Klaus Wolschner               Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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Links zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

aus: Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis

Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (1999)
Abschnitte aus Kapitel 5 (Seiten 196-228)


Israel und die Erfindung der
monotheistischen Schrift-Religion

(…)
Der amerikanische Althistoriker Morton Smith hat 1971 den Gedanken vorgetragen, dass nicht der Staat, sondern eine anfänglich kleine Gruppe von Dissidenten, die Jahwe-allein-Bewegung, die Trägerin der monotheistischen Religion gewesen sei.17 Die Frühzeit Israels, von den Anfängen bis weit ins 7. Jahrhundert hinein, hat man sich als polytheistisch, und zwar im Sinne eines Staats-„Summodeismus" 18 vorzustellen. Jahwe ist Staatsgott, wie Assur in Assyrien, Marduk in Babylonien, Amun-Re in Ägypten, aber er wird nicht exklusiv verehrt, sondern als Oberhaupt eines Pantheons. Das kulturelle Leben ist gegenüber der kanaanäischen Umwelt offen, Heiraten mit Midianitern, Moabitern, Gibeonitern, sogar Ägyptern (Salomo) usw. sind gang und gäbe, Baalskulte blühen überall im Lande. Die Religion Israels ist lediglich eine regionale Variante gemein-vorderorientalischer Kulte und Vorstellungen. Die ersten Anzeichen eines Wandels kündigen sich im 9. Jahrhundert an. Unter dem König Asa (gest. um 875) scheint es zu einer puritanischen Kultreform gekommen zu sein, die sich unter seinem Sohn Jehoshaphat und dem Propheten Elija mit der Verfolgung der Baalspriester fortsetzt. Hier liegen die Anfänge der „Jahwe-allein-Bewegung", die aber in den folgenden Jahrhunderten immer wieder gegen die weiterlebenden bzw. wiedererstarkenden Baalskulte und die polytheistische Kultpraxis anzukämpfen hat. Von der Existenz und Stärke dieser Praxis legt allein der erbitterte Kampf Zeugnis ab, den die „Jahwe-allein-Bewegung" gegen sie zu führen hatte. Denn die Überlieferung ist natürlich nach dem Sieg dieser Partei rückwirkend vereinseitigt worden, so daß uns die polytheistisch-synkretistische Kultur Altisraels nur im Negativabdruck ihrer Gegner erhalten blieb (ähnlich wie die heidnischen Religionen in der - allerdings sehr viel sorgfältiger bewahrenden - Kritik der Kirchenväter). Was die Texte als den unaufhörlichen Konflikt des notorisch abtrünnigen und vergesslichen Volkes Israel mit den Forderungen seiner eigenen Religion darstellen, hat sich in der historischen Wirklichkeit als der Konflikt einer monotheistischen Minderheit mit der polytheistisch-synkretistischen Mehrheit abgespielt. Auch diese Mehrheit, um es noch einmal klarzustellen, war Jahwe-gläubig. Das Königshaus hatte sich zweifellos zum besonderen Patron des Jahwe-Kults gemacht. Aber ihnen galt Jahwe als der höchste, nicht als der einzige Gott. Und schon dies wird von den Propheten als Apostasie angeklagt.

(Abschnitt aus S. 202-203)

(…)
Aus diesem jahrhundertelangen Ringen entsteht etwas weltgeschichtlich Neues, nämlich „Religion" im eigentlichen Sinne einer ausdifferenzierten Wert-, Sinn- und Handlungssphäre, die begrifflich scharf abgesondert ist gegen die Bereiche der Kultur und der Politik. Diese Ausdifferenzierung ist in der Tat nur erklärbar, wenn man sie aus der begrifflichen Sphäre in die Sphäre der sozialen Wirklichkeit rückübersetzt und als Differenzen zwischen Gruppen interpretiert, das heißt: als die Selbstabgrenzung oder Sezession einer dissidenten Gruppe aus dem Ganzen der Gesellschaft. Dabei ist der in unserem Zusammenhang entscheidende Punkt die Denunziation der von dieser Gesellschaft getragenen Kultur als „fremd". Zu „Verus Israel" gehört nur, wer die monotheistischen Überzeugungen dieser Gruppe teilt. Auf diese Weise entsteht Religion im Kontext von - und in Abgrenzung gegen - Kultur, und zwar nicht die fremde, sondern die eigene Kultur, die als entfremdet, abtrünnig, vergesslich  gebrandmarkt wird.

Diese Grenze, die hier errichtet wird zwischen der inklusiven, assimilatorischen „Kultur" und der exklusiven, auf die Idee der Reinheit eingeschworenen Religion, findet ihren symbolischen Ausdruck in der „ehernen Mauer", die jetzt gezogen wird um
1. die Identität und
2. die Überlieferungen jener Gruppe, die sich als das wahre Israel versteht.
Der Vorgang hat einen typischen Aspekt, der sich auch in Mesopotamien und Ägypten - und auch sonst immer wieder – beobachten lässt. Die Konfrontation mit einer als überlegen oder sonst wie bedrohlich empfundenen Kultur führt auch hier dazu, dass ein Zaun gezogen wird um die Überlieferung und damit um die Identität. Aber weder in Mesopotamien noch in Ägypten kommt es zu inneren Spaltungen.
Und was in der Abgrenzung gegen die fremde Kultur als das Eigene aufgestellt wird, umfasst doch immer Religion und Kultur als ungeschiedene Einheit. In Israel dagegen kommt es, und dieser Aspekt des Vorgangs ist bis dahin einzigartig, zu einer Abgrenzung gegen die eigene Kultur und dadurch zu einer Dissoziation von Religion, Kultur und politischer Herrschaft. 19 Diese Dissoziation ist entscheidend, und sie ist es, die in der Erinnerungsfigur des Exodus-Geschehens symbolisiert wird. Mit der Auswanderung aus Ägypten geht es um die Auswanderung aus jeder Art von profaner, unreiner, oppressiver, assimilatorischer, gottesvergessener Umwelt und damit: aus der „Welt" überhaupt. Damit ist die Grenze zwischen dem „Weltlichen" und dem „Geistlichen" präfiguriert, die für den neuen Typus von Religion konstitutiv ist.
In einer Welt, die den Unterschied zwischen „Religion" und „Kultur" nicht kennt, ist das kulturelle Leben in allen Bereichen in einer für uns schwer vorstellbaren Weise religiös durchgeformt, so dass jedes Geschäft, jede Art von Kommunikation praktisch, entweder explizit oder implizit, mit der Anerkennung irgendwelcher diesem Tätigkeitsbereich vorstehender Götter verbunden ist. Eine Gruppe, die darauf besteht, nur einen einzigen Gott anzuerkennen, sondert sich aus der Kommunikationsgemeinschaft aus und konstituiert sich als ein eigenes Volk, dem beizutreten nicht mehr Sache der Einwanderung, Einheirat oder sonstiger eingebürgerter Formen der Erwerbung von Zugehörigkeit ist, sondern eine Sache von „Konversion". 20 Das „sema Jisrael" wird zum Bekenntnis einer Identität, für die man auch zu sterben bereit sein muss. 21 Konversion, Bekenntnis und Martyrium gehören zusammen als Begleiterscheinungen der „ehernen Mauer", mit der dieses neue Volk sich von seiner Umgebung absondert, und jenes Typus von Religion, der sich hier als eine vollkommen neue Form von Sinn- und Identitätsverfestigung herauszukristallisieren beginnt.
Diese Mauer wäre nicht so hoch, die Grenze nicht so scharf gezogen, wenn sie nicht innerhalb der eigenen Kultur verliefe. Denn die so ausgegrenzte Lebensform muss sich gegen die selbstverständliche Alltagsroutine durchsetzen. Daher wird sie auf die Basis einer elaborierten Gesetzgebung gestellt, der jede Selbstverständlichkeit abgeht. Wer nach diesen Gesetzen lebt, vergisst keinen Augenblick, wer er ist und wohin er gehört. Diese Lebensform ist so schwierig, dass sie nur in der Form unaufhörlichen Lernens und Bewussthaltens realisiert werden kann. Es handelt sich im Grunde um eine professionelle Kunst, die sonst nur Spezialisten obliegt, die sich um nichts anderes zu kümmern haben, nämlich um ein Repertoire hochkomplexer priesterlicher Tabus und Reinheitsvorschriften. Diese werden jetzt zum Kernbestand einer allgemeinen Gesetzgebung. Damit wird das auch sonst, und gerade in Ägypten, beobachtbare Prinzip der priesterlichen Absonderung auf das „Volk" übertragen: „denn du bist ein dem Herrn, deinem Gott, geweihtes Volk ". 22
Durch das babylonische Exil wurde nun diese Gruppe aus ihrem kulturellen Kontext herausgelöst, mit dem sie über Jahrhunderte in schwerstem Konflikt gelegen hatte, und formierte sich in Babylon als Exilsgemeinde („golah") in nun wirklich fremdem kulturellem Kontext, abgetrennt vom heimatlichen Königtum und Opferkult und damit von jeder religiösen Deutungskonkurrenz. In dieser Gruppe konnten sich die Anschauungen der „Jahwe-allein-Bewegung" umso mehr durchsetzen, als die Ereignisse ihre Unheilsprophezeiungen voll und ganz bestätigt hatten. Die Mauer um Überlieferung und Identität hier erstmals als Schutzwall, so dass diese als einzige der zahllosen von den Assyrern und Babyloniern deportierten Volksgruppen ihre Identität über so Jahre bewahren und nach dem Machtwechsel 537 nach Palästina zurückkehren konnte.

(Abschnitt aus S. 204-207)

(…)
Die Juden haben in der Not des Babylonischen Exils die Fundamente einer kulturellen Mnemotechnik gelegt, die in der Menschheitsgeschichte beispiellos dasteht. Das besondere und „artefizielle" dieser Erinnerungskunst liegt darin, dass sie eine Erinnerung festhält, die in den Bezugsrahmen der jeweiligen Wirklichkeit nicht nur keine Bestätigung findet, sondern zu ihr in krassestem Widerspruch steht: die Wüste im Gegensatz zum Gelobten Land, Jerusalem im Gegensatz zu Babylon. Mit Hilfe dieser Mnemotechnik haben die Juden es verstanden, über fast zweitausend Jahre hinweg, in alle Weltgegenden verstreut, die Erinnerung an ein Land und an eine Lebensform, die zu ihrer jeweiligen Gegenwart in schärfstem Widerspruch standen, als Hoffnung lebendig zu erhalten: „Dieses Jahr Knechte, nächstes Jahr Freie, dieses Jahr hier, nächstes Jahr in Jerusalem."
Solche utopische Erinnerung, die in keinen Bezugsrahmen jeweiliger Gegenwartserfahrungen Anhalt und Stütze findet, nennen wir, mit einem glücklichen Ausdruck G.Theißens (1988) „kontrapräsentisch". Obwohl es sich bei der im Deuteronomium fundierten kulturellen Mnemotechnik um ein sehr spezifisches und nur aus den besonderen historischen Bedingtheiten Israels erklärbares Phänomen handelt, läßt sich das Prinzip der kontrapräsentischen Erinnerung doch verallgemeinern. Im Judentum ist etwas zur höchsten Steigerung entfaltet, was sich auch sonst findet. In jeder Gesellschaft gibt es „anachrone Strukturen" (Erdheim 1988), Institutionen, die weniger dem Fortschritt als der Bewahrung verpflichtet sind. Die Religion bildet den typischen Fall einer solchen anachronen Struktur.
Innerhalb der Kultur, die das Heute gestaltet, hält sie das Gestern gegenwärtig, das nicht vergessen werden darf. Ihre „Funktion ist es, durch Erinnern, Vergegenwärtigen und Wiederholen Ungleichzeitiges zu vermitteln" (Cancik/Mohr 1990, 311). Rück-Bindung, Erinnerung, bewahrendes Gedenken ist der Ur-Akt der Religion. 63  Das Deuteronomium hat diese Struktur narrativ entfaltet und zu einer bildkräftigen Erinnerungsfigur gehärtet. Das Leben geht ebensowenig im Heute auf, wie der Mensch „vom Brot allein" lebt (Dt. 8.3). Religion in dem vom Deuteronomium erstmals entworfenen und dann zum Maßstab aller späteren Religionen gewordenen Sinne heißt, an einer Bindung festhalten, die unter völlig anderen, extremen Bedingungen eingegangen wurde, auch wenn sie in den Bedingungen der Gegenwart keinerlei Bestätigung findet.

(Abschnitt aus S. 227-228)

 

    Fußnoten  zu den Textabschnitten:

    17 M. Smith 1971. Der Ansatz wurde aufgegriffen und weitergeführt u. a. von B. Lang 1981; 1983; 1986; ferner F. Crüsemann 1987; M. Weippert 1990.
    18 Diesen Begriff hat E. Voegelin (1956) geprägt, und zwar in Bezug auf die Reichsgott-Verehrung der frühen Hochkulturen.
    19 Man könnte sich fragen, ob nicht auch die monotheistische Reform Echnatons sich gegen die eigene Kultur gestellt und dadurch zu einer vergleichbaren Struktur geführt hat. Möglicherweise hätte sich in der Tat, wenn diese Reform außerhalb des sie tragenden Königshauses eine Anhängerschaft und dadurch nach der Wiedereinführung der alten Kulte in einer dissidenten „Aton-allein-Bewegung" eine Fortsetzung gefunden hätte, eine vergleichbare religiös definierte Identität im Rahmen der eigenen Kultur und gegen sie ausbilden können.  Dies war aber nicht der Fall.
    20 Ich paraphrasiere mit diesen Sätzen M. Smith 1971, 30: „any group which insisted on worshiping only one god thereby made themselves a peculiar people ( . . . ) and made the joining of their group a matter of conversion, not mere adherence."
    21 In den jüdischen Bibeln und Gebetbüchern ergeben die durch Großdruck hervorgehobenen letzten Buchstaben des ersten und des letzten Wortes dieser Formel (das Ajin von sema „höre" und das Daleth von echad „Einer") das Wort „ed" „Zeuge" = martys als Kennzeichnung einer Wahrheit, die durch den Tod bezeugt wird vgl. S. 118. Vgl. auch den Abschnitt „Sterben für die patrioi nomoi" in: H. G. Kippenberg 1986.
    22 Dt 14.2.; 14.2.1; sowie vor allem das „Heiligkeitsgesetz" Lev. 19 ff. und Ex. 19.6; cf. F L Hossfeld, in: Schreiner 1987, 113-141.

    63 Zur Problematik der Etymologie von „religio" (von „religere", „sorgfältig beachten", oder von „re-ligari" „sich-rückbinden") s. H. Zirker 1986. Die entscheidende Komponente bleibt in jedem Falle das Präfix re-, „Rück-". Vgl. H.J. Fabry 1988.