit Gefängnissen zu bedecken; die Gleichheit hat Titel und Auszeichnungen vervielfacht, die Brüderlichkeit hat uns entzweit. Allein der Tod hat Erfolg gehabt.“ 

Wie Hegels „Dialektik“ von Zeitgenossen verstanden und missverstanden wurde, hat zum Beispiel Friedrich Engels in seinem „Anti-Dühring“ vorgeführt. Er illustriert da Hegels metaphysische Formel von der Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit mit den Naturgesetzen: „Es gilt dies mit Beziehung sowohl auf die Gesetze der äußern Natur, wie auf diejenigen, welche das körperliche und geistige Dasein des Menschen selbst regeln – zwei Klassen von Gesetzen, die wir höchstens in der Vorstellung, nicht aber in der Wirklichkeit voneinander trennen können. […] Freiheit besteht also in der auf Erkenntnis der Naturnotwendigkeiten gegründeten Herrschaft über uns selbst …“  Menschliche Gesellschaften mit dem erfolgreichen Instrumentarium der Naturwissenschaften zu analysieren war damals modern.

Wie eine gesellschaftliche Ordnung so gestaltet werden kann, dass eine große Zahl von Individuen mit ihrem Anspruch konkreter individueller Freiheit zusammenleben können, lässt sich in den blutleeren Abstraktionen der Metaphysik nicht diskutieren. Es wäre sicherlich reizvoll, den „Habitus” des Philosophen Hegel und der Rezeptionsgeschichte seiner Philosophie mit Pierre Bourdieus feinem Gespür für geistige und soziale Machtverhältnisse zu beschreiben.

    Lit.:
    Hannah
    Arendt, Die Freiheit, frei zu sein (1967/2018)
    Ernest Gellner, Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen.
                             (1995, engl.: Conditions of Liberty: Civil Society and its Rivals, 1994)
    Karl R. Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Teil 1: Der Zauber Platons (The Open Society and Its Enemies. The Spell of Plato, 1945)
    Karl R. Popper
    Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Teil 2: Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen (The Open Society and Its Enemies. The high tide of prophecy : Hegel, Marx and the aftermath, 1945)
    Karl R. Popper, Vom Elend des Historismus (1957)

    Rudolf Hajms „Vorlesungen über Hegel und seine Zeit“ (Berlin 1857)
    Joachim Ritter, Hegel und die französische Revolution  (1957)
    Klaus Vieweg, Hegel. Der Philosoph der Freiheit (2019),

    siehe auch der Text     Totalitäres Denken von links und rechts   MG-Link