Klaus Wolschner         Texte zur Geschichte und Theorie von Medien & Gesellschaft

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zu den Abschnitten

I
Medien-
Geschichte

 

2 AS Cover

Wie wir wahrnehmen,
was wir sehen
ISBN 978-3-7418-5475-0

2 VR Titel

Über die Mediengeschichte der Schriftkultur und ihre Bedeutung für die
menschliche
Wirklichkeits-Konstruktion im  Jahrhundert des Auges
ISBN 978-3-7375-8922-2
 

POP 55

Über traditionelle Herrschafts-Kommunikation
und neue Formen der Medien-Demokratie:
Wenn der Pöbel
online kommt
ISBN: 978-3-752948-72-1
 

2 GG Titel

Über religiöse Körpergefühle und die kommunikative Kraft
der großen Götter von Christentum, Islam und Moderne
ISBN 978-3-746756-36-3
 

 

Die Tradition der Lesekultur
 im Oströmischen Reich

oder: Die Vernichtung der antiken Kultur im christlich-lateinischen Raum war
nicht alternativlos

 

In ihrem Buch „Die Welt des Lesens” haben Guglielmo Cavallo und Roger Chartier 
mit Verwunderung auf das Beispiel Byzanz verwiesen:

„Vor allem gilt es, die zentrale Stellung zu betonen, die das Buch in Byzanz behielt. ‚Sag mir bitte, wie und wann wird das Ende dieser Welt kommen?’ fragt Epiphanios seinen Lehrer, den heiligen Andreas den Narren und fährt fort: ‚Welche Zeichen werden anzeigen, dass die Zeiten erfüllt sind, wie wird unsere Stadt vergehen, das neue Jerusalem? Was wird aus (...) den Büchern?’
 Mehr vielleicht als jedes andere führt dieses Zeugnis das Buch als Objekt und Instrument der Kultur von Byzanz vor. Hier blieb im Übrigen das ganze Mittelalter (1) hindurch sowohl auf niedriger als auch auf höherer Stufe ein öffentlicher und privater Unterricht lebendig. Das Lese- und Schreibvermögen, das durch die Kontinuität einer im Zentrum wie in der Peripherie vorhandenen Bürokratie gefördert wurde, nahm in der weltlichen Gesellschaft nie ab, und gewöhnlich hatte, wer in religiöse Einrichtungen ging, früher und außerhalb davon lesen und schreiben gelernt. Es hielten sich Lesekreise und Privatbibliotheken; das Buch war nach wie vor eine Ware, hergestellt von Kopisten (bisweilen auch Mönchen), die ihre Arbeit als Handwerk oder aber aus Leidenschaft ausübten.

Zumindest für liturgische Zwecke wurden sogar verbreitet Schriftrollen eingesetzt, wenn auch mit einer anderen Anordnung der Schrift als beim antiken Typ. Es ist bezeichnend, daß das Lesemodell in Byzanz dasselbe blieb, wie es viele Jahrhunderte zuvor von Dionysios Thrax formuliert worden war und in den byzantinischen Kommentaren zu dem Grammatiker fortgeschrieben wurde. Es schrieb dem Leser vor - bei jedem beliebigen Buch -, auf Titel, Autor, Absicht, Einheitlichkeit, Aufbau und Ergebnis des Werkes zu achten, sorgte also für eine Ordnung der Lektüre, ein überlegtes Ausloten des Textes.

In Byzanz blieb auch die antike, ehemals griechisch-römische Gepflogenheit des lauten Lesens gegenüber dem gemurmelten oder leisen Lesen des mittelalterlich-lateinischen Abendlandes erhalten: ein lautes Lesen, das die geschriebene Rede der gesprochenen, gepredigten, verkündeten Rede annäherte. Das alte, nie abgelegte Erbe einer kultivierten Sprache und bereits erstarrter rhetorischer Fügungen erklärt diese von Evelyne Patlagean als „archeologie culturelle“ von Byzanz bezeichnete Konservierung der Lesepraktiken nur zum Teil. Dieses bislang noch nicht geschriebene Kapitel der Geschichte des Lesens in Byzanz ist eine neue Herausforderung für Historiker der Schriftkultur.”

    Auszug S.30/31 aus: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Herausgegeben von Roger Chartier und Guglielmo Cavallo (dt. Frankfurt, 1999)

    Anm. 1) Als Epochenbegriff wurde das „Mittelalter“ 1698 durch den Hallenser Professor Christoph Cellarius erfunden, er bezeichnete die Phase zwischen Antike und dem neuen Weltgefühl der Renaissance als „Historia Medii Aevi“,  Zwischenzeit. Weder der chinesische noch der arabische Kulturraum kennt eine solche Zwischenzeit, nicht einmal für Spanien. Dort begann die Zwischenzeit mit der Niederlage der Mauren in der Schlacht von Covadonga im Jahre 722 und der danach einsetzenden Reconquista. Die dominierende christliche Kultur sah sich selbst in einer heilsgeschichtlichen Perspektive als „christliches Zeitalter, „aetas christiana”. Präziser wäre also, vom (europäischen) christlichen Mittelalter zu sprechen.
     

 

Die Kontinuität antiker Kultur im islamischen Machtbereich des Mittelmeerraumes beschreibt der Münchener Historiker F. Prinz so:

Die „Absenkung des zivilisatorischen Niveaus“ in christlichen mittelalterlichen Europa war beträchtlich, stellt Prinz fest, „demgegenüber verlief im islamischen Bereich der Übergang von der christlichen Spätantike oder der Kultur des Sasanidenreiches wesentlich anders.“ Das ist überraschend, bedeutete doch die islamische Expansion „einen radikalen Religionswechsel, den es in Gallien und Italien in dieser Art nicht gegeben hatte und der, infolge der Christianisierung der Germanen und Slawen seit dem 5./6./7. Jahrhundert selbst durch den Umbruch der Völkerwanderungsepoche nicht eingetreten war.“

„Der Islam, ein neuer Glaube, der sich rasch zu einer konkurrierenden Weltreligion entwickelte, beendete im 7. Jahrhundert als fast blitzartige Expansion in weiten Regionen am Ost- und Südufer des Mittelmeeres die christliche Spätantike. Die Gründe für den schnellen Siegeslauf des Islam waren, neben der ethnischen und sprachlichen Nähe der aramäischen Bewohner Syriens und Mesopotamiens zu den Arabern, die Gegensätze der verfolgten monophysitischen Christen Syriens und Ägyptens zur byzantinischen nicänischen Staatskirche und besonders die Tatsache, dass die islamischen Eroberer, vor allem anfangs, keinen Übertritt zu ihrem Glauben erzwangen. So wurden die islamischen Heere teilweise als Befreier von religiösem wie wirtschaftlich-sozialem Zwang begrüßt; besonders dort, wo Städte ohne Kampf übergeben worden sind. (…) Den Unterworfenen wurden nach der Eroberung außerdem Verwaltung und Gerichtsbarkeit weitgehend belassen. Hinzu kam, dass zumindest in der Anfangszeit die Steuerlast niedriger war als zuvor und den muslimischen Eroberern, anders als bislang üblich, der Erwerb von Grundbesitz verboten war. Damit blieben alte Sozialstrukturen vorerst im Wesentlichen erhalten. Mochte sich auch später vieles im Sinne einer tiefgreifenden Islamisierung ändern, für die rasche Stabilisierung der neuen Herrschaft erwies sich dieses pragmatische Vorgehen als vorteilhaft und ersparte vielfach die Katastrophe sinnloser Zerstörung.“

„Der Grund für die andersartige Entwicklung in der islamischen Welt ist wohl hauptsächlich darin zu suchen, dass bei der raschen Expansion der machtvollen  neuen byzantinische Städte mit einem relativ intakten kulturellen Leben, mit großen Bibliotheken und Bädern in die Hände der Eroberer fielen. Religion unzerstörte Städte wie Damaskus (635) und Alexandria (642) ergaben sich den islamischen Heeren aufgrund förmlicher Kapitulationsverträge, die den Bewohnern gegen Entrichtung einer regelmäßigen Kopfsteuer Sicherheit für Leben und Besitz sowie für die Kirchen garantierten. Das hatte zur Folge, daß die alten Kulturvölker des Vorderen Orients und Nordafrikas bald nach der militärischen Okkupation durch den Islam ihre wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung unter politisch und religiös gewandelten Bedingungen bewahren konnten: Damit begann die Zivilisierung der Sieger. Schon einige Jahrzehnte nach der Eroberung und religiösen Umgestaltung erfolgte nach der äußeren Inbesitznahme dieser alten Kulturländer auch die innere Aneignung des altorientalisch-hellenistischen Erbes.“

Während im christlichen westlichen Teil des römischen Reiches nach der „Konstantinischen Wende“ die Kirche mit Hilfe des Staates eine geschlossene Gesamtkultur durchzusetzen versuchte, die andere Kulturtraditionen nicht duldete, ist es in den islamisch beherrschten Gebieten des römischen Reiches „zu keiner, die Gesamtgesellschaft überwölbenden und dauerhaft gefestigten islamisch-christlich-jüdischen Gesamtkultur gekommen.“

Auch die arabische Antike-Rezeption wurde weder in den Islam integriert und wie im Christentum dem Glauben unter- und nachgeordnet noch als überlegene Kultur durchgesetzt – sie blieb „schichtenspezifisch gesehen, eher eine ‚Spezialistensache’ als ein generelles Phänomen, soweit es sich um ideologisch brisante Bereiche, wie es die Philosophie war, handelte.“

Die antike Tradition der Liebe

Auch die repressive christliche Sexualmoral wurde in den islamischen Gebieten nicht durchgesetzt. Prinz: „Die Verschmelzung nomadisch-barbarischer Ursprünglichkeit mit dem rasch angeeigneten Raffinement des Lebensgenusses aus antiker Wurzel hatte auch im Intimbereich nachhaltige Folgen: Sexualität war in dieser Daseinskonzeption - anders als im christlichen Europa - nicht nur ein argwöhnisch betrachtetes Phänomen menschlicher Existenz, dessen Domestikation man durch Monogamie zu erreichen suchte. Vielmehr bildete sie ein bewusstes, positives Lebensprinzip, das auch ins Jenseits transponiert, allerdings durch die rechtlich stark benachteiligte Stellung der Frau zugleich eingeschränktwurde. Da aber legitime Polygamie zugleich eine Vermögensfrage war und damit ein Privileg der kriegerischen und händlerischen Oberschicht, blieb die vielfältige erotische Erfüllung, zu der auch die Päderastie gehörte, letztlich doch nur den wohlhabenden

Eliten vorbehalten. Im Wiedererstehen einer weltlichen Liebesdichtung scheint aber - so umstritten dies auch im einzelnen sein mag - der Funke erotischer Kultur von der islamischen Welt über die provencalische Troubadour-Dichtung auf die ritterliche Poesie des europäischen Mittelalters übergesprungen zu sein.

Die Konservierung antiker Kultur-Elemente auf dem Boden des islamisch beherrschten Spanien und Süditalien, schließt Prinz, „war ein Vorgang von welthistorischer Bedeutung“ – als ein Baustein wurde für die im 10. Jahrhundert einsetzende Renaissance im christlichen Europa.

Friedrich Prinz, Von Konstantin zu Karl dem Grossen. Entfaltung und Wandel Europas (Mannheim 2000) S. 102ff

 

    siehe auch die Texte zu
    Zeitalter des Islam   
    M-G-Link
    Warum Europa? Warum nicht der Islam?   
    M-G-Link
    Bagdad, Konstantinopel   
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