Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

Über den Autor

www.medien-gesellschaft.de


zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

COVER AS

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen: Augensinn, Bildmagie
 

ISBN 978-3-7418-5475-0

Cover VR

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges


ISBN 978-3-7375-8922-2

Cover POP1

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt

ISBN
: 978-3-756511-58-7

Cover GG

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne

ISBN 978-3-746756-36-3

 

Cover WI

Neue Medien,
neue Techniken des
Selbst:
Unser digitales Wir-Ich

ISBN: 978-3-754968-81-9

 

Stichworte zu


Basil Bernard Bernstein
  
- wie Schule Schrift-Sprache macht

(Soziolinguist, 1924 in London geboren, dort 2000 gestorben)
 
Als Sohn einer jüdischen Einwandererfamilie wuchs Bernstein im Londoner East End auf. Nach dem Krieg 1945 begann er in Stepney in den berühmten Boys' Clubs der Siedlung zu arbeiten, die sich an unterprivilegierte jüdische Kinder im Alter zwischen neun und 18 Jahren richteten.
Dort fiel ihm auf, wie wenig die „elaborierten Sprachcodes" der Pädagogen aus der Mittelklasse die Kinder mit ihren „eingeschränkten Sprachcodes" erreichen konnten.  1947 ging Bernstein an die London School of Economics. Der Höhepunkt seiner Karriere war die Tätigkeit als Karl-Mannheim-Professor für Soziologie im Bildungswesen an der Universität London.

Er veröffentlichte Arbeiten über die sozialen Hindernisse für das Lernen und die Rolle der Kommunikation bei der Verfestigung der Klassenstrukturen. Nach Bernstein verinnerlicht das Individuum mit dem Erlernen und Anwenden von Sprache auch die Bewusstseins- und Verhaltensschemata derjenigen Subkultur, in der seine Sprache gesprochen wird. Er untersuchte soziolinguistischen Sprachkodes, deren Grundlagen in den familiären  Sozialisationsbedingungen  gelegt werden. Seine Arbeit hatte einen großen Einfluss auf die Reformen der Bildungspraxis. 

1958 veröffentlichte er im British Journal of Sociology  einen Aufsatz mit dem Titel: „Some sociological determinants of perception: an enquiry into sub-cultural differences“. In mehreren weiteren Schriften entwickelte er seine soziolinguistische Sprach-Theorie.

Einen „restringierten Code“ sprechen danach bildungsferne Schichten. So bezeichnete er einen Sprachgebrauch, der gekennzeichnet ist durch

  • kurze, grammatikalisch einfache, häufig unvollständige Sätze
  • eine begrenzte Anzahl von Adjektiven und Adverbien
  • einen begrenzten Wortschatz und Wort-Wiederholungen
  • die Verwendung von Sprichwörtern.

Typisch sei zudem eine unpersönliche Sprechweise und eine Tendenz zu einer mehr abbildenden, konkreten Beschreibung. Wenn Nebensätze konstruiert wurden, so handelte es sich um Ergänzungen des Hauptsatzes, die mit „und“ angefügt werden.
Wie bei der Unterscheidung zwischen oralen Sprachcodes und der Schriftsprache unterstellt der „restringierte Code“ vielfach, dass die Zuhörer wissen oder sehen, worum es geht und dass es eine große Menge geteilten Wissens gibt. Diese Erwartung geteilten Wissens wird artikuliert durch Wendungen und Floskeln der kommunikativen Verstärkungen wie „Kannst dir eh vorstellen, oder?“, „Weißt du?“ oder „nicht wahr".

Als bildungsbürgerlichen „elaborierten Code“ bezeichnete Bernstein dagegen einen Sprachgebrauch, der sich durch einen sehr umfangreichen Wortschatz, vollständige und grammatisch korrekte Sätze auszeichnet. Er ist sachlich orientiert, oft emotionslos. Es ist ein Sprachgebrauch, der sich, ggf. im „lesenden” Elternhaus vorbereitet, dann vor allem mit dem Schreiben-Lernen in der Schule entwickelt. Der elaborierte Code ermöglicht präzise Kommunikation dort, wo es kein geteiltes Wissen gibt und braucht dazu eine komplexere Grammatik und einen umfangreicheren Wortschatz, Verwendung von Konjunktionen, Präpositionen und Nebensatz-Konstruktionen. 
Beispiel: „Warum sehen Sie mich so sonderbar an?“ (elaboriert);
„Is was?“ oder „Was guckst du?“ (restringiert)

Die frühkindliche Sprachbildung ist erforderlich für die Herausbildung kognitiven Fähigkeiten und führt zu besseren sozialen oder beruflichen Chancen. Kinder, die den elaborierten Code beherrschen, haben eine größere Fähigkeit, in ihren Wahrnehmungsstrategien Beziehungen differenziert zu erfassen und darzustellen.
Situationsbedingt benutzen auch höher gebildete Menschen den restringierten Code benutzen, insbesondere im vertrauten Freundeskreis oder in der Familie. Bei niedrigem Sprachbildungs-Niveau ist auch das Leseverständnis geringer.

Ein Kind, das mit einem restringierten Sprachcode aufgewachsen ist, fällt es schwerer, dem Unterricht in elaborierter Sprache zu folgen. Es muss die elaborierten Sätze der Lehrpersonen zunächst in seine Sprache übersetzen, bevor es den Inhalt erfassen kann. Zwischen der Erziehung im Elternhaus und Schule kann ein Bruch entstehen. Diese Schüler müssen ihren „elaborierten“ Altersgenossen intellektuell überlegen sein, wenn sie dieselbe Bewertung erfahren wollen.

Nach dem kritischen Einwand von anderen Linguisten präzisierte Bernstein seinen Ansatz und erklärte, die Sprache der Unterschichten sei nicht schlechter (defizitär), sondern nur anders: „Ein restringierter Code enthält ein riesiges Potential von Bedeutungen. Er stellt eine Form von Sprache (form of speech) dar, die eine auf Gemeinschaft gegründete Kultur symbolisiert. Er hat seine eigene Ästhetik. Er sollte nicht abgewertet werden.“ (Basil Bernstein, Ein sozio-linguistischer Ansatz zur Sozialisation, 1973)

Vom der oralen Sprache („Mundart“) zur literalen Sprache (Schrift-Sprache)

In der mündlichen Sprache, die kleine Kinder erlernen, gibt es keine prinzipiellen Wortgrenzen. Die Lautfolge ist ein Kontinuum „ohne Punkt und Komma“ und stark mit Gestik und Mimik verbunden. Beim Vorlesen erfährt das Kind nur, dass das Sprechen der Mutter irgendeinen Bezug auf geheimnisvolle symbolische Zeichen hat.

Wie in der Antike sind erste Schreiberfahrungen bei Kindern oft Lautketten ohne Lücken, da Worte und Wortgrenzen erst in der Auseinandersetzung mit Schrift erfasst werden.

Wenn Kinder in frühem Alter Schrifterfahrungen machen, dann in dem Sinne, dass sie einzelne Buchstaben gezeigt bekommen mit einem dazugehörigen Laut. Die erste Zweilaut-Schrifterfahrung bezieht sich oft auf den eigenen Namen.

Der Übergang vom Sprechen zur Entzifferung von Schriftzeichen und zum Schreiben stellt erhebliche Anforderungen an die sprachlich-kognitiven Fähigkeiten von Kindern.

Sprechen ohne Gesprächs-Partner macht keinen Sinn, Schrift ist dagegen ein anonymes Kommunikationsmedium. Schreibende richten sich an vorgestellte Gesprächspartner, Lesende erhalten keine Hinweise für das Verstehen durch körperliche Ausdrucksmittel, Gestik, Mimik oder Intonation. Lernende müssen Beziehungen zwischen der Laut- und Schriftstruktur begreifen, die sich nicht aus den jeweiligen Wortbedeutungen erklären lassen.

Leseunkundige verstehen nicht den Sinn des Satzes „Lass den ersten Teil von (dem Wort) Opa weg“. Schulkinder müssen sich schrittweise das System der Schrift aneignen. Sie müssen lernen, dass „Affe“ und „Auto“ mit demselben Vokal beginnen wie „Eichhörnchen“ und „Esel“, obwohl die Laut-Anfänge deutlich anders sind. Kinder bezeichnen zu Beginn des Spracherwerbs alle runden Gegenstände als „Ball“.

Erst die Schrift macht Sprache zum Gegenstand der Betrachtung, sie reißt die Sprachlaute aus ihrer Personen- und Situationsgebundenheit und eröffnet damit ganz neue kognitive Möglichkeiten. Schriftkundige können ihre Sprache auch außerhalb von Kommunikationssituationen benutzen. Schriftsprachliche Kommunikation muss daher deutlich präziser sein als lautsprachliche.

Menschen ohne Schriftkenntnisse fehlt die Fähigkeit, über formale Aspekte der Sprache nachzudenken sowie abstrakte Begriffe zu bilden. Der russische russische Psychoanalytiker und Neurologe Alexander Lurija (1902-1977) hat schriftunkundigen Bauern geometrische Figuren vorgelegt. Sie sahen darin einen „Teller“, eine „Münze“ oder den „Mond“, nicht einen „Kreis“ oder ein „Rechteck“. Die von ihnen gewählten Bezeichnungen verwiesen auf ihre persönliche Erfahrungswelt, für sie ist  „meine Frau“ eine sprachliche Einheit.

Während die mündliche Sprache gedankenlos die Laute auf die Gegenstände bezieht, „Stange“ also selbstverständlich etwas ganz anderes ist als „Wange“, müssen sich Kinder in der Schule bewusst machen, dass das Schriftbild von Wörtern ganz ähnlich sein kann, auch wenn die bezeichneten Gegenstände nichts miteinander zu tun haben. Was sich da reimt, sind abstrakt Buchstabenfolgen. Dass Kühe groß und Rotkehlchen klein sind, wissen Kinder im Vorschulalter, dass Wort „Kuh“ ein kurzes Wort isst, obwohl das Tier groß ist, wird beim Schriftsprachenerwerb bewusst. Dass das große komplizierte Wort Rotkehlchen ein ein kleines Tier symbolisiert, fällt beim Schreiben-lernen auf. Schriftkundige Menschen müssen ihre Sprachlaute nach Bedeutungs- und Klang-Aspekten trennen.

In der Auseinandersetzung mit der geschriebenen Sprache entwickelt sich die mündliche Sprache weiter. Das Mündliche wird zu einer literalen Sprache. Die Buchstaben werden nicht mehr als Repräsentanten von Lauten wahrgenommen, sondern umgekehrt werden die Laute als Klänge von Buchstaben bewusst. Schriftkundige nehmen ihre mündliche Sprache über den Filter der Schrift wahr. Es scheint selbstverständlich, dass „Auto“ mit „A“ beginnt und nicht mit „Au“. Und es scheint plötzlich selbstverständlich, dass es bei Sprechen Kleine Pausen geben muss, weil da ein Komma oder Punkt steht. Wenn die grammatikalischen Strukturen kompliziert werden und wie selbstverständlich abstrakten Begriffe eingeflochten werde, haben ungeübte Leser Probleme, dem mündlichen Vorträgen zu folgen.

Die Verschriftlichung der gesprochenen Sprache, die Kindern inzwischen vor der Schule entgegenschlägt und sdie sie in wenigen Schuljahren erlernen müssen, hat in der Geschichte der Schriftkultur Jahrhunderte gedauert.

Der eigentliche „Wagenheber” der Schriftsprache

Während der ursprüngliche Sprachbildungsprozess eng an die Interaktion in der sozialen Gemeinschaft gebunden und in sie eingebettet ist, wird für ein Sprachlernen ganz neuer Art die Institution „Schule“ von der Lebensgemeinschaft abgekoppelt. In der „Schule“  - und damit sind schon die frühen Kloster- und Philosophen-Schulen gemeint - kommt es zu einer planmäßigen Verselbständigung des Sprechens gegenüber dem Alltagsleben und dem sprachlichen Alltagshandeln. Der Bildungsgang der Schule entfernt sich systematisch von der unmittelbaren, mündlichen „Muttersprach“-Verwendung. Die Bildungssprache verlässt den überschaubaren Nahraum, in dem Sprachhandlungen an Zeigehandlungen geknüpft werden konnten, und eröffnet dem menschlichen Geist einen abstrakten „Fernraum“. Diese schulisch „gebildete“, elaborierte Sprache lässt sich nicht hinreichend auf geteilte Wahrnehmungen und Intentionen und die vis-a-vis-Kommunikation beziehen, sondern verselbständigt sich und erschließt geistigen Welten von einer eigenständigen symbolischen Qualität - die Welt der „Un-Dinge“.

In der Schule lernen heißt an toten Texten lernen, nicht mehr in einer Gemeinschaft lebendiger Menschen kommunizieren, sondern mit einem Kanon an historisch gewachsenen und kulturell geteilten Wissen. Dieses Wissen ist zeitlos und ortlos „da“ und ein neuer Mensch erwirbt die Schrift-Sprache, um ihn sich zu erschließen – oder eben nicht.

Die Formung der Schriftsprache in der Institution Schule könnte man in Ergänzung von Michael Tomasello als den eigentlichen „Wagenhebereffekt“ der Sprachentwicklung verstehen - erst über die Schrift-Sprache erschließt sich der in der Schrift-Kultur akkumulierte Wissens-Schatz.

(dazu vgl. Raphael Mollenhauer, Tomasellos Kooperationsmodell. Michael Tomasellos Forschung im Kontext kommunikationstheoretischer Fragestellungen, 2017, S. 217ff)  sowie
 Karl-Heinz Braun, Entwicklungspädagogische Theorien (2018), Abschnitt 5: „Mündliche Kommunikation“, S. 111ff

 

s.a. meinen Text über die Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache MG-Link
Und das Potential des Mediums Schrift  MG-Link