Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

www.medien-gesellschaft.de


zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

 

2 AS Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen: Augensinn, Bildmagie
 

ISBN 978-3-7418-5475-0

2 VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges


ISBN 978-3-7375-8922-2

POP 55

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN: 978-3-752948-72-1

2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

ISBN 978-3-746756-36-3

 

Wir-Ich Titel kl2

Neue Medien,
neue Techniken des
Selbst:
Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

 

Radio-Stimme

Die Technisierung der Stimme und die Dynamik des neuen Massenmediums -
eine kurze Geschichte des Radios in Deutschland:
Vom Heeres-Sender zum Kultur- und Bildungsradio zum „Dudelfunk“
Das vom Geschmack der Masse bestimmten „Popularmedium“ wurde im kulturellen Kontext der frühen Bundesrepublik zum Vermittler der  aufsässigen Jugendkultur

2020

Zur Vorgeschichte des Radios im 19. Jahrhundert gehört die Telegrafie – als Technik der Fernübertragung - wie auch die des Grammophons – als Speicherung von Tönen. Auf verschiedenen Ebenen wurde mit Techniken des Klangs experimentiert. Um die menschliche Stimme reproduzierbar zu machen, musste zunächst die Vorstellung vom Stimmklang auf akustisch-technische Begriffe reduziert werden.

Herrmann von Helmholtz erklärt 1863 das Geschehen in der Mundhöhle so:  „Je mehr die Mundhöhle verengert ist durch die Lippen, die Zähne oder die Zunge, desto entschiedener kommt ihre Resonanz für Töne von ganz bestimmter Höhe zum Vorschein, und desto mehr verstärkt sie dann auch in dem Klang der Stimmbänder diejenigen Obertöne, welche sich den bevorzugten Graden der Tonhöhe nähern; desto mehr werden dagegen die übrigen gedämpft.“ Darauf aufbauend experimentierte die Familie Bell mit Sprechmaschinen.

Alles nur Äther?

Das philosophische Rüstzeug war eher dürftig – und hinderlich. Friedrich Wilhelm Hegel verwirrte die Geister mit  dunklen Andeutungen über den „Äther“, als er 1804 erklärte: „Der Äther durchdringt nicht nur Alles, sondern er ist selbst Alles; denn er ist das Sein. ... Dieses reine Wesen aber, in dieser Sichselbstgleichheit in das Sein zurückgegangen, hat … den Unterschied als Unterschied in sich getilgt und hinter sich gelassen und … ist nur die schwangere Materie …“
Noch 1932 meinte der einflussreichste Radiotheoretiker der Weimarer Republik, Richard Kolb,  die Funkwellen seien „wie der geistige Strom, der die Welt durchflutet. Jeder von uns ist an ihn angeschlossen, jeder kann sich ihm öffnen, um von ihm die Gedanken zu empfangen, die die Welt bewegen.“  Der „unsichtbare geistige Strom“ sei „geleitet vom schöpferischen Wort, das am Anfang war und das den Erkenntniswillen seines Erzeugers in sich trägt.“ Die Philosophie, fasziniert von der Idee der elektromagnetischen Wellen, assoziierte damit alte Phantasien vom Gedankenstoff, der geradezu telepathisch sogar die Lebenden und die Verstorbenen verbinden könnte.

Vorboten einer neue Technik – aber wie kann man sie nutzen?

Letztlich ließen sich die Techniker davon nicht bremsen. Dem Physiker Heinrich Hertz gelang 1886  im Experiment die Übertragung elektromagnetischer Wellen  von einem Sender zu einem Empfänger. Gleichzeitig entwickelte der französische Funk-Techniker Edouard Branly eine radioleitende Röhren. Der englische Physiker Oliver Lodge stellte 1894 ein Verfahren zur Frequenzabstimmung zwischen Sende- und Empfangsgerät vor.  Auf dieser technischen Basis gelang dem Italiener Guglielmo Marconi 1895 eine Funkübertragung über zwei Meilen, er beantragte 1896 das Patent auf die „Kommunikation über Hertz'sche Wellen". Entscheidend für den Erfolg Marconis war sein Geschäftssinn. Schon 1899 demonstrierte er mit einer drahtlosen Verbindung über den Ärmelkanal die Möglichkeiten der neuen Technik, 1910 gelang eine Funkverbindung über den Atlantik.

Die Sendetechnik wurde als eine Variante der Telegrafie begriffen und vor allem das Militär interessierte sich dafür. Der Direktor der Telefunken-Gesellschaft, Hans Bredow, meldete sich freiwillig zur Armee. Er hatte schon 1913 von der Funkstation Sayville (USA) eine Musiksendung gesendet. An der Westfront wurden zunächst nur Heeresberichte und Zeitungsartikel im Radio vorgelesen. Um den Funkern das Angebot schmackhaft zu machen, ließ Bredow zwischendurch Soldaten musizieren oder Musik vom Grammophon spielen. Die Oberste Heeresleitung ließ daraufhin das neue Medium verbieten, weil sie die Sorge hatte, die Funker und Soldaten würden abgelenkt. 

Die Revolution und das Radio

Im November 1918 wurden auch die 190.000 Funker des kaiserlich deutschen Heeres demobilisiert, es blieb der Gerätepark.  Als die Arbeiter- und Soldatenräte in Berlin das „Wolff'scheTelegraphen-Bureau“ besetzten und funkten: „An Alle! Hier hat die Revolution einen glänzenden, fast ganz unblutigen Sieg errungen“, wussten die  Verantwortlichen des ehemaligen kaiserlichen Heeresfunks, was drohte. Noch gab es „im Volk“ keine Empfangsgeräte.  Die „Revolution“ fand nicht statt, Bredow baute mit dem Gerätepark des Militärs ein Reichsfunknetz auf, das an das bisherige System anknüpfte. Die alte Heereshauptfunkstelle Königs Wusterhausen war die Zentrale, es gab 20  Sendestellen und 76 Empfangsstellen. Seit 1919 wurden von Königs-Wusterhausen aus Nachrichten verschiedener Presseagenturen an die Empfangsstationen in den Poststationen ausgestrahlt und von dort an die örtliche Presse weitergegeben.

Im November 1919 erklärte Bredow in einem Vortrag seine Vision vom Radio: Die Menschen als Radio-Hörer sollten „in ihrem Heim an dem öffentlichen Leben teilnehmen“, ihnen sollte „die Schätze von Kunst und Wissenschaft in das Haus gebracht“ werden. Davon, dass das Radio mit Schlagermusik auch breitere Kreise des Volkes erreichen könnte, sprach er nicht. 1921 wurde aus der Berliner Staatsoper „Madame Butterfly“ gesendet. Neben den „offiziellen“ Empfängern von Post und Reichswehr hatten immer mehr private Bastler sich Rundfunkempfänger zusammengebaut, vor allem die arbeitslos gewordenen Militärfunkern freuten sich daran und Zeitschriften und Klubs verbreiteten das technische know-how dafür. Gegen die Bedenken der Reichswehr gab die Regierung 1923 das Rundfunkhören für Jedermann frei.

Bildungs-Radio für Jedermann

Das Radio begann in Deutschland nicht als Massenmedium, sondern als „Kulturinstrument“. Keine Politik, keine „Parteiengezänk“, keine demokratische Auseinandersetzung sollte im Medium Radio stattfinden. 

29. Oktober 1923 begann das offizielle Programm um 20.00 Uhr mit einer Cellosolo „Andantino“ mit Klavierbegleitung  von Georg Kreisler, gesendet im Auftrag der „Deutschen Stunde. Gesellschaft für drahtlose Belehrung und Unterhaltung mbh“. Es folgte Musik von Mozart, Tschaikowsky und Schumann und das Deutschlandlied. Hans Bredow, inzwischen Staatssekretär, war vom Reichspostministerium mit der Organisation des Rundfunkwesens beauftragt worden. Er erläuterte: „Es soll vor allen Dingen weitesten Kreisen des Volkes gute Unterhaltung und Belehrungsmöglichkeiten in der Weise verschafft werden, dass mittels drahtlosen Telephons allen Bevölkerungsschichten und nicht nur den Wohlhabenden, die sich den Luxus eines eigenen Empfängers erlauben können, ermöglicht wird, Vorträge künstlerischer, wissenschaftlicher und sozialer Art auf drahtlosem Wege zu hören.“ Jahrelang wurden auch unvollständige Kammermusik-Stücke im Radio gespielt - etwa Quartette, bei denen eine Stimme fehlte, und damit die Möglichkeit geben, zuhause die fehlende Stimme mitzuspielen.  Im Radio wurde vorgelesen, das Radio diente der akustischen Übertragung geschriebener Sprache.

Der Anschaffungspreise für die Empfangsgeräte lag bei 400-500 Reichsmark, Kopfhörer kosteten 100 Mark – das waren zwei Monatsgehälter eines mittleren Angestellten. Auch die monatlichen Empfangsgebühren von zwei Mark konnte sich ein ungelernter Arbeiter nicht leisten – er hätte dafür vier Stunden arbeiten müssen.
So waren Ende 1924 waren erst knapp 10.000 Geräte angemeldet, dazu kam jedoch eine deutlich höere Zahl von Schwarzhörern. Die Reichsregierung verfügte daher 1924 eine empfindliche Strafandrohung mit einer Amnestie für alle Schwarzhörer, die sich freiwillig stellten - 1926 stieg die Zahl der „gemeldeten“ Geräte auf eine Million, 1928 wurde die zweite Million erreicht.

Die fremde Technik

Wie fremd die Vorstellung war, in ein Mikrophon zu sprechen und die Menschen, die es hören sollten, nicht wahrzunehmen, wird an der Art deutlich, mit der Walter Benjamin in seiner Rundfunkrede 1929 seine Hörer begrüßte: „Verehrte Unsichtbare ..." Ähnlich befremdet war auch Thomas Mann 1929 im Filmstudio, als in jener Zeit er „Worte zum Gedächtnis Wilhelm Lessings“ im Studio in die Kamera sprechen sollte. (youtube-Link)
Auch die Radiosprecher – es war anfangs ein Männerberuf  - hatten Angst vor dem Mikrofon, diesem „kalten, seelenlosen" Apparat, man sprach von „Mikrofon-Fieber". Die Virtualisierung des Sprechens war eine kognitive und emotionale Herausforderung. Adolf Hitler sprach nie im Studio – er braucht die Resonanz der sichtbaren Zuhörerschaft-

Es gibt einige Anekdoten, die auch Seite der Empfänger beleuchten. Natürlich war Technik ein Zeichen  patriarchaler Autorität. Wer durfte die Kopfhörer aufsetzen, wenn es galt, „Radio zu hören“? „Mein Vater natürlich. Ich erinnere mich, wie er mit den Kopfhörern Nachrichten hörte. Ich glaube nicht, dass wir jemals die Nachrichten gehört haben, immer hatte mein Vater die Kopfhörer auf. Na ja, er hatte das Sagen - es passierte, was er wollte."
Eine andere Anekdote schildert den patriarchalischen Streit um die Räume in der Wohnung im Jahre 1930: „Im Zimmer zog Vater (...) etliche Antennendrähte kreuz und quer, glatte und spiralförmige. (...) Nach ein paar Wochen wurde Mutter dieser Drahtverhau zu dumm, (...) und sie benutzte die Antennendrähte aus Protest als Wäscheleine für die Windeln meines Schwesterchens. Vater bekam fast einen Tobsuchtsanfall als er das sah!" Nachdem der Vater der Schreiberin unter großem Aufwand eine Hochantenne gebaut hatte, entspannte sich die Situation wieder und auch die Empfangsmöglichkeiten hatten sich verbessert: „Mutter war zufrieden, dass ihr Zimmer von Drähten befreit wurde, und Vater strahlte ob seines Erfolges mit der Hochantenne und wir konnten Radio München empfangen, auch Frankfurt und Stuttgart konnten wir für damalige Verhältnisse recht gut empfangen."

Dynamik des privaten Radios am Beispiel „Amerika“

Anders als in Deutschland war in den USA das Radio Privatsache und es zeigt sich dort, welche Dynamik unter solchen Bedingungen möglich war. 1921 gab es dort bereits 35 Sender und 70.000 Empfänger. Seit 1925 entwickelte sich eine Kultur von Kurzform-Hörspielen in täglicher Serienform nach dem Vorbild der Zeitungsromane. „Amos ‚n’ Andy“ war das erste „Serial“ der US-Radiogeschichte, ein Slanghörspiel, das von der Immigration der Afroamerikaner erzählte – im Birmingham-Slang aus Alabama. Auch wenn es noch von zwei Weißen gesprochen wurde - auf jedem der Kanäle tönten andere Stimmen. Das US-amerikanische Radio spiegelte mit seiner Vielstimmigkeit die ethnische Vielfalt der Nation.

„Verhäuslichung“ des Radios im Nazi-Deutschland

Nach der Erfindung des elektrodynamischen Lautsprechers durch Oliver Lodge 1925 dauerte es nur wenige Jahre, bis die ganze Familie ohne Kopfhörer Radio hören konnte. 1933 gab es bereits vier Millionen angemeldete Radiobesitzer.  In der Weltwirtschaftskrise 1929 nutzte die Reichsregierung das Radio zur Bekanntgabe seiner Notverordnungen und „Berichte zur Lage der Nation“, unter dem Kabinett von Papen beendete  die Regierung die Unabhängigkeit des Radios: Eine tägliche „Stunde der Reichsregierung“ wurde zum Pflichtprogramm für alle Sender, liberale Intendanten wurden entlassen.
1933 übernahm dann der Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, das Radio, es wurde viel Marschmusik gespielt und viele Hitler-Reden übertragen - 1933 insgesamt 33. Goebbels notierte in seinem Tagebuch im Februar 1933, das Radio sei „ein Instrument der Massenpropaganda, das man in seiner Wirksamkeit heute noch gar nicht abschätzen kann. Jedenfalls haben unsere Gegner nichts damit anzufangen gewusst.“ Die Nationalsozialistenmachten das Radio zum Massenmedium. Wenige Monate nach der Machtergreifung Adolf Hitlers Ende wurde mit billigsten Materialien und einer auf das notwendigste reduzierten Technik der „Volksempfänger“ vorgestellt, ein einfaches Radio für 76 Mark. Er wurde zu dem Symbol der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie. Mit ihm konnte das Radio zu einem Nebenbei-Medium im Alltag werden – aber das neue Medium musste in starkem Maße die kulturellen Bedürfnisse der ZuhörerInnen anerkennten, wenn es Massenmedium werden wollte. Schon 1934 nahm Goebbels die Übertragung von Führerreden weitgehend aus dem Programm und verfügte die Berieselung mit „leichter Musik“ – diese Wortschöpfung stammt von ihm. Das Verbot der Jazz-Musik  war verbunden mit der Förderung deutscher Schlager.

Vom Kriegsbeginn 1939 an wurde der „Großdeutsche Rundfunk“ zur Information über den Verlauf der Kriegshandlungen genutzt, es gab militärische Sondermeldungen für die Bevölkerung und für die Truppe heitere Unterhaltungsmusik. Je länger der Krieg dauerte und je schlechter die Versorgungslage wurde, desto so mehr Unterhaltung kam in das Programm. In dem  „Wunschkonzert“, erstmals 1936 ausgestrahlt, durften sich nur noch Soldaten Lieder für ihre Angehörigen wünschen und diese auch grüßen. Das Programm verband die Musikwünsche mit Spendenaktionen. In der Hälfte seiner 190 Sendestunden einer Woche des Jahres 1944 sendete das Radio Unterhaltungsmusik und gemischte Unterhaltungssendungen, 32 Stunden waren für regelmäßige politische Informationssendungen vorgesehen, die klassische Musik nahm nur noch 24 Stunden ein. Der Schlager „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei“ wurde allerdings verboten. Das gemeinsame Singen von Weihnachtsliedern unter Zuschaltung aller Frontabschnitte, mit dem das NS-Radio das „Weihnachtswunder von 1914“ imitieren wollte, machte sich die seit 1940 technisch mögliche elektronische Klangaufzeichnung durch Magnettonband zunutze.

Brecht, Adorno - keine kritische Theorie zum Radio

Die Repräsentanten der Arbeiterbewegung hatten kein anderes Verständnis von dem neuen Medium als die Konservativen – sie kannten es nur als Propaganda-Instrument. Bert Brecht formulierte: „Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen. (...) Ein Mann, der was zu sagen hat und keine Zuhörer findet, ist schlimm daran. Noch schlimmer sind Zuhörer daran, die keinen finden, der ihnen etwas zu sagen hat.“ Der Hörfunk übertrage nichts Neues, sondern nur Vorhandenes.
Brechts vielzitierte „Radiotheorie“ (1930) blieb praktisch-politisch ohne Wirkung, da sie sich nicht auf die technischen Möglichkeiten seiner Zeit bezog: „Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.“ Damit, könnte man sagen, nahm Brecht prophetisch die digitale Kommunikation vorweg. An das vorhandene, vielfältigere und populärere amerikanische Radio seiner Zeit knüpften seine Überlegungen nicht an.

Der emigrierte Theodor W. Adorno hatte eine Stelle als „Musical Director“ im ersten großen Radioforschungsprojekt der USA, dem Princeton Radio Research Project, erhalten. Einer seiner ersten Expertisen sollte die „radio voice“ thematisieren. Für ihn verkörperte die Radiostimme die „der akustische und soziale Möglichkeit der Diktatur“. Das sei „natürlich ein großer Irrtum“ gewesen, urteilt der Radio-Theoretiker Wolfgang Hagen: Adornos fast 500-seitigee Theory of Radio „merkt man an, dass Adorno das Radio in den USA überhaupt nicht kannte“.

Nach der Kapitulation Deutschlands wurde der Rundfunk von den Alliierten übernommen unter Mitarbeit unverdächtiger Deutscher. Insbesondere die USA waren bestrebt, den deutschen Rundfunk zu dezentralisieren: In München, Frankfurt, Stuttgart, Bremen, Hamburg, Berlin und Bade-Baden entstanden Sendeanlagen unter alliierter Kontrolle. Der Inhalt der Programme war sollten zur „Re-Education“ des deutschen Volkes beitragen, es gab auch Musiksendungen und – erstmals im deutschen Rundfunk – auch die Übertragungen von politischem Kabarett.

Nach dem nach Vorbild der BBC wurden bis 1949 die Militärsender in Landessender des öffentlichen Rechts umgewandelt. Im Juni 1950 schlossen sich die Landesrundfunkanstalten zu „Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland“ (ARD) zusammen. In den Gremien des Senders hatten die Politiker die Mehrheit.

Die Radio-Stimme und das Potential des neuen Mediums

Über Sport-Live-Berichterstattungen gab es erste spontanere Sprechweisen im Radio, berühmt wurde der Ruf „Tooor“ in dem Fußballländerspiel Deutschland gegen Italien im Jahr 1930. Es gab erste Beispiele eines dialogischen Sprechens, das erst aus dem „Befehlsmedium“ der Zeit des ersten Weltkrieges ein Unterhaltungsmedium machte. Eine an das mündliche angelehnte Radio-Stimme sprach seine ZuhörerInnen im Plauderton an.

Der in die USA emigrierten deutschen Wissenschaftler Paul Lazarsfeld und Karl Bühler begrüdneten dort in den 1930er-Jahren eine Hörerforschung, die danach fragte, wie die Radiostimmen der Sprecher emotional und kognitiv „ankommen“ und bewertet werden.

Als technische Neuerung kam aus den USA mit der Halbleitertechnik: 1956 kamen die Transistorradios auch in Deutschland auf den Markt und verdrängten innerhalb kürzester Zeit die größeren Röhren-Radiogeräte. Während die Musikindustrie das Medium Radio für ihre Verkaufszwecke entdeckte, verdrängte das Fernsehen als neues audio-visuelles Medium den Hörfunk. Wieder waren die USA Trendsetter der Entwicklung: Die Radiostationen spielen hauptsächlich Musik ab, nur selten unterbrochen durch Sprechstimmen. In dem öffentlich-rechtlichen System Deutschland setzte sich dieser Trend erst mit der Zulassung privater Radioprogramme in den 1980er Jahren durch. Zeitgleich protestierten sog. „Piratenradios“ gegen das Rundfunk-Monopol – auf hoher See außerhalb der sieben Meilen-Zone sendeten sie von Schiffen aus oder die Atomkraft-Gegner von Wyhl hatten ihre Sendeanlagen im Rucksack bei Wanderungen über die elsässischen Höhenrücken jenseits der Grenze dabei.

Das deutsche Bildungsbürgertum hatte das Medium als Bildungs- und Kulturmedium gegründet, unter dem Druck der Einschaltquoten wurde es zum Massenmedium, das wenig Aufmerksamkeit beansprucht und beim Autofahren und anderen Beschäftigungen „nebenbei“ läuft. Die Nutzer sind unbeeindruckt von dem Verdikt, dass es dadurch zu einem Stück „Kulturindustrie“ geworden ist und nur dazu dient, dass „wir uns zu Tode amüsieren“(Neil Postman) können. 

Im Schatten des Fernsehens - das Radio als Medium einer rebellischen Popularkultur

Man kann mit dem Massenkultur-Forscher Kaspar Maase die Durchsetzung der Populärkultur auch anders begreifen. Die englische Musik, die der Militärsender AFN verbreitete, und der Jazz sind nicht von ihrer musikalischen Qualität her „politisch“, sondern im sozialgeschichtlichen Kontext. Da die gebildeten Eliten auch nach der „Befreiung“ durch US-Armee, die schwarze Soldaten demonstrativ integriert hatte, nahezu alles ablehnten, was aus den USA kam, konnte der Jazz und die Lässigkeit zum Inbegriff von  Rebellion werden – es ging um ein Gegenmodell zum soldatisch zackigen Habitus. Schon der „Toast Hawaii“ versprach unbekannte Genüsse.

In einer Kultur, in der die Tanzschulausbildung quasi zum pädagogischen Pflichtprogramm in der Pubertät galt und in der „Musik machen“ eine mehrjährige disziplinierende Ausbildung in der Technik zur Voraussetzung hatte, verkörperten Popmusik und Jazz einen rebellischen Lebensstil. Dadurch war diese Musik in diesem Kontext ein demokratisches und egalitäres Kultur-Angebot. Diese populäre Musik war laut und schrill und „schmutzig“ in  ihrer Intonation, sie sprach aller handwerklichen Gediegenheit Hohn.  Für ihre Akteure ging es schlicht um das Vergnügen und nicht um das kulturell vorzeigbare Werk. Beim freien Tanz – schon früh nach dem englischen Wort „hoppen“ genannt – ging es um die reine Freude ab Körper ohne die Zwang zur Form und Schrittfolge.die Musik lud alle ein zum mitsingen und „mitswingen“ unter Missachtung jeglichen musikalischen Feinsinns. Die populäre Massenkultur griff das Versprechen des „Wohlstands für alle“ auf und interpretiert es im Sinne einer eigensinnigen Jugendkultur:  Wohlstand bedeutet nicht mehr vorrangig Karriere, eigenes Haus mit Garten, distinguierende Kleidung, eigenes Auto, Swimmingpool-Pool und Reitpferd. Der Protest-Habitus, extrem vorgelebt in der Hippie-Kultur, verzichtete demonstrativ auf alle derartigen Objekte des „feinen Unterschieds“, die dem Bildungsbürgertum wichtig waren. Es war ein Kulturangebot für Aussteiger - ein Hedonismus für die Habenichtse ohne die Statussymbole des Besitzes. Mit der Ablehnung des „Muffs von tausend Jahren” wur das, was die Jugendlichen empfunden haben, Jahre danach - 1968 - politisch interpretiert.

Die Popularkultur verschob die kulturelle Machtbalance,  „Untergeordnete … verweigern Verhaltensweisen, die von den Übergeordneten als Ausdruck von Respekt und Gehorsam erwartet“ wurden (Maase). Die alte elitäre Kultur konnte die neuen Massenmedien letztlich nicht beherrschen, die Ökonomie der Massenmedien begünstigt Popularkultur.

      zum Medium Stimme siehe MG-Link

      zum Radio:
      Radiorevolution  MG-Link
      Rebellisches Radio und rebellischen Popularkultur der 1950er  MG-Link
       

Literaturhinweise:

    Sabine Berzinski, Musik und Modernisierung im Nationalsozialismus?
      Eine soziologische Kategorie und Entwicklungen im deutschen Schlager 1933–45 (2000)
    Florian Cebulla
    , Rundfunk und ländliche Gesellschaft 1924–1945  (2004)
    Kathrin Fahlenbrach, Medien des Sprechens und Hörens, in: Medien, Geschichte und Wahrnehmung (2019) 
    Jörn Glasenapp, Von Amputationen, Träumen und Autopannen. Einige alte und neue Überlegungen zum
      Hörspiel und Radio der fünfziger Jahre in: Faulstich (Hg), Die Kultur der 50er Jahre (2002)
    Wolfgang Hagen, Körperlose Wesenheiten. Über die Resonanz der Radio-Stimme. (Vortrag 2006)
    Kaspar Maase, Populärkultur, Jugend und Demokratisierung – Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg,
      in: Dietmar Hüser (Hg.) Populärkultur transnational (2017)
    Inge Marszolek und Adelheid von Saldern, Mediale Durchdringung des deutschen Alltags. Radio in drei politischen Systemen (1930er bis 1960er Jahre) in: Daniel u.a.(Hg.) Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts (2010)   
    Monika Pater, Ufa C. Schmidt, „Vom Kellerloch bis hoch zur Mansard' ist alles drin vernarrt" –
      Zur Veralltäglichung des Radios im Deutschland der 1930er Jahre,
      in: Röser (Hg) MedienAlltag. Domestizierungsprozesse alter und neuer Medien (2008)
    Michael Reuter, Telekommunikation. Aus der Geschichte in die Zukunft (1990)
    Rainer Maria Rilke, Ur-Geräusch. Biografische Anmerkungen (1919)   
    zeno-Link